Zum 50. Todesjahr von Oskar Maria Graf (3): Über die Märchen „Licht und Schatten“
Die 128. Ausgabe der Literatur in Bayern (Allitera Verlag, München) widmet ihren Schwerpunkt dem selbsternannten „Provinzschriftsteller“, geschichtenerzählenden Revolutionär und international erfolgreichen Autor Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Die Autorinnen und Autoren beleuchten unterschiedliche Facetten des widersprüchlichen Dichters, dessen Tod im New Yorker Exil sich 2017 zum 50. Mal jährt. Dr. Ulrich Dittmann schreibt über Grafs Märchensammlung Licht und Schatten. Der Text entspricht dem Nachwort des Buches, das in der edition monacensia erschienen ist.
*
Zur Zweitauflage von Licht und Schatten, Oskar Maria Grafs unbekanntestem Buch
„Dem Bürgertum steht sein Nachwuchs gegenüber als Erbe; den Enterbten als Helfer, Rächer, Befreier. Das ist der hinreichend drastische Unterschied. Seine pädagogischen Folgen sind unabsehbar.“1 Diese Sätze Walter Benjamins aus seiner Rezension zu Edwin Hoernles Buch über Grundfragen der proletarischen Erziehung von 1929, also aus den hoch politisierten Jahren der Weimarer Republik – dem „Chaos des Heute“ (vgl. S. 5) – bilden das Bezugsfeld, um einen für uns überraschenden, wenn nicht gar verwirrenden Begriff wie dem des ‚proletarischen Märchens’ zu profilieren. Daß Erziehung als „Funktion des Klassenkampfes“2 gilt, hatte seine Konsequenzen für die Kinder- und Jugendliteratur. Dem Mythos vom anonym formulierten ‚Volksmärchen’ setzte eine sich als ‚proletarisch’3 verstehende Literatengruppe eigene, absichtsvoll auf ‚Tendenz’ bauende Erzählformen entgegen. Von 1920 bis 1925 waren bereits an die 20 Märchenbände erschienen.4
Deren Differenz zur Tradition der Grimm-Märchen bringt eine knappe Formel auf den Nenner: Früher begannen Märchen „es war einmal ...“, das proletarische Märchen mündet in ein „es wird einmal ... “.
Wieland Herzfelde, dem man die Anregung zu Grafs Frühzeit (1922), dem ersten Teil von Wir sind Gefangene (1927) verdankt, hatte in den Jahren 1923 und 1924 vier Bändchen Die Märchen der Armen herausgebracht. Hier kamen erstmals Vertreter der literarischen Intelligenz statt der Arbeiterschriftsteller zu Wort, die in der Vorkriegszeit die Gattung geschaffen hatten; die Illustrationen stammten von namhaften Künstlern wie George Grosz, John Heartfield und Heinrich Davringhausen. Die Reihe startete mit Hermynia zur Mühlen, der Autorin, die als d i e Protagonistin der Gattung gilt. Im Vergleich mit ihr, mit Lisa Tetzner und Béla Balázs (um die wichtigsten Autorennamen zu nennen) ist Graf nur eine Randerscheinung in der durch die deutsche Politik sehr begrenzten Gattungsgeschichte dieser Märchen. Sein Buch, das bei einem einschlägig links-kritischen Berliner Verlag herauskam, stand zudem im Schatten des im selben Jahr in einem Münchner Publikumsverlag erschienenen Erfolgsbuch Wir sind Gefangene. Welches literarische Gewicht jedoch darin steckt, bleibt auf dem Horizont der Gattungsgeschichte erst noch zu sichten; es lohnt in jedem Falle die Neuauflage!
Nach ihrer Hochzeit v o r dem Dritten Reich erlebten die proletarischen Märchen d a n a c h – wie Grafs Werk auch insgesamt – eine Renaissance allenfalls in der DDR; für BRD-Leser blieben sie, von vereinzelten Dissertanten aus der 68er Generation abgesehen, ganz im Schatten der deutschen Teilung. In zwei einschlägigen Märchen-Lexika fand ich keinerlei Erwähnung dieses Ablegers der Gattung.
Aus dem Schatten der deutschen Teilung (Bucherfolge in der DDR minderten die BRD-Auflagen) konnten Grafs Werke nach 1945 zwar weitgehend herausgeholt werden, seine „Sammlung zeitgemäßer Märchen“ allerdings blieb am Rande. Sie erscheint hier in einer Zweitauflage, d. h. erstmals als ein vollständiger Nachdruck mit dem wenig bekannten, aber aufschlußreichen Vorwort der Erstausgabe. Antiquariatspreise für die Erstausgabe bezeugen, um welch ein Rarissimum es sich bei diesem Buch handelt.
Von den 14 Texten des Bandes erlebten nur sechs einen Wiederabdruck in der Graf-Werkausgabe von Wilfried F. Schoeller5. In seinem Nachwort erklärt der Herausgeber Grafs Entscheidung für ein Märchenbuch mit der attraktiven „Möglichkeit, sozialkritische Aussagen zum Exempel zu erheben“; zudem habe ihm diese Gattung eine „Entlastung von den autobiographischen Einzelheiten, die in Wir sind Gefangene (im gleichen Jahr veröffentlicht) so sehr andrängten“, geboten.6
Darüber hinaus erklärt die immer wieder betonte Lust des Autors am mündlichen Erzählen die Wahl dieser Gattung: Seinen Neigungen drängten sich die jahrhundertelang auf Mündlichkeit gestellten Erzählformen sowie die frisch etablierten Märchen der Armen im Verlag seines Freundes Herzfelde fast notwendig auf.
Aufschlußreich bleibt, daß der Autor in diesem Buch ohne den sonst üblichen bairischen Dialekt auskommt: Die Gegenstände dieser Texte sind nicht regional gebunden und können auch noch immer auf Resonanz rechnen – wie zu zeigen sein wird.
Am Anfang der Sammlung steht mit Wollgramm das Thema der Arbeit und setzt auch gleich einen wichtigen Akzent: Die Staatsmacht vernichtet den, der sein Recht auf Arbeit einfordert. Aber über dieser Macht schwebt danach als Fluch die Anklage, menschliche Grundrechte verletzt zu haben.
