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07.02.2024, 09:30 Uhr
Nicola Bardola
Text & Debatte
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Jahrbuch-Cover 2023 (c) Allitera Verlag

Die Briefe von Ingeborg Bachmann an Hermann Kesten (von 1954 bis 1960). Zum 50. Todestag von Ingeborg Bachmann

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Ingeborg Bachmann und Hermann Kesten, beide 1956. (Fotos: BSB/Timpe)

Am 17. Oktober 1973 starb die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann nach einem Brandunfall in ihrer Wohnung in Rom. Das Jahrbuch 2023 des Fördervereins Freunde der Monacensia e.V. (Allitera) enthält anlässlich ihres 50. Todestages einen Beitrag zu ihr, den wir mit freundlicher Genehmigung hier abdrucken. Darin geht Nicola Bardola auf den Briefwechsel zwischen Bachmann und dem Schriftsteller Hermann Kesten ein.

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Die Freundschaft zwischen Ingeborg Bachmann und Hermann Kesten ist kaum dokumentiert: Ina Hartwig erwähnt Kesten in ihrer fragmentarischen, aber sehr lesenswerten Biografie Wer war Ingeborg Bachmann (2017) mit keinem Wort. Dasselbe gilt für Ingeborg Gleichaufs Buch Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit (2015). Selbstredend fehlt Hermann Kesten auch in Margarethe von Trottas Film Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste (2023). Umgekehrt fehlt Ingeborg Bachmann komplett im von Walter Fähndrichs und Hendrik Weber herausgegebenen Band Dichter – Literat – Emigrant. Über Hermann Kesten (2005). Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Zudem überrascht nicht nur die Abwesenheit Kestens in fast allen Werken über Ingeborg Bachmann, auch die Fokussierung der Forschung auf Liebe und Leidenschaft der Ingeborg Bachmann verblüfft, ist doch das Gefühl der Freundschaft ein Wesentliches für sie. Dokumentiert ist es u.a. in den Briefwechseln mit Ilse Aichinger oder Hans Werner Henze. Selten kommt es dort aber so herzlich, so originell und unbefangen zum Ausdruck wie in ihren Briefen und Postkarten an Hermann Kesten, die in Kestens Nachlass in der Monacensia im Hildebrandhaus aufbewahrt werden und bis heute fast allesamt unveröffentlicht sind. Die dort überlieferte Korrespondenz dauerte von 1954 bis 1960, seitens Kesten bis 1962.

Es ist, als hätte es diese Freundschaft zwischen den Rom-Kennern Ingeborg Bachmann und Hermann Kesten nie gegeben. Übersehen hat die Literaturgeschichte damit eine enge Beziehung, die viele neue Einblicke in das Leben Ingeborg Bachmanns erlauben. Allein Sigrid Weigel erwähnt jeweils kurz angebunden einige wenige Aspekte der Briefe in ihrem Buch Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses (1999) sowie – noch knapper – Albert M. Debrunner in seiner Biografie „Zu Hause im 20. Jahrhundert“. Hermann Kesten (2017). Schließlich streift das Buch Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel (2022) ganz oberflächlich Hermann Kesten im Zusammenhang mit Ingeborg Bachmann. Offenbar haben die Herausgeber und Verfasser dieser zuletzt genannten Bücher nicht selbst den Briefwechsel eingesehen. Einschränkend gilt es deshalb festzuhalten: Über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch heißt es gemeinhin, die Texte seien auch selbst große Literatur. Das trifft auf diesen Briefwechsel zwischen Bachmann und Kesten nicht zu. Nun sind aber die so aufrichtigen und witzigen Briefe Ingeborg Bachmanns der literarischen Welt bislang unbekannt, obwohl sie seit Jahrzehnten im Archiv der Monacensia schlummern und immer wieder auch Literarisches thematisieren. Das tun sie mit einer Leichtigkeit und Ironie, wie man sie in Ingeborg Bachmanns Werk nur selten findet.

