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1918/1968 – Revolutionen (1): Das Phantom. Als B. Traven noch Ret Marut war

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B. Traven (Ret Marut) nach seiner Verhaftung in London 1923

Heute erscheint die 132. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern mit dem Schwerpunktthema Aufbrüche. Darin schreibt der Publizist und Literaturkritiker Klaus Hübner über Ret Marut, das vergessene Pseudonym des Schriftstellers B. Traven. Zum Auftakt unserer neuen Blogreihe zu den Revolutionen 1918 und 1968 publizieren wir hier eine längere Version des Artikels.

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Für Günther Gerstenberg

Einen Tag, bevor der weltweit erfolgreiche Schriftsteller B. Traven 1969 starb, soll er seiner Frau anvertraut haben, dass er mit dem an der Münchner Räterepublik beteiligten Ret Marut identisch sei. Doch auch Ret Marut war ein Pseudonym gewesen. Nur das Werk und die Tat machten den kreativen Menschen aus, nicht seine Biografie – das stets das Credo dieses Mannes.

Wer war Ret Marut, und woher kam er? Sein ganzes Leben lang hat sich der im Grunde heimatlose Einzelgänger weitgehend der Öffentlichkeit entzogen, und so ist es kein Wunder, dass eine umfangreiche Traven-Forschung entstand, die sich weniger der Analyse von Romanen wie Das Totenschiff oder Der Schatz der Sierra Madre widmete als vielmehr der Enthüllung der zahlreichen Rätsel um die Biografie ihres Autors. Viel Unsinn ist da geschrieben worden, selbstverständlich auch viel Erhellendes – aber das wäre ein eigenes Thema. Vorerst hat man sich mehrheitlich darauf geeinigt, dass sich hinter den vielen Pseudonymen dieses Schriftstellers Hermann Albert Otto Maximilian Feige verbirgt, der am 23. Februar 1882 geborene Sohn eines Töpfers und einer Fabrikarbeiterin aus Schwiebus in der damals preußischen Provinz Brandenburg (Świebodzin im heutigen Polen), später als Gewerkschaftssekretär in Gelsenkirchen sowie als Schauspieler und Regisseur in Essen und Düsseldorf tätig.

 

Rathaus in Schwiebus, dem vermutlichen Geburtsort B. Travens (Postkarte von ca. 1900)

 

Eine seiner wichtigen „Orientierungsgrößen“ war, wie Helmuth Kiesel in seiner imposanten Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–l933 schreibt, „zweifellos der Radikalaufklärer Max Stirner, der mit seinem berühmten Buch Der Einzige und sein Eigentum (1844, vordatiert auf 1845) die Interessen des einzelnen Ich zur allein maßgebenden Größe erhoben und damit den Individualanarchismus auf den Weg gebracht hatte“.

Im Kontext der Revolution von 1918/19 ist vor allem interessant, welche Rollen der geheimnisvolle Anarchist und Anti-Militarist in München spielte. Und warum die Zeitschrift Der Ziegelbrenner, die Ret Marut ab 1917 herausgab und die Kaiser und Reich, vor allem aber die konkurrierende Presse und hier speziell den Vorwärts oft vehement und wütend attackierte, unbedingt zur Geschichte der Münchner Literatur und Politik jener Jahre gehört. Auch wenn, wie Michael Schweizer in der Zeitschrift Kommune polemisch bemerkt hat (8/1989), „Maruts Fähigkeit, neben schriftstellerischen Hochleistungen immer wieder hanebüchenen Unsinn zu produzieren“, recht offenkundig ist und sich auch in späteren Traven-Texten aufspüren lässt.