Graf knüpft mit dieser Motivik und seinem Personal zweifellos an Heinrich Heines Lied von den schlesischen Webern an: Deren dreifacher Fluch 1. auf Gott, 2. auf den „König der Reichen“ und 3. auf das „falsche Vaterland“ stimmt auf die Trias ein, die weitere Märchen präludiert. Seine über ihre Zeit hinaus gültigen Texte stellen dabei nicht nur zeittypisch diese ‚Werte’ in Frage, sie hebeln die einst für ‚unpolitisch’ gehaltenen pädagogischen Ziele: „Königstreue und Vaterlandsliebe“ aus.7 Wer heute im Internet nach den drei Grundbegriffen sucht, die andauernd den deutschen Chauvinismus fundieren – „Mit Gott für König und Vaterland!“ – kann sich leider davon überzeugen, wie aktuell die kritischen Märchen noch heute sind.
Im zweiten Text Was das Vaterland einmal erlebte prüft ähnlich wie der legendäre Harun al Raschid das personifizierte Vaterland die Bevölkerung auf ihre Solidarität mit einem Hilfebedürftigen. Es erlebt auf seinem Weg zu diversen Repräsentanten des Landes den Egoismus der Bürger und Mitgefühl allein bei dem Alten im Sandkasten; gleich an seiner ersten Station, bei den zu Zeiten Grafs besonders aktuellen chauvinistischen Veteranenverbänden des Ersten Weltkriegs, erntet es vor allen späteren Stationen die herbste Abfuhr: Mit patriotischen Gesängen prügeln die Bratenrockträger das Vaterland auf die Straße; das leere Pathos ihrer Lieder bringt den besungenen Begriff völlig um seinen Gehalt; das personifizierte Vaterland endet resigniert.
Die Güte der höchsten Instanz, den fürs Vaterland angerufenen Gottvater, setzt Graf im sechsten Märchen hilf- und wehrlos den menschlichen Wünschen aus – wohl auch denen für den Sieg von König und Vaterland. Gott kann unter den Wünschenden keinen ‚guten Menschen’ finden; sein Aufruf zur Güte trägt ihm sogar den Vorwurf ein, das Volk aufwiegeln zu wollen. Anders als das Vaterland findet er nicht einmal bei den Obdachlosen ein Unterkommen, so daß ihm nur die Rückkehr in den Himmel bleibt. Um Die Wette im Himmel mit der Tarock bzw. Sechsundsechzig spielenden Dreifaltigkeit nicht ganz als Blasphemie ablehnen zu müssen, sollte man sich die Allgegenwart und Alltäglichkeit der vielen Dreifaltigkeitssäulen in bayrischen Dörfern vergegenwärtigen: Auch mit dem Kruzifix im Herrgottswinkel vieler Stuben trieb man seinen gutwilligen Spott. Zudem hatte damals die Freidenkerbewegung bedeutenden Einfluß.
Das Märchen vom König schließlich bietet die bitterste, weil unmittelbarste und zeitnächste Abrechnung mit einem jener drei Grundbegriffe des Chauvinismus, gegen die schon Heine polemisierte: Graf läßt einen „Michel“, das ist d i e nationale Personifikation der Deutschen, die Ablehnung der sich nur passiv dem König widersetzenden Mitbürger bündeln und zum Generalstreik gegen den geforderten Krieg aufrufen. Es sind – exemplarisch – Arbeiter und Soldaten, die den Appell befolgen und damit auch die Reichen zur Flucht vor dem König bewegen. Um ihn dann zu stürzen, bemüht Graf aus dem traditionellen Figuren-Arsenal der Märchen einen rettenden Geist, eine Macht, die mit einem Höllensturz das vom König angerichtete Grauen, die Not und das Unrecht rächt. Es war wohl der erlebte Mißerfolg der Arbeiter- und Soldatenräte aus der Münchner Revolution8, der Graf hier, wie auch in anderen Märchen, die Realität verlassen (vgl. Baberlababb, Der Ring und Die heilige Landstraße) und einen Deus ex Machina als höhere Macht beschwören ließ. Immerhin hat dieses Märchen ein Happy-End (dieses wird allerdings leicht eingeschränkt durch die Legende von der Sehnsucht, in der erst dem Volk ein Ziel gesetzt werden muß – siehe unten).
Anders als mit diesem Happy-End läßt Graf Gottvater und König, die Protagonisten der anderen beiden Märchen, unglücklich enden: Das Vaterland muss darben, der Begriff erscheint entleert, und der liebe Gott darf noch immer keinen guten Menschen finden.
Auf einen konkret-individuellen Fall verengt das Hinkefuß-Märchen, fast eine realistische Kurzgeschichte ohne jede märchenhafte Zutat, das Thema staatlichen Rechtsbruchs; es erweitert aber den Horizont überindividuell auf die weltweite Frage nach Art und Weise der Aneignung von Kolonien.
Eine besondere Zuspitzung erfährt das Thema des Rechts in dem, was Der alte Jeromir erzählt: Graf vertritt hier anarchistische Grundsätze, wenn die Einführung des Gesetzes, statt Verhältnisse in der Gesellschaft zu klären, ein Paradies beendet und dauernden Unfrieden begründet. Die Märchen ergänzen einander nicht nur, sie bieten thematische Zuspitzungen.
Als ein weiteres Motiv durchzieht viele Erzählungen der Wunsch nach Veränderung – nach dem „es wird einmal . . .“ der proletarischen Märchen. Zwei der Texte setzen explizit auf die als ein Gottesgeschenk verstandene Sehnsucht (vgl. S. 82): Im Gleichnis von der rechten Freundschaft wird die Ungleichwertigkeit der Freunde individuell durch die „Tapferkeit vor dem Freund“ – um mit einem zeitnäheren Begriff von Ingeborg Bachmann die Aktualität zu bestätigen – ausgeglichen. In der Legende von der Sehnsucht, die wie Das Märchen vom König Grafs Erfahrungen aus der Münchner Rätezeit verarbeitet, geht es um nach-revolutionäre Verwirrungen. Aus ihnen weist die Sehnsucht den Weg hinaus auf eine paradiesische Zukunft, auf das metaphorische „Getreidefeld in Deutschland“, von dem Manfred Georg im Vorwort zur Sammlung als Fundament des „Zeitgenossen“ für „die Kommenden“ (S. 8), spricht.
Zweimal begründen also statt äußerer Motive die von den Figuren ausgehenden Anstöße bzw. der in sie gelegten Verfassung die Happy-Ends der Märchen. – Angesichts des heutigen status-quo-Beharrens fallen mir dazu zwei Liedermacher ein: Funny van Dannens schmachtendes Lied, das nach dem „Fanclub der Sehnsucht“ fragt: „wo ist er geblieben?“ und Sebastian Krämers Doppel-CD „Akademie der Sehnsucht“.