Ingeborg Bachmann schreibt im Juli 1954 aus Rom an Hermann Kesten (und gleichzeitig in allen Briefen fast immer auch an seine Frau Toni): „Die Tage vergehen so, wie sie halt vergehen, neuerdings etwas dramatischer, weil ich krank zu sein scheine, ich glaube, es ist die Schilddrüse, die sich aufregt. Ich bin sehr betrübt, denn die anderen Lyriker haben es doch mit Selbstmord oder Rauschgift oder Lunge, aber man kann nicht alles haben.“ (Nr. 1) Hier ist der Autorentod noch ein Epistelscherz. Oder schwingt Sarkasmus mit? Keine 20 Jahre später stirbt Ingeborg Bachmann unter tragischen Umständen, die heute noch die Frage aufwerfen, bis zu welchem Grad suizidale Absichten beim – und nach dem – selbstverschuldeten Unfall eine Rolle spielten.

Im selben Brief, den Bachmann fast genau einen Monat vor Erscheinen der Zeitschrift Der Spiegel (am 18. August 1954 mit einer Fotografie von ihr auf dem Titelblatt) schreibt, geht es auch um den geplanten Autokauf des Ehepaars Kesten. Bachmann: „[…] es spricht natürlich viel für ein Auto, aber Radfahren ist wirklich romantisch und man sieht bekanntlich mehr von der Landschaft.“ Nach einigen Abschweifungen kehrt Bachmann in diesem durchaus heiteren Brief zum Thema Gedichteschreiben und zu ihrem Unwohlsein zurück: „Dass Sie jetzt von der faulen in die tätige Periode wechseln, könnte mich auch wachrütteln, vielleicht schreibe ich heute noch das Gedicht, das Sie nicht geschrieben haben, aber leider Gottes hab ich die Ausrede, dass ich mich schonen soll; ich hab zwar keine Ahnung, was das ist, bringe es aber sofort mit Nichtschreibendürfen in Zusammenhang.“

Mehrfach in ihren Briefen an Kesten schildert Ingeborg Bachmann das Schreiben einerseits als Glück, aber auch als Last. Augenzwinkernd kommentiert sie später auch Veröffentlichtes von Kesten: Der hatte 1955 den Roman Ein Sohn des Glücks mit vielen eindrücklichen Rom-Szenen und einigen italienischen Ausdrücken veröffentlicht. Darin wird das Wort „Schokolade“ auf Italienisch geschrieben. Kesten bietet Bachmann an, ihr das Buch zu schicken (sie weilt wieder in Klagenfurt) und erwähnt dabei den Fehler. Darauf antwortet Ingeborg Bachmann: „Gioccolata ist natürlich für einen triestiner Römer sehr arg, aber die windischen Römer können auch einem ‚G‘ etwas abgewinnen; hätte nicht ganz gut die Tochter der Gioconda so heißen können? Aber sul serio: ich freue mich sehr auf das Buch und möchte es so gern haben!“ (Nr. 3)

Nachdem Ingeborg Bachmann das Buch erhalten und auf Kestens Wunsch hin kritisch gelesen hat, schreibt sie an den um ein Vierteljahrhundert älteren Verfasser des hochgelobten Romans: „Ich habe, obwohl ich ein recht unguter Leser sein kann, nichts gefunden, was mich gestört hätte, ausser einem Satz auf der vorletzten Seite; es heisst dort ‚Wenn ich mich verliebe, gerate ich freilich ausser mir.‘ Ich meine, es müsste ‚ausser mich‘ stehen.“ (Nr. 5) Diese kleine grammatikalische Anmerkung Bachmanns lässt Kesten fast aus der Haut fahren, aber natürlich bewahrt er dabei seinen freundschaftlichen Humor. Umgehend antwortet Hermann Kesten sprachspielerisch im Mai 1956: „Ich gerate außer mir, wenn ich denke, ich sollte außer mich geraten, insbesondere wenn ich mich verliebe. Ich will aber, wenn ich wieder im Institut für germanische Studien bin, nachwälzen, wohin oder wo man gerät, wenn man ausser sich gerät.“[1] (Hermann Kesten hat mit 53 Jahren an der Università degli Studi di Roma, Facoltà di Lettere e Filosofia zu studieren begonnen, Englisch bei Mari Praz und Deutsch bei Bonaventura Tecchi.) Ingeborg Bachmann antwortet im nächsten Brief ernst und selbstkritisch: „Und wie es mit dem ‚ausser sich geraten‘ ist, wüsste ich nur furchtbar gern, schon aus purem Egoismus; ich hatte auch schon den Verdacht, dass meine Version ein Austriazismus sein könnte oder ein Kärntnerismus; manchmal schleppt man so etwas ja ein ganzes Leben mit.“ (Nr. 6)

