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Sandra Hoffmann läuft Ski – und erzählt eine Geschichte über Katholiken, Kulturen und wie der Kopf vom Körper lernt

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© Juliane Brückner

Zu Beginn des Frühlings fand im Café Lost Weekend eine große Lesung Münchner Autoren statt, bei der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner mitwirkte. Motto des Abends war: „But you’re welcome – eine Initiative gegen Fremdenhass“. Wo sind wir selbst fremd? Wie hängen Fremdsein und Schreiben zusammen? Fragen wie diesen ging vor fast 100 Besuchern eine Reihe namhafter Autoren nach: Steven Uhly, Lena Gorelik, Daniel Jaakov Kühn, Andreas Unger, Sandra Hoffmann, Margarete Moulin, Jürgen Bulla, Katja Huber (der wir auch für Mitschnitt und Nachbearbeitung danken!), Daniel Grohn, Emel Ugurcan, Andrea Heuser und Dagmar Leupold. Es moderierten Maximilian Dorner und Fridolin Schley, für den musikalischen Rahmen sorgte Daniel Grohn.

Wer den Abend verpasst hat – oder ihn auffrischen möchte – kann die Texte im Literaturportal Bayern noch einmal nachlesen und nachhören. Die gesammelten Texte werden im Sommer als Buch im P. Kirchheim Verlag erscheinen. Heute vorab:

 

Fremdkörper

von Sandra Hoffmann

 

Das mag merkwürdig klingen, wenn ich nun vom Skifahren erzähle, aber wo beginnen, wenn nicht am eigenen Körper, wenn es um das Fremde geht.

Neulich also stand ich nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder auf Skiern. Eigenartig war das eingesperrte Gefühl in den Schuhen, eigenartig war aber sonst gar nichts. Nichts war neu. Ich stand auf Skiern, als hätte ich immer auf Skiern gestanden, so als gäbe es nichts als Schnee und Winter zwischen mir mit siebzehn und mir mit siebenundvierzig. Ich kannte mich aus. Und verstand, der Körper vergisst nicht. Und interessanterweise fiel mir dann, noch im Skilift, Orhan Kutlucan ein. Das hat jetzt nichts mit dem Skifahren zu tun, weil ich keine Ahnung habe, ob Orhan jemals Ski fuhr.

Als ich ein kleines Mädchen war, lebten wir auf dem Dorf. Das war nicht ganz klein, aber es war auch nicht besonders groß, 2500 Seelen damals vielleicht. Und als ich im Kindergarten war, war dort auch Orhan Kutlucan. Und sein Bruder und seine Schwestern waren da. Ich habe keine Ahnung, wie es damals gelang, dass kleine Muslime in einen katholischen Dorfkindergarten eingeschult oder eingegärtnert wurden. Es war halt so, und mir als Kind stellte sich auch nicht die Frage nach dem Warum. Wir alle gingen eben zusammen in den katholischen Kindergarten, geleitet von einer Nonne, die immer oben über die Kinderklotüren hereinspähte und einen antrieb, doch schneller zu sein: bei allem. Sie tat das bei mir, aber sie tat das auch bei Orhan, dem Türken. Ich war vier und saß da im Kindergarten mit einem, der sah ein wenig anders aus und roch auch ein wenig anders, das erinnere ich noch, oder mein Körper tut das, und seine Mutter trug ein Kopftuch. Mit ihm und seinen Geschwistern also saß ich im Sandkasten. Und ich weiß schon noch, wie meine streng katholische Oma sagte: „Das sind doch Türken!“ Und wie meine Mutter antwortete: „Ja und?“

Das war mitten in Oberschwaben, wo man ungefähr so katholisch ist wie hier in Bayern. Aber für den „Ja und?“-Satz bin ich meiner Mutter bis heute dankbar. Weil ich glaube, es ist so etwas Ähnliches wie mit Hunden. Hat die Mama Angst vor Hunden, hat es auch das Kind. Hat die Mama Angst vor Menschen anderer Herkunft ... Und so weiter.

Die Kutlucans waren die einzigen Türken bei uns auf dem Dorf, aber sie waren so selbstverständlich da und wohnten so selbstverständlich in diesem kleinen Haus an der Hauptstraße wie der Bauer auf der anderen Straßenseite. Das war ungefähr 1970. Als viele Türken nach Deutschland kamen, weil wir sie brauchten.