An den erwähnten Beispielen kann man den Eindruck von der Vielfalt des Erzählens gewinnen, die Graf von Hermynia zur Mühlen unterscheidet; sie entwickelt in Was Peterchens Freunde erzählen allein aus der Situation des kranken und einsamen Kindes sechs Märchen. Bei Graf deuten bereits die in den Titeln gewählten Gattungen ‚Legende’ und ‚Gleichnis’ sowie der historisch nachvollziehbare Stoff des Hinkefuß auf eine weiteres Spektrum seiner mehr als nur ‚zeitgemäßen’ Märchen.
Aber noch viele weitere Aspekte bereichern das thematische Spektrum in Licht und Schatten: Geld und Wohlstand werden dreimal mit unterschiedlicher Wertung durchgespielt. Für den Titelhelden von Der goldene Knopf, der sein sinnloses Dasein auf fürstlichem Wanst und Weste flieht, stellt die Umwidmung zum Geldstück ein Lebensziel dar: Er will nützliches Zahlungsmittel sein, durch die Hände vieler Leute wandern und sie bereichern. In Der Ring stirbt der Handwerksbursch, nachdem ihn ein Zauberring zum hartherzigen Schloßherrn werden ließ, der auf kein Betteln reagiert. Und in Viel ist wenig durchläuft der schon per Namen im Schuldenbereich angesiedelte Kaspar Minus die Einsicht, daß Zahlen trügen. Erst als er ihnen absagt, die ihn trotz höchster Werte immer wieder als Minus zurück lassen, ergibt der Verzicht für ihn das märchenhafte Happy-End.
Zwei weitere Texte scheinen aus der politischen Thematik hinauszuführen: Baberlababb und Die Worte. Beide widmen sich zentralen Themen der Entstehungszeit: Einmal einem Lehrer, den die Kinder mehr fürchten als die Unbilden der Natur; er repräsentiert ein autoritäres Schulsystem, gegen das sich damals die Reformpädagogik in Stellung brachte.
Zur Sprachkritik in Die Worte assoziiert man die Sprachkrise der Dichter vom Jahrhundertanfang, die sich zur Sprachkritik des Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel verschärfte. Graf läßt diese drastisch zu einem kläglich endenden Aufstand personifizierter Wörter geraten: Mit der Darstellung des inflationären Gebrauchs von „Vaterland“ und „Gott“ hat der Autor selbst schon den Verlust der Inhalte eingeklagt, die sich einmal mit den Wörtern verbanden; zudem hat er mit Hinkefuß’s Vornamen Nämlich der zur Person gewordenen Konsequenz, wie auch mit dem Umfunktionieren des abfälligen Baberlababb zur hilfreichen Beschwörung gezeigt, wie aussagekräftig Wörter werden können, wenn ihnen erzählend ein Inhalt zuwächst. Damit revoltiert er gegen den Verschleiß, das Eingesperrtsein und schreibt einzelnen Wörtern wieder Bedeutung ein (sein Aufgreifen des Dialekts in den umfangreicheren Erzählwerken ist in eben diesem Sinne zu verstehen).
Aus der Reihe der bisherigen Märchenerzählungen, für die sich Kontexte und Horizonte relativ leicht einstellen, fällt für mich Die heilige Landstraße heraus. Dafür daß die Mutter so hart bestraft werden muß, weil sie die Straße als Ort der „Taugenichtse“ (S. 90) verflucht, bedarf eines weiteren Überblicks, um Graf hier zu verstehen: „Straßenjunge“ ist nach dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm (Band XIX von 1957) „meist scheltend gemeint“. Graf jedoch widmete einen Erzählband den Dorfbanditen9, später für eine Neuauflage im Untertitel als Halbstarke etikettiert. In seiner Reise in die Sowjetunion 1934 begeistert er sich für die Bresprisorni10, die russischen Straßenjungen, die ihn an Gorkis wie auch an seine eigene Jugend denken lassen und die er gegen Ordnungspersonen verteidigt. Außerdem fällt dem Graf-Kenner Die freie Straße ein, eine von 1915 bis 1918 erschienene, von Grafs Freund Franz Jung u. a. herausgegebene anarchistische Zeitschrift, in der er einige seiner ersten Gedichte veröffentlicht hatte.
Zur Entstehung
Licht und Schatten erschien Jahr 1927, in dem Grafs Erfolgsbuch Wir sind Gefangene sowie zwei Erzählsammlungen Wunderbare Menschen (anrührend positive Erinnerungen an seine Zeit als Dramaturg einer Münchner Arbeiter-Bühne) und Im Winkel des Lebens (kritische Bauerngeschichten aus Oberbayern mit einem Meisterwerk wie Raskolnikow auf dem Lande, zusammengestellt für die Büchergilde Gutenberg); diese beiden Bücher erschienen als Zweit- bzw. Dritt-Auflage ebenfalls in der edition monacensia beim Allitera-Verlag 2010 bzw. 2013.
Man kann in Licht und Schatten eine Art Familienunternehmen sehen: Das Buch ist der Tochter Annemarie (*1918) aus Grafs kurzer erster Ehe mit Caroline Bretting gewidmet, die seit ihrer Geburt bei der Großmutter in Berg am Starnberger See, Grafs Geburtsort, aufwuchs. Manfred Georg11, der das Vorwort lieferte, war ein Stiefbruder der Miriam Sachs, eben jener „jüdischen Studentin, die ihm die große Helferin seines Lebens wird“ (vgl. S. 7). Graf lebte mit ihr schon seit 1918, also Annemaries Geburtsjahr zusammen.
Licht und Schatten erschien in einer Reihe „Jugendbücher“. In gelbes Leinen gebunden, mit Titel, Untertitel sowie einer ornamentalen Rahmenleiste in Goldprägung macht es einen noblen Eindruck. Die „Neue Gesellschaft“ in Berlin-Hessenwinkel, in der Nachbargemeinde zu Friedrichshagen, wo sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl moderner, der Bohème naher Literaten angesiedelt hatten, veröffentlichte kritische Literatur, sowohl fiktive Werke als auch tagespolitische Schriften.