„Der Kaffee ist schlecht in München“

Ingeborg Bachmann gesteht Kesten gegenüber, der ihr Vater sein könnte und der gerne fördernd und väterlich ihr gegenüber auftritt, sprachliche Unsicherheiten ein, die sie andernorts zu verbergen weiß. In der Intimität der Korrespondenz berichtet Ingeborg Bachmann auch von den Schwierigkeiten bei der Titelsuche für ihr letztes und bekanntestes Hörspiel. Am 3. September 1957 schreibt sie von Rom aus: „Ich war fleissig in den letzten Tagen, und das Hörspiel wird endlich fertig, von dem ich seit drei Jahren rede. Titel habe ich noch immer keinen, und am Ende wird es zu meiner Verzweiflung doch Manhattan-Ballade heissen, obwohl wir doch alle sehr dagegen waren.“ (Nr. 8) Gemeinhin heißt es, Der gute Gott von Manhattan, diese kapitalismuskritische Schilderung einer ekstatischen Liebe, sei 1957 entstanden. Hier wird deutlich, dass Ingeborg Bachmann bereits 1954 mit dem Werk begonnen hatte, das Max Frisch so sehr begeisterte, als er sie noch nicht kannte.

Was in Ingeborg Bachmanns Briefen an Hermann Kesten besonders gut zum Ausdruck kommt, ist die Stadt Rom als Sehnsuchtsort. Immer wieder lobt sie Rom und gleichzeitig kritisiert sie die Städte, in denen sie sich gerade beim Briefeschreiben befindet. Bachmanns Rom-Lob von Klagenfurt aus lautet im Dezember 1955: „Meine Gedanken gehen sooft hinunter, und wenn Sie einen windischen Geist in der Wintersonne vor dem Doney sitzen sehen, dann ists die Hälfte von mir, die noch immer in Rom ist.“ (Nr. 3) Im Juni 1956 schreibt sie von Neapel aus: „Sehr lustig waren Ihre Schilderungen des römischen Lebens und der incontri; ich bekomme doch immer wieder grosse Sehnsucht nach Rom; Sie ahnen nicht, wie verschieden Neapel ist, es wimmelt überhaupt nicht von Fremden und Freunden – von Fremden vielleicht doch hier und da, von Freunden aber bestimmt nicht. Und der liebe Kaschnitz-Besuch war der einzige in der ganzen Zeit. Wollen Sie sich nicht mit Toni in einen feinen flinken rapido setzen und einer einsamen Windischen einen Besuch abstatten?“ (Nr. 6)

Im September 1956 kritisiert Ingeborg Bachmann – wiederum von Klagenfurt aus – die Stadt Venedig: „Dann fuhr ich weg nach Venedig, eigentlich mit der Absicht, mich dort niederzulassen für eine Weile, aber schon nach drei Tagen konnte ichs nicht mehr aushalten, denn man hört dort kein Italienisch mehr, nur deutsche Dialekte, ab und zu auch ein bisschen Französisch, und obendrein gibt es nicht ein Zimmer bis Ende September. So ists zu Kärnten gekommen, und ich bin froh darüber, denn es gibt hier weniger Österreicher als in Venedig.“ (Nr. 7)