Oskar Maria Graf, ein nicht unbedingt zuverlässiger Zeuge, hat später einmal festgehalten: „Marut war eine der seltsamsten Erscheinungen jener Zeit. Er brachte noch im Laufe des Krieges das Kunststück fertig, eine höchst provokante Anti-Kriegszeitschrift unter dem Titel Der Ziegelbrenner trotz der verschärften Zensur herauszubringen. Der Ziegelbrenner war eine unscheinbare schmale ziegelrote Zeitschrift, die nur an persönliche Besteller ging, und Marut erklärte dem Zensor kaltblütig, daß es sich um eine harmlose, mehr vereinsmäßige Maurerzeitschrift handle. Marut, ein stiller, völlig zurückgezogener Mensch, welcher die Artikel selbst schrieb und druckte, erschien jedes Mal persönlich vor dem Zensuramt und reichte das fertige Heft ein. Die Innenseiten des roten Umschlages und die Schlußseite waren mit den üblichen patriotischen Aufforderungen ‚Zeichnet Kriegsanleihe‘ usw. gepflastert, der Text offenbar aus irgendwelchen anderen Fachzeitungen zusammengeholt. Der Zensor überflog alles, fand nie etwas zu beanstanden, genehmigte und drückte den Stempel auf den Umschlag. Der bescheidene Mann ging nach Hause, heftete in die Umschläge einen anderen Text, der meist aus einem krausen Buchstabengemenge von willkürlich nebeneinandergedruckten großen und kleinen Lettern zu bestehen schien, so daß jeder Mensch den Eindruck gewann, es handle sich um eine verrückte Literaturzeitschrift. Er verschickte die Hefte, und alles verlief glatt. In Wirklichkeit war diese Zeitschrift das flammendste Anti-Kriegspamphlet, eine ätzend scharfe revolutionäre Revue, die den Vergleich mit Karl KrausFackel nicht zu scheuen brauchte“.

 

Ausgabe vom 6. Januar 1920

 

Ob das wirklich so stimmt, ist ungewiss – Rolf Recknagel schrieb am 26. Juli 1966 an Erich Wollenberg, dass eigentlich alles, was Graf über die fragliche Zeit berichtet, „mehr oder weniger Dichtung, Phantasie, Legende“ sei.

Laut Polizeiakten meldete sich Ret Marut am 13. November 1915 in München an. Bald wohnte er im dritten Stock des Hauses Clemensstraße 84, nur fünf Häuser neben Sarah Sonja Lerch. „Leider habe ich bis jetzt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die beiden sich wahrgenommen oder geradezu gekannt haben“, sagte mir Günther Gerstenberg, der bekanntlich alles über die Münchner Arbeiterbewegung weiß.

Ret Marut knüpfte Verbindungen zu Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam und anderen damals in München agierenden Intellektuellen, Künstlern und Politikern, darunter auch zu den aus Luxemburg stammenden Studenten Pol Michels und Gust van Werveke. Auch wenn er in Literatenkneipen wie dem Café Glasl an der Ecke Amalien- und Theresienstraße verkehrte – ein einsamer Großstadtwolf blieb er immer. In seiner Antikriegs-Novelle An das Fräulein von S. … finden sich die Sätze: „Was ist mir Krieg und was das brausende Erwachen eines ganzen Volkes zu einem einzigen Willen? Denn ich bin allein, mutterseelenallein!“.

In der Gesellschaft aufklärend wirken, allen „Verhetzungen der Völker“ entgegenarbeiten und daran erinnern, dass es die erste und schönste Pflicht des Menschen sei, „vor allem Mensch zu sein“, das wollte Ret Marut aber unbedingt und das versuchte er vor allem mit seiner Zeitschrift (vgl. Brief an Gust van Werveke vom 24.9.1917, in: Der Ziegelbrenner, 2, S. 47). Mitten im Krieg konnte man im Ziegelbrenner politisch höchst unliebsame Sätze wie „Gedenkt der blutenden Männer und Söhne“ oder „Nicht der Staat ist das Wichtigste, sondern der Einzelmensch ist das Wichtigste“ lesen (Der Ziegelbrenner, 9–14, S. 94).

Als die Revolution endlich in Gang kam, war Ret Marut mitten drin und arbeitete engagiert im Zentralrat der Räte-Republik Baiern mit. Mit Nation, Kapitalismus oder Kirche wollte er nichts zu tun haben, die Oktoberrevolution in Russland begrüßte er als „das gewaltigste und folgenschwerste Ereignis für den Fortschritt menschlicher Entwicklung“ (Der Ziegelbrenner, 5–8, S. 114), und mit der eher dem Bürgertum zugewandten Sozialdemokratie ging er hart ins Gericht. Nach dem Mord an Kurt Eisner am 21. Februar 1919 wurde der Mann, dem das Recht auf Meinungsfreiheit selbstverständlich und unverhandelbar war, für kurze Zeit Zensor im Dienste der Revolution und ging unter anderem der Redaktion der München-Augsburger Abendzeitung gehörig auf die Nerven.