Zu den zehn in Licht und Schatten noch vor dem Inhaltsverzeichnis angekündigten Bänden der „Jugendbücher der Neuen Gesellschaft“ gehören: eine Leo Tolstoi- und eine Heinrich Heine-Auswahl; AMERIKA, Leben, Arbeit und Dichtung herausgegeben von Arthur Holitscher (einem seinerzeit berühmten Reiseschriftsteller, der 1912 mit einem Amerika-Buch einen großen Erfolg hatte); Der Arbeiter in der bildenden Kunst; Aus dem Leben eines Arbeiterkindes von Henny Schumacher (einer ihrerzeit maßgeblichen Kindergartenpädagogin und Mitglied des Bundes Entschiedener Schulreformer; sie gab 1929 einen Sammelband Junge Helden. Proletarier-Geschichten heraus). Es war also keine gleichgültige Reihe, in die man Grafs Geschichten aufnahm, sie fügten sich in einen programmatischen Rahmen. Jeder Band wurde laut Anzeige „vornehm kartoniert“ für 0,75 Mk. und „in Leinen gebunden mit Goldpressung“ für 1,75 Mk. angeboten.
Wie bei fast allen Erstausgaben der Bücher Grafs findet sich auch in diesem am Schluß eine Aufzählung seiner in unterschiedlichsten Verlagen „bisher erschienenen Werke“. Solche Listen gehörten ebenso wie auch die zu den einzelnen Texten nachweisbaren früheren Vorab- und späteren Nachabdrucke in diversen Journalen zu seiner Geschäftspraxis und Selbstinszenierung als Autor. Geschäftstüchtig verwertete er seine Erzählungen mehrfach: Bei Wollgramm werden sechs, bei Die Worte sogar zehn solcher Drucke außerhalb der Sammlung gezählt, darunter im Simplicissimus schon 1926, sowie später in Periodica der Exilländer Tschechoslowakei und Kanada; auch in dem von Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher herausgegebenen und mehrfach nachgedruckten Lesebuch Versäumte Lektionen von 1965ff. sowie in weiteren Schulbüchern findet man Die Worte.12 Die Texte fanden also anhaltend weiten Anklang.
Für die frühe Rezeption des Bandes kann Sheila Johnson nur einen nicht zuordenbaren Zeitungsausschnitt13 anführen, der auch wenig verständnisvoll die Texte als „keine Märchen, sondern mehr oder weniger fadenscheinige Einkleidungen [...] aus politischer Tendenz und nicht aus echter Märchenphantasie“ erklärt. Johnson meint, daß Manfred Georgs Vorwort, wäre es als Rezension erschienen, dem Buch mehr Resonanz eingebracht hätte.
Editorische Notiz
Die 90 Jahre (!) nach der Erstauflage herausgegebene zweite Auflage von Grafs Märchen-Sammlung erscheint als dreizehnter Band in der Graf-Ausgabe der edition monacensia; die Reihe bietet Nachdrucke, mehrheitlich Sammelbände mit Erzählungen im originalen Zusammenhang; die Bände sind textkritisch durchgesehen und mit einem philologischen Nachwort versehen.
Die Ausgabe von Licht und Schatten folgt, von der Korrektur weniger Druckfehler bzw. orthographischer Inkonsistenzen abgesehen, der Erstausgabe. Diese unterscheidet sich von den drei in Fraktur gesetzten anderen Graf-Büchern des Jahres 1927: Sie ist in Antiqua-Schrift gesetzt und bedurfte dementsprechend keine leichter lesbare Typographie.
Anmerkungen
[1] Walter Benjamin, Eine kommunistische Pädagogik. In: W.B., Gesammelte Schriften III, hg. von H. Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972. S. 206-209. Hier S. 206.
[2] Ebd. S. 207.
[3] Vgl. das dreimal beschworene Leitwort in der Einleitung von Dr. Manfred Georg, das einen selbstbewußt-positiven Beiklang hat.
[4] Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff, Das Märchen in der proletarisch-revolutionären Jugendliteratur der Weimarer Republik 1918-1933. Frankfurt/M. 1984 S. 113.
[5] In der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg Frankfurt 1988, und in der List-Centenar-Ausgabe München 1994; jeweils Band XI, 1 S. 338 - S. 375. –
[6] Ebd. S. 596.
[7] Vgl. die Zitate aus der Reichstagsrede Karl Liebknechts von 1910 in: Dieter Richter (Hg.), Das politische Kinderbuch. Eine aktuelle historische Dokumentation (collection alternative 1) Darmstadt und Neuwied 1973. S. 11. – Dort auch Belege dafür, daß den Kindern der Armen „die Märchenwelt [...] verschlossen bleiben“ müsse. Ihre Lektüre solle nicht „über die Glücksgüter hinausgehen, die sie sich erwerben können.“ (S. 26f.).
[8] Wer Wir sind Gefangene kennt, wird verstehen, wie sehr der Autor hier seinen Frust abreagiert.
[9] Oskar Maria Graf, Dorfbanditen. Erlebnisse aus meinen Schul- und Lehrlingsjahren. Berlin 1932. Unter neuem Titel und in neuer Zusammenstellung: OMG, Größtenteils schimpflich. Von Halbstarken und Leuten welche dieselben nicht leiden können. München 1962.
[10] Oskar Maria Graf, Reise in die Sowjetunion 1934. Mit Briefen von Sergej Tretjkow und Bildern (Sammlung Luchterhand 1012). Hamburg Zürich 1992. S. 73-76. – Vgl. auch Tretjakows Bericht: Sergej T., Oskar Maria Graf. In: Jahrbuch der Oskar Maria Graf-Gesellschaft 1997/98. S. 71 - 111, hier S. 109f.
[11] Manfred Georg (1893-1965), später im US-Exil: George, war ein bedeutender Publizist während der 20er Jahre, der nach mehreren Exilstationen ab 1938 in New York beim Aufbau arbeitete und diese Zeitung zum bedeutenden Exil-Journal machte; auch Graf schrieb dafür; die frühe Verbindung von Graf und Georg erhält damit viel Gewicht.
[12] Zu den Einzelveröffentlichungen vgl. die Nachweise bei Helmut F. Pfanner, Oskar Maria Graf. Eine kritische Bibliographie. Bern u. München 1976. Titelregister S. 719ff. – Und: Sheila Johnson, Oskar Maria Graf: The Critical Reception of his Prose Fiction. Bonn 1979. S. 120-123.
[13] Vgl. Sheila Johnsons Buch in Fn 12 S. 121.