Es war also, als ich vier Jahre alt war, als mein Körper so ganz nebenbei den Körper eines türkischen Jungen kennengelernt hat. Orhan Kutlucan pinkelte auf der gleichen Kindertoilette wie ich, und Schwester Soteris schlug ihm mit dem Kehrwisch genauso den Arsch voll wie mir, wenn er Schimpfworte sagte.

 

 

 

Der Begriff „frühe Prägung“ stammt aus der Psychologie, aber auch Konrad Lorenz hat anhand seiner Experimente mit Gänsekücken vorgeführt, dass Prägung frühe Erfahrung ist, frühe Bindung, oder sagen wir einfach Verbindung, die auf Vertrautheit beruht und die Sicherheit gibt (wenn auch zuweilen erschütterbare), dass von Menschen und Dingen, mit denen ich mich auskenne, keine unüberschaubare Bedrohung ausgeht.

„Was der Bauer nicht kennt, das isst er auch nicht“ oder „Was Hänschen nicht lernte, lernt Hans nie“. Das sind diese alten und etwas merkwürdig einfach daherkommenden Alltags- und Volksweisheiten. Aber vielleicht behalten sie doch Recht, wenn es um Erfahrungen mit dem Körper geht, der sich eben auf ganz eigene Weise erinnern kann. Egal ob ans Skifahren oder an die Nähe eines anderen türkischstämmigen Kinderkörpers zwischen Bauklötzen.

Was also ist mir eingefallen, als ich neulich, nach dreißig Jahren, wieder auf Skiern stand?

Zuerst einmal, dass der Mensch ja nicht per se ein schlauer Kopf ist. Und dass der Körper erst einmal keine, sagen wir, Fremdkörper mag. Oder jedenfalls dann nicht, wenn der Kopf sie als solche entlarvt. Dass der Körper also eher das mag, woran er gewöhnt ist. In meinem Kopf aber war Orhan Kutlucan nie ein Fremdkörper, er war genauso da wie Petra Baumann und Erika Wegerer und Erich Haug und die anderen schwäbischen Kinder um mich herum.

Und so möchte ich das, was ich hier erzähle, als Plädoyer verstanden wissen für mehr Mixed. Für mehr Zuwanderung aus aller Welt und von mir aus auch Auswanderung in alle Welt. Für mehr Farben zwischen weißer und schwarzer Haut. Für mehr kleine Muslime, die mit unseren kleinen Kindern im Sandkasten sitzen oder auf dem Spiel- und Fußballplatz herumrennen. Weil sich dann irgendwann der deutsche Student nicht mehr nur in die andere EU-Staaten-Kommilitonin gleicher Religion verlieben kann, ohne mit Ressentiments von den Eltern oder wem auch immer rechnen zu müssen. Oder andersherum. Sondern eben in das muslimische Mädchen aus Somalia. Und das deutsche Mädchen beginnt ein Leben mit einem afghanischen Jungen oder wem auch immer aus irgendwo in der Welt.

Mein Vater ist evangelisch, meine Mutter ist katholisch, und eigentlich ging das Mitte der Sechzigerjahre im katholischen Oberschwaben, wo mein Vater ein Zugezogener war, gar nicht, dass zwei Solche (auf schwäbisch: „Sotige“, was soviel meint wie: merkwürdige Subjekte) zusammenkommen. Aber in Biberach, wo ich aufgewachsen bin und wo gleichzeitig soviel CDU gewählt wird wie sonst fast nirgends in Baden-Württemberg, gibt es das sogenannte Simultaneum. Das ist eine Kirche, die seit der Reformationszeit von beiden Religionen paritätisch genutzt wird und in der sowohl die Katholiken als auch die evangelischen Gläubigen ihre Messen feiern. Meine Eltern haben dort geheiratet.

Echte Veränderungen brauchen ja häufig Jahrhunderte, aber die Vorstellung, dass ein muslimischer Orhan Kutlucan irgendwann in den nächsten hundert Jahren meine Stiefururenkelin hier vor meinem Schreibtischfenster in der katholischen St.-Anna-Kirche heiratet, gefällt mir sehr. Und ach so, man muss ja die Kurve kriegen: Danach gehen sie Skifahren. Klar!

Ich glaube nämlich: Der Kopf kann vom Körper lernen.

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