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20.12.2021, 12:43 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte

Der Briefwechsel zwischen Franziska zu Reventlow und Michael Georg Conrad. FzR zum 150. Geburtstag

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Michael Georg Conrad an Franziska zu Reventlow, 27.12.1897, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Nachlass Franziska zu Reventlow, FR B 5.

2021 erscheint das Jahrbuch der Freunde der Monacensia zum 13. Mal. In der Rubrik „Gedenktage und Jubiläen“ 2021 erinnert u.a. Harald Beck an den 150. Geburtstag der Schriftstellerin Franziska zu Reventlow. In seinem Beitrag „An Ihnen liebe ich Alles“ hat er den Briefwechsel zwischen Franziska zu Reventlow und Michael Georg Conrad ediert und kommentiert. Wir bringen daraus die Einleitung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Jahrbuch-Herausgeber*innen.  

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Zwei Monate nach ihrer Ankunft in München im August 1893 nimmt Franziska zu Reventlow von ihrer Wohnung in der Theresienstraße 66 mit einer »Einsendung« erstmals Kontakt mit dem prominenten Schriftsteller und Kritiker Michael Georg Conrad auf. Als Gründer und langjähriger Herausgeber der Zeitschrift Die Gesellschaft spielte er über München hinaus eine wichtige Rolle im literarischen Leben.

Reventlow hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige kleine Erzählungen autobiografischen Charakters in den Husumer Nachrichten ihrer Heimatstadt veröffentlicht. Der Redakteur, Albert Johannsen, der der Familie verbunden war, machte sie aber schon in einem Brief vom Mai 1893 darauf aufmerksam, »daß die Husumer leicht errathen werden, wer hinter der Chiffre ›F. R.‹ steckt«.[1] Die Geschichte Ein Bekenntnis, die sie Conrad offensichtlich in ihrer »Einsendung« anbot, hätte im Städtchen Husum zweifellos moralische Entrüstung heraufbeschworen, wenn sich die Tochter des verstorbenen Landrats des Kreises Husum und Verlobte des Hamburger Rechtsassessors Walter Lübke als Verfasserin entpuppt hätte. Er hatte ihr nach den traumatischen Umständen beim Tod ihres Vaters zu einem Aufenthalt in dem Nordseebad Büsum geraten. Die Parallelen zur Handlung wären allzu offensichtlich gewesen: Ein Bekenntnis beschreibt, wie die jugendliche Heldin Ella[2] am letzten Abend ihres Aufenthalts in einem Nordseebad vor der Rückreise zu ihrem Mann, »weich gestimmt und sinnlich erregt«, schließlich den Avancen eines jungen Rheinländers, der als »der fleischgewordene Sonnenschein« beschrieben wird, nachgibt und die frühen Morgenstunden mit ihm als sein »tolles, tolles Kind« in einer grünen Bretterbude am Deich verbringt.[3]

Ein merkwürdiger Zufall will es, dass Reventlows letzte Briefe an Conrad vom Oktober 1902 wieder Ein Bekenntnis zum Thema haben. Für eine Episode ihres ersten Romans Ellen Olestjerne (1903) bittet sie Conrad um den gedruckten Text aus der Gesellschaft, was zunächst Conrads Unwillen heraufbeschwört.[4] Eine plausible Erklärung dafür findet sich in einem unveröffentlichten Brief an den Literaturhistoriker Heinrich Spiero aus dem Jahr 1912:

Ich bin mit der Feder stets ein schlechter Hausvater gewesen. Ich habe soviel hinausgegeben und keine Abschriften, Drucke, Belegexemplare zurückbehalten, keine Verzeichnisse geführt, nichts. Was in den vielen Bänden der Gesellschaft steht, weiß ich nicht, es ist kein Generalindex vorhanden.[5]

Zwei Jahre nach Reventlows letztem Brief verfasst Conrad den Entwurf einer Rezension zu Ellen Olestjerne, die durch ihre unverhohlene Subjektivität und Aggressivität frappiert. Dies ist umso überraschender, wenn man sich seine langjährige, wohlwollende Unterstützung ihrer literarischen Arbeiten vergegenwärtigt, die fürsorgliche Herzlichkeit und den Humor, der in seinen Briefen durchscheint. Aber wie es Wolfgang Hildesheimer in seiner Mozart-Biografie formuliert hat:

Ein Vermögen, sich in eine Gestalt der Vergangenheit zu versetzen, beherrschen wir nicht, vielmehr bleibt es ewig Gegenstand unserer Wunschvorstellung. [...] In wechselnder Reihenfolge rekapitulieren wir nur immer wieder, was wir bereits wissen oder zu wissen meinen, in der Hoffnung, dass sich irgendwo zwischen diesen Fakten eine plötzliche Erleuchtung biete [...][6]

Conrads Formulierungen sind verblüffend in ihrer Widersprüchlichkeit und ihrem peinlichen Chauvinismus:

Frau v. Reventlow wird sich mit ihrem Buch nicht leicht Zuneigung erringen. Es ist doch eigentlich nicht recht stark genug, dieses ihr literar. Schmerzenskind, als daß man im kritischen Herzensdrang darüber reden müßte. Mit Instinkt und Liebeleien macht man kein Buch, das eine Urnotwendigkeit in sich trüge, und das Verüberirdischen der Mutterschaft liegt uns nicht. Freilich, wenn überhaupt etwas Tüchtiges im Weibe ist, so holt’s die Mutterschaft hervor. Aber das Tüchtige wird nicht sein Maulwerk zu Markte tragen. Ich kann das ekstatische Getue und Sichvergloriolen nicht leiden.[7]

Dem »kritischen Herzensdrang«, den das »literarische Schmerzenskind« angeblich nicht auslösen kann, wollte Conrad gleichwohl nicht widerstehen, wie seine Äußerungen zeigen. Den Inhalt von Ellen Olestjerne auf »Liebeleien« und »Verüberirdischen der Mutterschaft« zu reduzieren ist geradezu abwegig angesichts der detaillierten Schilderung einer jahrzehnteüberspannenden Leidensgeschichte der Hauptfigur von der lieblosen Kindheit bis zur einsamen Mutterschaft der jungen Frau. Wenn es denn Ellen Olestjerne wirklich an »Urnotwendigkeit« mangeln sollte, drängt sich die Frage auf, in welchem von Conrads eigenen Romanen sie vorbildlich zu entdecken wäre. (Ein Roman über Ludwig II., wie Majestät [1902], lässt jedenfalls eher auf Geschäftstüchtigkeit als Urnotwendigkeit schließen.) Mit der Formulierung »wenn überhaupt etwas Tüchtiges im Weibe ist«, erreicht die Rezensionsskizze den Tiefpunkt ihres befremdlichen »Maulwerks« und der impliziten Selbstglorifizierung ihres – aus welchen Gründen auch immer – rachsüchtig gestimmten Verfassers.

Stand Franziska zu Reventlow 1893 am Beginn ihrer literarischen Karriere, die zehn Jahre später mit der Veröffentlichung ihres Romans Ellen Olestjerne einen ersten, durchaus bemerkenswerten Höhepunkt erreichte, so hatte Conrad schon in mancher Hinsicht den Zenit seines Wirkens überschritten: Sein großer, ambitionierter Wurf, der mehrbändige, monumentale München-Roman Was die Isar rauscht aus den Jahren 1888–1894, brachte mit sechs von ursprünglich geplanten 20 Bänden nicht den erhofften Durchbruch. Zudem hatte Conrad seit 1893 mehr und mehr den Einfluss auf sein eigentliches Lebenswerk, die Zeitschrift Die Gesellschaft, verloren. Auch eine kurze politische Karriere als königlicher Abgeordneter für Ansbach / Schwabach in Berlin war nach drei Jahren wieder beendet. Mangelndes parlamentarisches Engagement führte 1898 zu seiner Abwahl.[8]

Nachdem Hans Merian ab 1893 als alleiniger Herausgeber der Gesellschaft fungierte, gelang es Conrad nicht mehr, Franziska zu Reventlow, wie geplant, durchzusetzen und ihren Namen durch Veröffentlichungen zu etablieren. Erst Ludwig Jacobowsky, der Merian 1898 ablöste, war wieder bereit, einige Gedichte Reventlows zu drucken. Reventlow hatte schon 1896 erkannt, dass Langens Simplicissimus ein verlässlicherer Publikationsort für ihre Geschichten war.

Auch Conrads anfängliches Bemühen, den Schwabinger Verleger Dr. Eugen Albert für eine Sammlung von Reventlows Geschichten zu interessieren, war kein Erfolg beschieden. Einzig eine lobende Besprechung Conrads von Das gräfliche Milchgeschäft wird noch in Der Gesellschaft gedruckt.[9] 1902 stellt sie ihr Erscheinen endgültig ein: eine weitere mögliche Erklärung für Conrads unwirsche Reaktion auf Reventlows Bitte, den Text von Ein Bekenntnis für sie aufzustöbern.

