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05.08.2021, 09:55 Uhr
Klaus Hübner
Text & Debatte
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Marieluise Fleißer im Juli 1965 (Bayerische Staatsbibliothek München/Timpe)

Und was Marieluise Fleißer damit zu tun hat

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(c) Bayerische Staatsbibliothek München/Timpe

Die 143. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunkt Avantgarde. Darin bespricht Klaus Hübner Marieluise Fleißers Text »Avantgarde«.

 

Ohne die edition suhrkamp sind meine Studienjahre gar nicht zu denken. Ihr Band 727 hat sich in jener theoriebesessenen Zeit gut verkauft: Theorie der Avantgarde von Peter Bürger, eine marxistisch grundierte kunsttheoretische Abhandlung auf höchstem Niveau, in der man lesen kann, dass sich die europäischen Avantgardebewegungen als »Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft« begreifen lassen. Für die Dadaisten und die meisten Surrealisten trifft das bestimmt zu. Aber sonst? Avantgarde? Ein ursprünglich militärischer Begriff sei das, seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf die jeweils neuesten künstlerischen Entwicklungen angewendet, sagt das Metzler Literatur Lexikon. Und weiter: »Als ›Avantgardisten‹ verstehen sich Künstler und Literaten, die mit einem progressiven Programm formal und inhaltlich in Opposition zu den bestehenden literarischen und gesellschaftlichen Konventionen treten«. Hilft uns das weiter? Dann wären Georg Queri oder Josef Ruederer einst auch »Avantgarde« gewesen? Und Thoma? Wedekind? Lena Christ wohl eher nicht. Feuchtwanger? Der junge Brecht auf jeden Fall. Oder? Die Definitionen scheinen zu allgemein zu sein, um diese Autorin und jenen Autor klar und deutlich der »Avantgarde« zurechnen zu können. Was dann?

Da dies keine literaturwissenschaftliche Abhandlung werden soll, überlassen wir die Antwort den Fachgelehrten und wenden uns lieber einem einzigen, ziemlich bekannten Text der bayerischen Literatur zu, der 1962 entstandenen Erzählung Avantgarde von Marieluise Fleißer. Warum eigentlich dieser Titel?

Ja, wenn man das so genau wüsste! »Der Titel ist insofern irreführend, als der Text nicht nur eine Brecht-Geschichte ist«, schreibt Moray McGowan. Denn die Darstellung von Cilly Ostermeiers Verhältnis zur Gegenfigur, dem Nicki, nehme ungefähr ein Drittel des Textes ein. Dann wären es die anderen zwei Drittel, in denen die Autorin nach eigener Aussage ein »intuitives Erfassen der Persönlichkeit« des jungen Avantgarde-Dichters Bertolt Brecht versucht hat, die den Titel rechtfertigen? In der Hauptfigur Cilly habe sie ihre eigene Persönlichkeit und deren Beziehung zum »Dichter« mit den Erlebnissen der Brecht-Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann verschmolzen, sagt Marieluise Fleißer und baut damit allen direkt biografischen Lesarten vor. Curt Hohoff erklärt den Titel so: »›Avantgarde‹ meint das Erlebnis einer jungen Dichterin mit einem avantgardistischen Dramatiker«. An diesem traumatischen Erlebnis jedoch war nichts Avantgardistisches, und wenn doch, dann war es inhuman und kalt. Die oft zitierten »Fröste der Freiheit« sind die Signatur des ungleichen Verhältnisses zwischen Cilly und dem aufstrebenden Theater-Avantgardisten. »Sie hätte sich widersetzen müssen, dafür war sie zu jung. Sie grenzte sich noch nicht ab ... Sie machte sich besser nichts vor, ohne ihn war sie gar nichts«. Zu Cillys fast totaler Abhängigkeit vom »Dichter« kommt die existenzielle Zerrissenheit zwischen der heimischen Klein-­ und der fremden Hauptstadt. »Sie war selber schuld, sie hatte es nicht anders gewollt, sie war doch kein Bürger. Das war aber hart, kein Bürger zu sein. Es wurde nachgerade unmenschlich«. In der mit der Vorstellung von einem Leben als Künstlerin eng verbundenen Freiheit, die Cilly Ostermeier und sicher auch Marieluise Fleißer gesucht hatten, war »etwas Mörderisches«, und tatsächlich schlug das »Dunkel«, wie es im Text weiter heißt, »über ihr zusammen«, und »am liebsten löschte sie sich aus«. Das tat sie zwar nicht, doch die einzige Alternative, ein prosaisches Dahinleben mit dem kleingeistigen Nicki, war natürlich keine.

Es liegt nahe, Avantgarde als erzähltes Psychodrama zu lesen. Als Drama des Aufeinanderprallens von (Klein-)Bürgerlichem und Künstlerischem oder als Literatur gewordenen Aufschrei einer verzweifelten Frau. Man kann den Text über Inhaltliches hinaus auch mit einigem Recht als ein stilistisch der Moderne des 20. Jahrhunderts zugehöriges Sprachkunstwerk begreifen, und von daher wäre sein Titel noch am ehesten plausibel. Noch einmal Curt Hohoff: »Marieluise Fleißers Erzählungen kamen aus der Berührung mit der Avantgarde jener Zeit, aber sie sind neben, unter oder über der literarischen Moderne zuhause«. Was ist mit »neben, unter oder über« genauer gemeint? Das literarische Werk der großen bayerischen Dichterin, das in eigentlich jeder Hinsicht zur Moderne gehört, lässt sich gewiss nicht bruchlos der Literatur- und Kunstgeschichte der Avantgarde zuschlagen. Schon gar nicht der Avantgarde der 1960er-Jahre. Auf »Berührung« und »Moderne« wird man sich vielleicht einigen können. Auf »Avantgarde« wohl eher nicht.

 

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974 (es 727).

Marieluise Fleißer: Avantgarde. In: Gesammelte Werke. Dritter Band. Gesammelte Erzählungen, hg. von Günther Rühle, Frankfurt am Main 1983 (2. Aufl.), S. 117-168.

Curt Hohoff: Die Geschichten der Marieluise Fleißer (Süddeutsche Zeitung, 9./10. November 1963). In: Günther Rühle (Hg.): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, Frankfurt am Main 1973 (es 594), S. 318-322.

Moray McGowan: Marieluise Fleißer, München 1987 (BsR 601 Autorenbücher), S. 65-71.

Günther und Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 1990 (2. Aufl.), S. 36.

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