Zum 50. Todesjahr von Oskar Maria Graf (3): Über die Märchen „Licht und Schatten“>
Die 128. Ausgabe der Literatur in Bayern (Allitera Verlag, München) widmet ihren Schwerpunkt dem selbsternannten „Provinzschriftsteller“, geschichtenerzählenden Revolutionär und international erfolgreichen Autor Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See. Die Autorinnen und Autoren beleuchten unterschiedliche Facetten des widersprüchlichen Dichters, dessen Tod im New Yorker Exil sich 2017 zum 50. Mal jährt. Dr. Ulrich Dittmann schreibt über Grafs Märchensammlung Licht und Schatten. Der Text entspricht dem Nachwort des Buches, das in der edition monacensia erschienen ist.
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Zur Zweitauflage von Licht und Schatten, Oskar Maria Grafs unbekanntestem Buch
„Dem Bürgertum steht sein Nachwuchs gegenüber als Erbe; den Enterbten als Helfer, Rächer, Befreier. Das ist der hinreichend drastische Unterschied. Seine pädagogischen Folgen sind unabsehbar.“1 Diese Sätze Walter Benjamins aus seiner Rezension zu Edwin Hoernles Buch über Grundfragen der proletarischen Erziehung von 1929, also aus den hoch politisierten Jahren der Weimarer Republik – dem „Chaos des Heute“ (vgl. S. 5) – bilden das Bezugsfeld, um einen für uns überraschenden, wenn nicht gar verwirrenden Begriff wie dem des ‚proletarischen Märchens’ zu profilieren. Daß Erziehung als „Funktion des Klassenkampfes“2 gilt, hatte seine Konsequenzen für die Kinder- und Jugendliteratur. Dem Mythos vom anonym formulierten ‚Volksmärchen’ setzte eine sich als ‚proletarisch’3 verstehende Literatengruppe eigene, absichtsvoll auf ‚Tendenz’ bauende Erzählformen entgegen. Von 1920 bis 1925 waren bereits an die 20 Märchenbände erschienen.4
Deren Differenz zur Tradition der Grimm-Märchen bringt eine knappe Formel auf den Nenner: Früher begannen Märchen „es war einmal ...“, das proletarische Märchen mündet in ein „es wird einmal ... “.
Wieland Herzfelde, dem man die Anregung zu Grafs Frühzeit (1922), dem ersten Teil von Wir sind Gefangene (1927) verdankt, hatte in den Jahren 1923 und 1924 vier Bändchen Die Märchen der Armen herausgebracht. Hier kamen erstmals Vertreter der literarischen Intelligenz statt der Arbeiterschriftsteller zu Wort, die in der Vorkriegszeit die Gattung geschaffen hatten; die Illustrationen stammten von namhaften Künstlern wie George Grosz, John Heartfield und Heinrich Davringhausen. Die Reihe startete mit Hermynia zur Mühlen, der Autorin, die als d i e Protagonistin der Gattung gilt. Im Vergleich mit ihr, mit Lisa Tetzner und Béla Balázs (um die wichtigsten Autorennamen zu nennen) ist Graf nur eine Randerscheinung in der durch die deutsche Politik sehr begrenzten Gattungsgeschichte dieser Märchen. Sein Buch, das bei einem einschlägig links-kritischen Berliner Verlag herauskam, stand zudem im Schatten des im selben Jahr in einem Münchner Publikumsverlag erschienenen Erfolgsbuch Wir sind Gefangene. Welches literarische Gewicht jedoch darin steckt, bleibt auf dem Horizont der Gattungsgeschichte erst noch zu sichten; es lohnt in jedem Falle die Neuauflage!
Nach ihrer Hochzeit v o r dem Dritten Reich erlebten die proletarischen Märchen d a n a c h – wie Grafs Werk auch insgesamt – eine Renaissance allenfalls in der DDR; für BRD-Leser blieben sie, von vereinzelten Dissertanten aus der 68er Generation abgesehen, ganz im Schatten der deutschen Teilung. In zwei einschlägigen Märchen-Lexika fand ich keinerlei Erwähnung dieses Ablegers der Gattung.
Aus dem Schatten der deutschen Teilung (Bucherfolge in der DDR minderten die BRD-Auflagen) konnten Grafs Werke nach 1945 zwar weitgehend herausgeholt werden, seine „Sammlung zeitgemäßer Märchen“ allerdings blieb am Rande. Sie erscheint hier in einer Zweitauflage, d. h. erstmals als ein vollständiger Nachdruck mit dem wenig bekannten, aber aufschlußreichen Vorwort der Erstausgabe. Antiquariatspreise für die Erstausgabe bezeugen, um welch ein Rarissimum es sich bei diesem Buch handelt.
Von den 14 Texten des Bandes erlebten nur sechs einen Wiederabdruck in der Graf-Werkausgabe von Wilfried F. Schoeller5. In seinem Nachwort erklärt der Herausgeber Grafs Entscheidung für ein Märchenbuch mit der attraktiven „Möglichkeit, sozialkritische Aussagen zum Exempel zu erheben“; zudem habe ihm diese Gattung eine „Entlastung von den autobiographischen Einzelheiten, die in Wir sind Gefangene (im gleichen Jahr veröffentlicht) so sehr andrängten“, geboten.6
Darüber hinaus erklärt die immer wieder betonte Lust des Autors am mündlichen Erzählen die Wahl dieser Gattung: Seinen Neigungen drängten sich die jahrhundertelang auf Mündlichkeit gestellten Erzählformen sowie die frisch etablierten Märchen der Armen im Verlag seines Freundes Herzfelde fast notwendig auf.
Aufschlußreich bleibt, daß der Autor in diesem Buch ohne den sonst üblichen bairischen Dialekt auskommt: Die Gegenstände dieser Texte sind nicht regional gebunden und können auch noch immer auf Resonanz rechnen – wie zu zeigen sein wird.
Am Anfang der Sammlung steht mit Wollgramm das Thema der Arbeit und setzt auch gleich einen wichtigen Akzent: Die Staatsmacht vernichtet den, der sein Recht auf Arbeit einfordert. Aber über dieser Macht schwebt danach als Fluch die Anklage, menschliche Grundrechte verletzt zu haben.