Wenn Conrad in seinem Brief vom 13. Dezember 1896 bedauert: »Aber ist’s nicht komisch, daß wir beide eigentlich nie uns begegneten, wenn wir beide wohl und munter und körperlich und seelisch bester Kondition waren? [...] Im Übermute der Kraft und Freude haben wir uns nie gesehen. Das scheint schon unsere Bestimmung zu sein und als solche ist’s ganz kurios und hinlänglich interessant«, so drängt sich leicht die Vermutung eines metaphorischen Eingeständnisses seiner Ohnmacht als ehemals einflussreicher Herausgeber der Gesellschaft auf. Unverkennbar ist auch, dass ihm die »Cara Contessina«[10] über die Jahre durch persönliche Begegnungen ans Herz gewachsen war, und es mutet fast wie ein unbedachtes Geständnis an, wenn er am 28. April 1896 einen Brief mit diesen Worten schließt: »Und auch sonst habe ich an der Welt, der politischen und der anderen viel auszusetzen – nur an Ihnen nicht, an Ihnen liebe ich Alles. Hoffnungslos, natürlich.«

Vor dem Hintergrund seines unverkennbaren Einsatzes für und seiner oft väterlich besorgten Hinwendung zu Franziska zu Reventlow (später auch zu ihrem Sohn: »Prinz Bams«), bleibt die wütende ad-feminam-Attacke seines Rezensionsentwurfs zu Ellen Olestjerne das finale große Fragezeichen hinter dem Jahrzehnt ihrer Freundschaft. Dass Reventlow dieser Gesinnungswandel weder bewusst war noch dass sie je davon erfuhr, darf aufgrund fehlender Hinweise auf diese verletzende Kritik in ihrer umfangreichen Korrespondenz und ihren Tagebüchern als wahrscheinlich gelten. Allenfalls eine Ausgabe der umfangreichen, unveröffentlichten Korrespondenz Conrads nach 1902 könnte vielleicht einen Anhaltspunkt für seinen Gesinnungswandel ergeben. Dass seine Rezension jemals publiziert wurde, ist nicht anzunehmen.[11]

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1 Ulla Egbringhoff: Franziska zu Reventlow. Hamburg 2000, S. 48.

2 Eine Vorwegnahme von Ellen in Ellen Olestjerne (1903). [...]

3 Ein Bekenntnis. In: Die Gesellschaft 10 (1894). 1. Quartal, S. 321.

4 Sein Antwortschreiben ist nicht erhalten, lässt sich aber durch Reventlows Antwort erschließen.

5 Ein Scan wurde in einer Anzeige des Autografenhändlers Eberhard Köstler (Tutzing) im ZVAB veröffentlicht. München, 2.4.1912, Kl.-8°. 2 Seiten. Kartenbrief mit Adresse. An den Literaturhistoriker Heinrich Spiero (1876-1947) in Hamburg, dessen geplantes Buch über Detlev von Liliencron er zwar begrüßt; sich aber aus den genannten Gründen außer Stande sieht, Hilfe zu leisten.

6 Wolfgang Hildesheimer: Mozart. Frankfurt a.M. 1977, S. 290.

7 Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Nachlass Michael Georg Conrad, Manuskripte, L 593.

8 Gerhard Stumpf: Michael Georg Conrad. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk. Frankfurt a. M. / Bern / New York 1986, S. 439.

9 Die Gesellschaft 14 (1898). 3. Quartal, S. 143. Conrad bezieht sich in seinem Brief vom 12.9.1897 auf die Veröffentlichung in der Neuen Rundschau (1897). 3./4. Quartal, S. 979-984, seine Rezension aber auf den Humoresken-Band Klosterjungen von Reventlow und Otto Anthes, der auch 1897 bei Wigand in Leipzig erschien.

10 Vgl. unten den Brief Conrads vom 30.3.1894.

11 Die Wiener Wochenschrift Die Zeit für 1904 / 05 konnte zwar nicht eingesehen werden, aber es erscheint wenig plausibel, dass ein so drastischer Verriss des Romans durch Conrad unentdeckt geblieben wäre.

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Den vollständigen Artikel lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs der Freunde der Monacensia e.V., mitbegr. von Wolfram Göbel, hg. von Gabriele von Bassermann-Jordan, Waldemar Fromm und Kristina Kargl, Allitera Verlag, München 2021, ISBN 978-3-96233-318-8, S. 106-128.