Noch schlechter als Venedig schneidet München ab: „Vergessen Sie mich nicht und zählen Sie mich weiter zu den Römern, denn zu den Münchnern möchte ich, ohne den Deutschen zu nahe treten zu wollen, nie gezählt werden.“ (Nr. 8) Von Herbst 1957 wohnt Ingeborg Bachmann ein knappes Jahr lang in München, seit 15. Oktober 1957 in der Pension Biederstein in der Biedersteinerstraße am Englischen Garten. Von dort aus schreibt die 31-Jährige den Kestens: „seit gestern wohne ich in einer Pension am Stadtrand, und vorher war ich immer unterwegs und im Umzug, denn hier tobt das Oktoberfest und Horden von Biertrinkern überschwemmten die Hotels“, und einige Zeilen später: „Hier einen Besuch zu machen, würde ich empfehlen, nur das Bleiben nicht. Ich finde fast alles und fast jedes deprimierend […].“ (Nr. 9) Gut zwei Wochen danach wird sie noch deutlicher: „Der Kaffee ist schlecht in München, der Herbst ausnahmsweise ganz schön, aber für verwöhnte römische Augen ist er auch kein Trost. Es gibt viele Verkehrsunfälle, obwohl die Leute hier auch die Theorie lernen müssen, dafür aber keine hübschen Herzoginnen und überhaupt wenig hübsche Menschen, und ich bin eher traurig und nur nicht gelangweilt, weil ich vor lauter Terminängsten krank bin.“ (Nr. 10)

„Ich möchte nie wieder Professor sein“

In München arbeitet Ingeborg Bachmann als Dramaturgin für den Bayerischen Rundfunk und eng mit dem Lektor des Piper Verlags Reinhard Baumgart zusammen, trifft sich in den Schwabinger Kaffeehäusern mit Literatinnen und Literaten und freundet sich mit dem Schweizer Autor Kuno Raeber an, der in Schwabing in der Nachbarschaft wohnt. Der erinnert sich: „Im Mai 1958 war ich bei Ingeborg Bachmann in ihrer Münchner Wohnung, als ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan gesendet wurde. An jenem Maiabend saßen wir, Gastgeberin und Gäste, still um das Radio. Die Gegenwart der Dichterin versank hinter dem Gedicht von der Vergeblichkeit, von der Unmöglichkeit der Liebe.“[2]

Als Ingeborg Bachmann im Juli 1958 erstmals Max Frisch trifft, sagt sie zu Raeber, das sei Liebe auf den ersten Blick, sie werde zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Zürich ziehen. Am 7. März 1959 schreibt sie aus Max Frischs Haus in Uetikon den Kestens und spart nun auch nicht mit Kritik an Zürich: „Ich komme vielleicht wirklich bald nach Rom; zuerst sollte es der 1. Mai sein, aber ich kann nicht fahren, eh das Geschichtenbuch fertig ist, und es will und will nicht fertig werden. Ich habe nicht gewusst, dass es so schwer ist, so viele Sätze zu schreiben, und meine Bewunderung für die Prosaisten steigt seither ins Ungemessene. Bitte schicken Sie mir die ‚Dichter im Café‘ in das caféhauslose Uetikon. Dort werde ich ab nächster Woche wohnen, am Ufer des lieblichen Sees, der schauderhaft verschlammt und von Fabriken umstellt ist. Aber mir soll es recht sein, solang noch einige Wege nach Rom führen.“ (Nr. 11)