Wenige Wochen später wurde Ret Marut verhaftet – er selbst hat das später geschildert, unter anderem mit folgenden Sätzen: „Der Schriftleiter des Ziegelbrenner wurde nach Waffen durchsucht! Man kann natürlich auf nackten Ziegelsteinen auch nach Trüffeln suchen, wenn man nichts weiter zu tun hat …“.

Als die Revolution niedergeschlagen war und das große Morden begann, hatte Ret Marut Glück – wie genau er dem Feldgericht entkam und aus München flüchten konnte, ist umstritten. Er schaffte es jedenfalls, und bald darauf verliert sich seine Spur. Dass er Bayern später noch einmal betreten hat, ist unwahrscheinlich. „Mit der Niederschlagung der Räterepublik im Mai 1919 setzte in Bayern ein Rechtsruck ein“, stellt Ralf Höller lapidar fest. Ob der Schriftsteller B. Traven im fernen Mexiko das überhaupt mitbekommen hat, weiß man nicht.

 

*** 

Klaus Hübner, Dr. phil., wurde 1953 in Landshut geboren und legte sein Abitur am dortigen Hans-Carossa-Gymnasium ab. Er studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Erlangen und München und wurde 1980 mit der Studie Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes Werther promoviert. An der Universidad de Deusto in Bilbao (Spanien) war er von 1981 bis 1983 als DAAD-Lektor tätig. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsch als Fremdsprache und am Institut für Deutsche Philologie der Universität München. Von 1984 bis 2016 war Hübner Redakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift Fachdienst Germanistik. In den Jahren 1985 bis 1999 war er hauptsächlich für den Münchner iudicium-Verlag tätig. Von 2003 bis 2017 war er außerdem Ständiger Sekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung und im Zusammenhang damit auch als Journalist und Moderator tätig. Seit 2012 ist Hübner Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Literatur in Bayern, seit 2016 Redaktionsbeirat der Literaturzeitschrift Neue Sirene. Als Publizist veröffentlichte er zahlreiche Buchkritiken, Autorenporträts und andere Arbeiten in Zeitschriften, Zeitungen und Internetforen sowie mehr als 100 Lexikonartikel, z.B. für Kindlers Neues Literaturlexikon, das Metzler Literatur Lexikon und das von Walther Killy begründete Literaturlexikon. Hübner ist zudem Mitarbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) der Universität München.

Sekundärliteratur:

Der Ziegelbrenner. 1.–4. Jahrgang, September 1917 bis Dezember 1921 (40 Nummern in 13 Heften). München (Faksimile: Leipzig 1967).

Armin  Richter:  Der  Ziegelbrenner. Das individualistische Kampforgan des frühen B. Traven. Bonn 1977.

Rolf Recknagel: B. Traven. Beiträge zur Biografie. Leipzig 1982 (1965).

Karl S. Guthke: B. Traven. Biografie eines Rätsels. Frankfurt 1987.

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): B. Traven (Text + Kritik 102). München 1989.

Ralf Höller: Der Anfang, der ein Ende war. Die Revolution in Bayern 1918/19. Berlin 1999.

Bernd Kramer / Christoph Ludszuweit (Hg.): Der Feuerstuhl und die Fährtensucher Rolf Recknagel Erich Wollenberg Anna Seghers auf den Spuren B. Travens. Berlin 2002.

Jan-Christoph Hauschild: B. Traven – Die unbekannten Jahre. Zürich / Wien / New York 2012.

Gast Mannes: Die Luxemburg Connection. Ret Marut / B. Traven, Pol Michels und Gust. van Werveke. Mersch / Luxembourg 2013.

Auracia E. Borszik / Hanna Mateo (Hg.): B. Traven – Der (un-)bekannte Schriftsteller. Hamburg 2017.

Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933. München 2017.

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