Graf knüpft mit dieser Motivik und seinem Personal zweifellos an Heinrich Heines Lied von den schlesischen Webern an: Deren dreifacher Fluch 1. auf Gott, 2. auf den „König der Reichen“ und 3. auf das „falsche Vaterland“ stimmt auf die Trias ein, die weitere Märchen präludiert. Seine über ihre Zeit hinaus gültigen Texte stellen dabei nicht nur zeittypisch diese ‚Werte’ in Frage, sie hebeln die einst für ‚unpolitisch’ gehaltenen pädagogischen Ziele: „Königstreue und Vaterlandsliebe“ aus.7 Wer heute im Internet nach den drei Grundbegriffen sucht, die andauernd den deutschen Chauvinismus fundieren – „Mit Gott für König und Vaterland!“ – kann sich leider davon überzeugen, wie aktuell die kritischen Märchen noch heute sind.
Im zweiten Text Was das Vaterland einmal erlebte prüft ähnlich wie der legendäre Harun al Raschid das personifizierte Vaterland die Bevölkerung auf ihre Solidarität mit einem Hilfebedürftigen. Es erlebt auf seinem Weg zu diversen Repräsentanten des Landes den Egoismus der Bürger und Mitgefühl allein bei dem Alten im Sandkasten; gleich an seiner ersten Station, bei den zu Zeiten Grafs besonders aktuellen chauvinistischen Veteranenverbänden des Ersten Weltkriegs, erntet es vor allen späteren Stationen die herbste Abfuhr: Mit patriotischen Gesängen prügeln die Bratenrockträger das Vaterland auf die Straße; das leere Pathos ihrer Lieder bringt den besungenen Begriff völlig um seinen Gehalt; das personifizierte Vaterland endet resigniert.
Die Güte der höchsten Instanz, den fürs Vaterland angerufenen Gottvater, setzt Graf im sechsten Märchen hilf- und wehrlos den menschlichen Wünschen aus – wohl auch denen für den Sieg von König und Vaterland. Gott kann unter den Wünschenden keinen ‚guten Menschen’ finden; sein Aufruf zur Güte trägt ihm sogar den Vorwurf ein, das Volk aufwiegeln zu wollen. Anders als das Vaterland findet er nicht einmal bei den Obdachlosen ein Unterkommen, so daß ihm nur die Rückkehr in den Himmel bleibt. Um Die Wette im Himmel mit der Tarock bzw. Sechsundsechzig spielenden Dreifaltigkeit nicht ganz als Blasphemie ablehnen zu müssen, sollte man sich die Allgegenwart und Alltäglichkeit der vielen Dreifaltigkeitssäulen in bayrischen Dörfern vergegenwärtigen: Auch mit dem Kruzifix im Herrgottswinkel vieler Stuben trieb man seinen gutwilligen Spott. Zudem hatte damals die Freidenkerbewegung bedeutenden Einfluß.
Das Märchen vom König schließlich bietet die bitterste, weil unmittelbarste und zeitnächste Abrechnung mit einem jener drei Grundbegriffe des Chauvinismus, gegen die schon Heine polemisierte: Graf läßt einen „Michel“, das ist d i e nationale Personifikation der Deutschen, die Ablehnung der sich nur passiv dem König widersetzenden Mitbürger bündeln und zum Generalstreik gegen den geforderten Krieg aufrufen. Es sind – exemplarisch – Arbeiter und Soldaten, die den Appell befolgen und damit auch die Reichen zur Flucht vor dem König bewegen. Um ihn dann zu stürzen, bemüht Graf aus dem traditionellen Figuren-Arsenal der Märchen einen rettenden Geist, eine Macht, die mit einem Höllensturz das vom König angerichtete Grauen, die Not und das Unrecht rächt. Es war wohl der erlebte Mißerfolg der Arbeiter- und Soldatenräte aus der Münchner Revolution8, der Graf hier, wie auch in anderen Märchen, die Realität verlassen (vgl. Baberlababb, Der Ring und Die heilige Landstraße) und einen Deus ex Machina als höhere Macht beschwören ließ. Immerhin hat dieses Märchen ein Happy-End (dieses wird allerdings leicht eingeschränkt durch die Legende von der Sehnsucht, in der erst dem Volk ein Ziel gesetzt werden muß – siehe unten).
Anders als mit diesem Happy-End läßt Graf Gottvater und König, die Protagonisten der anderen beiden Märchen, unglücklich enden: Das Vaterland muss darben, der Begriff erscheint entleert, und der liebe Gott darf noch immer keinen guten Menschen finden.
Auf einen konkret-individuellen Fall verengt das Hinkefuß-Märchen, fast eine realistische Kurzgeschichte ohne jede märchenhafte Zutat, das Thema staatlichen Rechtsbruchs; es erweitert aber den Horizont überindividuell auf die weltweite Frage nach Art und Weise der Aneignung von Kolonien.
Eine besondere Zuspitzung erfährt das Thema des Rechts in dem, was Der alte Jeromir erzählt: Graf vertritt hier anarchistische Grundsätze, wenn die Einführung des Gesetzes, statt Verhältnisse in der Gesellschaft zu klären, ein Paradies beendet und dauernden Unfrieden begründet. Die Märchen ergänzen einander nicht nur, sie bieten thematische Zuspitzungen.
Als ein weiteres Motiv durchzieht viele Erzählungen der Wunsch nach Veränderung – nach dem „es wird einmal . . .“ der proletarischen Märchen. Zwei der Texte setzen explizit auf die als ein Gottesgeschenk verstandene Sehnsucht (vgl. S. 82): Im Gleichnis von der rechten Freundschaft wird die Ungleichwertigkeit der Freunde individuell durch die „Tapferkeit vor dem Freund“ – um mit einem zeitnäheren Begriff von Ingeborg Bachmann die Aktualität zu bestätigen – ausgeglichen. In der Legende von der Sehnsucht, die wie Das Märchen vom König Grafs Erfahrungen aus der Münchner Rätezeit verarbeitet, geht es um nach-revolutionäre Verwirrungen. Aus ihnen weist die Sehnsucht den Weg hinaus auf eine paradiesische Zukunft, auf das metaphorische „Getreidefeld in Deutschland“, von dem Manfred Georg im Vorwort zur Sammlung als Fundament des „Zeitgenossen“ für „die Kommenden“ (S. 8), spricht.
Zweimal begründen also statt äußerer Motive die von den Figuren ausgehenden Anstöße bzw. der in sie gelegten Verfassung die Happy-Ends der Märchen. – Angesichts des heutigen status-quo-Beharrens fallen mir dazu zwei Liedermacher ein: Funny van Dannens schmachtendes Lied, das nach dem „Fanclub der Sehnsucht“ fragt: „wo ist er geblieben?“ und Sebastian Krämers Doppel-CD „Akademie der Sehnsucht“.