Ingeborg Bachmanns Weg führt wirklich wieder nach Rom. Sie hält es in Uetikon nicht mehr aus. Der kranke Max Frisch bleibt in der Schweiz in Kur. Am 10. Juli 1959 schreibt sie ihm aus Rom, sie vermisse ihn und überhaupt Gesellschaft. Sie sehne sich wieder ein wenig nach Uetikon zurück, schließe aber eine Rückkehr aus: „Ich vermisse meine Bücher und die Ordnung, ich habe nichts zu lesen, alle Bibliotheken sind über den Sommer geschlossen. Grass, den ich erwartete, kommt leider nicht. Enzensbergers sind auf eine Insel gefahren, Kestens nach Frankreich, Marie Luise fährt auch gleich nach Frankfurt und hatte kaum Zeit, weil sie den Nachlass ihres Mannes ordnen musste. Hocke ist auf einer Reise. Tu vois les choses. Der römische Sommer. Man langweilt sich auf die angenehmste Art zu Tode.“[3] Mal ironisch, mal ernsthaft spielt der Tod in der Beziehung zwischen Bachmann und Frisch eine große Rolle. Der Schweizer Autor verfasst im März 1960 sein Testament: „1. Ich setze meine drei Kinder (Ursula, Peter, Charlotte) auf Pflichtteil. 2. Der verfügbare Teil meiner Hinterlassenschaft soll Fräulein Dr. phil. Ingeborg Bachmann, zurzeit wohnhaft Kirchgasse 33, Zürich, zufallen. Dies bezieht sich sowohl auf Vermögenswerte wie auf die künftigen Einkünfte aus meinen Werken.“[4]

Das gemeinsame Arbeiten in Uetikon war unmöglich geworden. Ingeborg Bachmann wohnt nun im Zentrum der Stadt, in der Kirchgasse 33 (wo Gottfried Keller einst als Staatsschreiber gelebt hatte). Am 29. Dezember 1959 schreibt sie den Kestens und lädt sie an die Limmat ein. Sie bietet ihnen an, sie mit dem „Wägeli“ (ein Geschenk von Max Frisch, ein VW Käfer) abzuholen. Rasch lässt Ingeborg Bachmann wie die italienischen, jetzt auch schweizerdeutsche Begriffe in ihren Wortschatz ein. In diesem Brief wird Bachmanns Kritik am männerdominierten Literaturbetrieb deutlich: „Aber ich habe natürlich nicht geschrieben, überhaupt seit Monaten meine Freunde arg vernachlässigt, denn es gibt zuviel Arbeit, ich möchte nie wieder Professor sein, besonders keiner, der ohne donna di servizio zwischen Haushalten und Universitätsproblemen zerrissen wird und dann daneben noch schreiben möchte. In diesem Beruf ist es wirklich besonders günstig ein Mann zu sein.“ (Nr. 14)

„Aus dem Dunkel, selber verdunkelt“

Die Freundschaft Ingeborg Bachmanns zu den Kestens hält bis 1962, also bis zu einer von vielen Literaturstreitigkeiten Kestens, diesmal gegen Edgar Lohner, der 1962 im Aufsatz Tradition und Gegenwart deutscher Literaturkritik schreibt: „Doch Kestens Hass und Ressentiment richten sich […] gegen Tucholsky und Brecht, gegen Paul Hühnerfeld und Ingeborg Bachmann und gegen einen der begabtesten Schriftsteller der Gegenwart, Uwe Johnson, der sich als erster und einziger bisher wehrte und Kesten einen Lügner nannte.“[5] Im September 1962 schreibt Kesten aus New York an Bachmann in Rom, zitiert aus obiger Passage und fährt fort:

„Das ist nur eine der sinnlosen Lügen und Erfindungen dieses Professor Lohner. Ich schreibe Ihnen 1) um Ihnen ausdrücklich zu sagen, dass ich in meinem Leben kein Wort gegen Sie oder Ihre Werke gesagt oder veröffentlicht habe. Ich habe im Gegenteil […] Aber das alles wissen Sie ja wohl schon seit zehn Jahren […] Ich schreibe Ihnen darüber 2) weil ich gesehen habe, wie unerschrocken Sie ähnliche Angriffe gegen Celan öffentlich abgewehrt haben. Nun will ich Sie keinesfalls dazu verführen, für mich öffentlich einzutreten. Ich habe zeitlebens mich selber zu verteidigen gewusst. Dagegen hielte ich es für notwendig, dass Sie eine Berichtigung an die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter […] Wenn Ihnen der Artikel von Lohner zu dreckig sein sollte, was ich durchaus verstünde, und damit auch der Ort, wo er erschienen ist, suspekt, was ich gleichfalls verstünde, so könnten Sie ja sicher, wenn Sie es nur wollen, eine knappe Berichtigung von wenigen Zeilen überall unterbringen, z.B. in der Zeit, Hamburg.“[6]

Kesten bekommt die erwartete Hilfe jedoch nicht. Stattdessen schreibt Ingeborg Bachmann im März 1963 an den Herausgeber der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, Walter Höllerer: „Das hätte ich schon gern getan, weil er mich nicht verfolgt, aber ich konnte dann das Heft nicht bekommen und wusste zuerst nicht, wie ich berichtigen soll, wenn ich den Aufsatz gar nicht gelesen habe, und dann, nachher war ich unentwegt krank und hatte andre Sorgen.“[7] Wer den Briefwechsel mit Frisch aus jener Zeit kennt, weiß um die Unmöglichkeit, sich nun mit literarischen Fehden zu beschäftigen. Zudem ist der so entstandene Konflikt mit Kesten schwer aufzulösen. Jedoch legen Kestens Äußerungen nach Bachmanns Tod nahe, dass der Kontakt zwischen den beiden deswegen nicht abgebrochen ist, allerdings sind entsprechende Briefe nicht erhalten.

Wie ist die tiefe Verbundenheit zwischen Bachmann und Kesten entstanden, die in ihren Briefen so zahlreich zum Ausdruck kommt? Ingeborg Bachmann liest 1952 in der Gruppe 47 und bekommt im folgenden Jahr deren Preis für ihre Gedichte. Sie beschließt, ihren Lebensunterhalt als freie Autorin zu bestreiten. 1953 schreibt die Abendzeitung: „Durch Hans Werner Richter kam sie zur ‚Gruppe 47‘, auf deren letzter Tagung sie mit ihren schönen Gedichten über die Werke von Walter Jens siegte. Das Tempo, mit dem sich nun die westdeutschen Sender auf Ingeborg Bachmann stürzten, war für sie so atemberaubend wie die damit verbundenen materiellen Schätze. Der NWDR bezahlt ihren Italienaufenthalt, damit sie in Ruhe ein Hörspiel schreiben kann. Frankfurt und München erteilten Aufträge für Nachtstudiosendungen.“[8]

Ingeborg Bachmann und Hermann Kesten lernen einander bei Bachmanns erstem Romaufenthalt 1953 im Umfeld Gustav René Hockes kennen. In Rom tagt im selben Jahr die Gruppe 47: Hans Werner Richter diskutiert in Cafés unter vier Augen mit Kesten, um ihn in der Gruppe zu halten und um die Wogen zu glätten, die entstanden sind, nachdem Kesten nicht nur Gottfried Benn scharf angegriffen, sondern auch einen Rundumschlag gegen junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller veröffentlicht hat. Kesten warf der jungen Generation vor, Autoren wie Ernst Jünger und Gottfried Benn höher zu schätzen als die Exilanten. Dafür wurde Kesten u.a. von Heinrich Böll und Wolfgang Hildesheimer kritisiert. Da allseits die Stellungnahmen radikal waren, findet in Rom schließlich der endgültige Bruch zwischen Kesten und der Gruppe 47 statt. Doch darunter leidet nicht im Geringsten die junge Freundschaft zwischen der sich in Aufbruchstimmung befindlichen Ingeborg Bachmann, Hermann Kesten und seiner Frau Toni, obwohl Ingeborg Bachmann im selben Jahr für ihre Lyrik ausgerechnet den Preis der Gruppe 47 bekommen hat. Zum vertrauten Kreis in Rom gehören auch Marianne und Fritz Löw-Beer, die schon seit 1952 in Rom leben, und Marie Luise Kaschnitz. Sie gehören alle zu den so genannten „neuen Rom-Deutschen“ (die „Deutschrömer“ waren Anfang des 19. Jahrhunderts Künstler – v.a. Maler aus Deutschland).