An den erwähnten Beispielen kann man den Eindruck von der Vielfalt des Erzählens gewinnen, die Graf von Hermynia zur Mühlen unterscheidet; sie entwickelt in Was Peterchens Freunde erzählen allein aus der Situation des kranken und einsamen Kindes sechs Märchen. Bei Graf deuten bereits die in den Titeln gewählten Gattungen ‚Legende’ und ‚Gleichnis’ sowie der historisch nachvollziehbare Stoff des Hinkefuß auf eine weiteres Spektrum seiner mehr als nur ‚zeitgemäßen’ Märchen.
Aber noch viele weitere Aspekte bereichern das thematische Spektrum in Licht und Schatten: Geld und Wohlstand werden dreimal mit unterschiedlicher Wertung durchgespielt. Für den Titelhelden von Der goldene Knopf, der sein sinnloses Dasein auf fürstlichem Wanst und Weste flieht, stellt die Umwidmung zum Geldstück ein Lebensziel dar: Er will nützliches Zahlungsmittel sein, durch die Hände vieler Leute wandern und sie bereichern. In Der Ring stirbt der Handwerksbursch, nachdem ihn ein Zauberring zum hartherzigen Schloßherrn werden ließ, der auf kein Betteln reagiert. Und in Viel ist wenig durchläuft der schon per Namen im Schuldenbereich angesiedelte Kaspar Minus die Einsicht, daß Zahlen trügen. Erst als er ihnen absagt, die ihn trotz höchster Werte immer wieder als Minus zurück lassen, ergibt der Verzicht für ihn das märchenhafte Happy-End.
Zwei weitere Texte scheinen aus der politischen Thematik hinauszuführen: Baberlababb und Die Worte. Beide widmen sich zentralen Themen der Entstehungszeit: Einmal einem Lehrer, den die Kinder mehr fürchten als die Unbilden der Natur; er repräsentiert ein autoritäres Schulsystem, gegen das sich damals die Reformpädagogik in Stellung brachte.
Zur Sprachkritik in Die Worte assoziiert man die Sprachkrise der Dichter vom Jahrhundertanfang, die sich zur Sprachkritik des Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel verschärfte. Graf läßt diese drastisch zu einem kläglich endenden Aufstand personifizierter Wörter geraten: Mit der Darstellung des inflationären Gebrauchs von „Vaterland“ und „Gott“ hat der Autor selbst schon den Verlust der Inhalte eingeklagt, die sich einmal mit den Wörtern verbanden; zudem hat er mit Hinkefuß’s Vornamen Nämlich der zur Person gewordenen Konsequenz, wie auch mit dem Umfunktionieren des abfälligen Baberlababb zur hilfreichen Beschwörung gezeigt, wie aussagekräftig Wörter werden können, wenn ihnen erzählend ein Inhalt zuwächst. Damit revoltiert er gegen den Verschleiß, das Eingesperrtsein und schreibt einzelnen Wörtern wieder Bedeutung ein (sein Aufgreifen des Dialekts in den umfangreicheren Erzählwerken ist in eben diesem Sinne zu verstehen).
Aus der Reihe der bisherigen Märchenerzählungen, für die sich Kontexte und Horizonte relativ leicht einstellen, fällt für mich Die heilige Landstraße heraus. Dafür daß die Mutter so hart bestraft werden muß, weil sie die Straße als Ort der „Taugenichtse“ (S. 90) verflucht, bedarf eines weiteren Überblicks, um Graf hier zu verstehen: „Straßenjunge“ ist nach dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm (Band XIX von 1957) „meist scheltend gemeint“. Graf jedoch widmete einen Erzählband den Dorfbanditen9, später für eine Neuauflage im Untertitel als Halbstarke etikettiert. In seiner Reise in die Sowjetunion 1934 begeistert er sich für die Bresprisorni10, die russischen Straßenjungen, die ihn an Gorkis wie auch an seine eigene Jugend denken lassen und die er gegen Ordnungspersonen verteidigt. Außerdem fällt dem Graf-Kenner Die freie Straße ein, eine von 1915 bis 1918 erschienene, von Grafs Freund Franz Jung u. a. herausgegebene anarchistische Zeitschrift, in der er einige seiner ersten Gedichte veröffentlicht hatte.
Zur Entstehung
Licht und Schatten erschien Jahr 1927, in dem Grafs Erfolgsbuch Wir sind Gefangene sowie zwei Erzählsammlungen Wunderbare Menschen (anrührend positive Erinnerungen an seine Zeit als Dramaturg einer Münchner Arbeiter-Bühne) und Im Winkel des Lebens (kritische Bauerngeschichten aus Oberbayern mit einem Meisterwerk wie Raskolnikow auf dem Lande, zusammengestellt für die Büchergilde Gutenberg); diese beiden Bücher erschienen als Zweit- bzw. Dritt-Auflage ebenfalls in der edition monacensia beim Allitera-Verlag 2010 bzw. 2013.
Man kann in Licht und Schatten eine Art Familienunternehmen sehen: Das Buch ist der Tochter Annemarie (*1918) aus Grafs kurzer erster Ehe mit Caroline Bretting gewidmet, die seit ihrer Geburt bei der Großmutter in Berg am Starnberger See, Grafs Geburtsort, aufwuchs. Manfred Georg11, der das Vorwort lieferte, war ein Stiefbruder der Miriam Sachs, eben jener „jüdischen Studentin, die ihm die große Helferin seines Lebens wird“ (vgl. S. 7). Graf lebte mit ihr schon seit 1918, also Annemaries Geburtsjahr zusammen.
Licht und Schatten erschien in einer Reihe „Jugendbücher“. In gelbes Leinen gebunden, mit Titel, Untertitel sowie einer ornamentalen Rahmenleiste in Goldprägung macht es einen noblen Eindruck. Die „Neue Gesellschaft“ in Berlin-Hessenwinkel, in der Nachbargemeinde zu Friedrichshagen, wo sich seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl moderner, der Bohème naher Literaten angesiedelt hatten, veröffentlichte kritische Literatur, sowohl fiktive Werke als auch tagespolitische Schriften.