Als von Bonaventura Tecchi Ende 1953 eine Lesung von Hermann Kesten in der Villa Sciarra (Sitz des von Tecchi geleiteten Istituto di Studi Germanici) plant (Honorar 100.000 Lire), fragt Hocke, ob vielleicht eine Poetin aus Klagenfurt, die in einem ungeheizten Zimmer in der Via Ripetta lebe, mit Hermann Kesten lesen könne. Die Doppellesung findet dann tatsächlich Ende Januar 1954 statt. Marie Luise Kaschnitz, eine weitere Rom-Deutsche, schreibt: „Danach las Ingeborg Bachmann Gedichte, furchtbar gehemmt und leise, niemand verstand ein Wort. Das war sehr schade, weil die Gedichte schöne sind.“[9]

Sechs Jahre später erfährt die Freundschaft zwischen Bachmann und Kesten einen Höhepunkt. Ein Brief von ihr wird auf ihren und Kestens Wunsch hin vollständig veröffentlicht in Hermann Kesten – Ein Buch der Freunde – Zum 60. Geburtstag am 28. Januar 1960. Verfasst hat ihn Ingeborg Bachmann Ende 1959. Überliefert ist jedoch eine undatierte, zur Veröffentlichung frei gegebene Fassung. „Lieber Hermann Kesten, unsere junge Freundschaft ist nun auch schon sieben Jahre alt und sie ist in Rom gediehen, wo uns die Fremde nicht schwierig war und wo ich Sie lieber zuhause weiss als in einer anderen Fremde. Ich denke, mehr noch als an die lauten, heissen Mittage im Sommer, an die Winterabende, wenn Rom nicht mehr voll von Menschen und Freuden war, wenn die Via Veneto wieder eine Strasse war wie andere auch und man von draussen in das Café Doney kam, aus dem Dunkel, selber verdunkelt, – wenn man sich einsam fühlte, fror und auf ein warmes Wort hoffte. Bei Ihnen und Ihrer Frau habe ich es gefunden.“ (Nr. 13)

Im Nachlass von Hermann Kesten in der Monacensia im Hildebrandhaus befinden sich von Ingeborg Bachmann insgesamt 16 Briefe und zwei Postkarten sowie 13 Briefe von Hermann Kesten (keine Postkarten). Nachfolgend werden 15 Briefe Ingeborg Bachmanns in chronologischer Reihenfolge ediert, mit den nicht datierten Briefen an den vermutlich passenden Stellen.

Zur Edition

Die Briefe befinden sich im Nachlass Hermann Kesten in der Monacensia im Hildebrandhaus. Sie sind maschinenschriftlich, mit einzelnen handschriftlichen Korrekturen, Ergänzungen und Grüßen, überliefert.

[1] Hermann Kesten an Ingeborg Bachmann, 22.5.1956. Nachlass Hermann Kesten, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia im Hildebrandhaus.

[2] Andrea Mühlberger: Besser tot in Rom als halbtot in München. Sendung im Bayerischen Rundfunk, 10.8.2014.

[3] Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel. Hg. von Hans Höller / Renate Langer u. a. Frankfurt a. M. / München 2022, S. 136.

[4] Bachmann / Frisch: Briefwechsel, S. 173.

[5] Bachmann / Frisch: Briefwechsel, S. 838f.

[6] Hermann Kesten an Ingeborg Bachmann, 19.5.1962. Nachlass Hermann Kesten, Münchner Stadtbibliothek / Monacensia im Hildebrandhaus.

[7] Bachmann / Frisch: Briefwechsel, S. 839.

[8] Mühlberger 2014.

[9] Albert M. Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“. Hermann Kesten – Biographie. Wädenswil bei Zürich 2017, S. 253.