Zu den zehn in Licht und Schatten noch vor dem Inhaltsverzeichnis angekündigten Bänden der „Jugendbücher der Neuen Gesellschaft“ gehören: eine Leo Tolstoi- und eine Heinrich Heine-Auswahl; AMERIKA, Leben, Arbeit und Dichtung herausgegeben von Arthur Holitscher (einem seinerzeit berühmten Reiseschriftsteller, der 1912 mit einem Amerika-Buch einen großen Erfolg hatte); Der Arbeiter in der bildenden Kunst; Aus dem Leben eines Arbeiterkindes von Henny Schumacher (einer ihrerzeit maßgeblichen Kindergartenpädagogin und Mitglied des Bundes Entschiedener Schulreformer; sie gab 1929 einen Sammelband Junge Helden. Proletarier-Geschichten heraus). Es war also keine gleichgültige Reihe, in die man Grafs Geschichten aufnahm, sie fügten sich in einen programmatischen Rahmen. Jeder Band wurde laut Anzeige „vornehm kartoniert“ für 0,75 Mk. und „in Leinen gebunden mit Goldpressung“ für 1,75 Mk. angeboten.
Wie bei fast allen Erstausgaben der Bücher Grafs findet sich auch in diesem am Schluß eine Aufzählung seiner in unterschiedlichsten Verlagen „bisher erschienenen Werke“. Solche Listen gehörten ebenso wie auch die zu den einzelnen Texten nachweisbaren früheren Vorab- und späteren Nachabdrucke in diversen Journalen zu seiner Geschäftspraxis und Selbstinszenierung als Autor. Geschäftstüchtig verwertete er seine Erzählungen mehrfach: Bei Wollgramm werden sechs, bei Die Worte sogar zehn solcher Drucke außerhalb der Sammlung gezählt, darunter im Simplicissimus schon 1926, sowie später in Periodica der Exilländer Tschechoslowakei und Kanada; auch in dem von Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher herausgegebenen und mehrfach nachgedruckten Lesebuch Versäumte Lektionen von 1965ff. sowie in weiteren Schulbüchern findet man Die Worte.12 Die Texte fanden also anhaltend weiten Anklang.
Für die frühe Rezeption des Bandes kann Sheila Johnson nur einen nicht zuordenbaren Zeitungsausschnitt13 anführen, der auch wenig verständnisvoll die Texte als „keine Märchen, sondern mehr oder weniger fadenscheinige Einkleidungen [...] aus politischer Tendenz und nicht aus echter Märchenphantasie“ erklärt. Johnson meint, daß Manfred Georgs Vorwort, wäre es als Rezension erschienen, dem Buch mehr Resonanz eingebracht hätte.
Editorische Notiz
Die 90 Jahre (!) nach der Erstauflage herausgegebene zweite Auflage von Grafs Märchen-Sammlung erscheint als dreizehnter Band in der Graf-Ausgabe der edition monacensia; die Reihe bietet Nachdrucke, mehrheitlich Sammelbände mit Erzählungen im originalen Zusammenhang; die Bände sind textkritisch durchgesehen und mit einem philologischen Nachwort versehen.
Die Ausgabe von Licht und Schatten folgt, von der Korrektur weniger Druckfehler bzw. orthographischer Inkonsistenzen abgesehen, der Erstausgabe. Diese unterscheidet sich von den drei in Fraktur gesetzten anderen Graf-Büchern des Jahres 1927: Sie ist in Antiqua-Schrift gesetzt und bedurfte dementsprechend keine leichter lesbare Typographie.
Anmerkungen
[1] Walter Benjamin, Eine kommunistische Pädagogik. In: W.B., Gesammelte Schriften III, hg. von H. Tiedemann-Bartels. Frankfurt/M. 1972. S. 206-209. Hier S. 206.
[2] Ebd. S. 207.
[3] Vgl. das dreimal beschworene Leitwort in der Einleitung von Dr. Manfred Georg, das einen selbstbewußt-positiven Beiklang hat.
[4] Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff, Das Märchen in der proletarisch-revolutionären Jugendliteratur der Weimarer Republik 1918-1933. Frankfurt/M. 1984 S. 113.
[5] In der Ausgabe der Büchergilde Gutenberg Frankfurt 1988, und in der List-Centenar-Ausgabe München 1994; jeweils Band XI, 1 S. 338 - S. 375. –
[6] Ebd. S. 596.
[7] Vgl. die Zitate aus der Reichstagsrede Karl Liebknechts von 1910 in: Dieter Richter (Hg.), Das politische Kinderbuch. Eine aktuelle historische Dokumentation (collection alternative 1) Darmstadt und Neuwied 1973. S. 11. – Dort auch Belege dafür, daß den Kindern der Armen „die Märchenwelt [...] verschlossen bleiben“ müsse. Ihre Lektüre solle nicht „über die Glücksgüter hinausgehen, die sie sich erwerben können.“ (S. 26f.).
[8] Wer Wir sind Gefangene kennt, wird verstehen, wie sehr der Autor hier seinen Frust abreagiert.
[9] Oskar Maria Graf, Dorfbanditen. Erlebnisse aus meinen Schul- und Lehrlingsjahren. Berlin 1932. Unter neuem Titel und in neuer Zusammenstellung: OMG, Größtenteils schimpflich. Von Halbstarken und Leuten welche dieselben nicht leiden können. München 1962.
[10] Oskar Maria Graf, Reise in die Sowjetunion 1934. Mit Briefen von Sergej Tretjkow und Bildern (Sammlung Luchterhand 1012). Hamburg Zürich 1992. S. 73-76. – Vgl. auch Tretjakows Bericht: Sergej T., Oskar Maria Graf. In: Jahrbuch der Oskar Maria Graf-Gesellschaft 1997/98. S. 71 - 111, hier S. 109f.
[11] Manfred Georg (1893-1965), später im US-Exil: George, war ein bedeutender Publizist während der 20er Jahre, der nach mehreren Exilstationen ab 1938 in New York beim Aufbau arbeitete und diese Zeitung zum bedeutenden Exil-Journal machte; auch Graf schrieb dafür; die frühe Verbindung von Graf und Georg erhält damit viel Gewicht.
[12] Zu den Einzelveröffentlichungen vgl. die Nachweise bei Helmut F. Pfanner, Oskar Maria Graf. Eine kritische Bibliographie. Bern u. München 1976. Titelregister S. 719ff. – Und: Sheila Johnson, Oskar Maria Graf: The Critical Reception of his Prose Fiction. Bonn 1979. S. 120-123.
[13] Vgl. Sheila Johnsons Buch in Fn 12 S. 121.