Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (16). Bei der Abschlusslesung am Ende einer Romanwerkstatt

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sechs Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.

In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?

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16

Das ist kein Bühnenbild.

Ich sitze hinten an der Wand, weil es mir zwischen den anderen Gästen zu eng geworden ist, ich mich hinten an die Wand gelehnt habe, um für mich zu sein, beim Zuhören, beim Denken, als der Stuhl kommt. Als ein Techniker mir diesen Stuhl bringt. Den Sie nicht sehen. Dann sitze ich da. Und ich habe diesen Blick.

Und ich höre zu.

Was Sie auch nicht sehen: Ich höre den jungen Autorinnen und Autoren der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus zu. Es ist ihre Abschlusslesung am Ende einer Romanwerkstatt, in der ich gestern zu Gast war, um mit ihnen übers Überarbeiten von Texten zu sprechen. Um mit ihnen etwas zu teilen, was sich angesammelt hat an Schreib-Erfahrung nach den sieben Büchern, die mich immer wieder selbst überraschen. Ich habe sieben Bücher geschrieben. Das glaube ich dann fast nicht. Aber es ist schon wahr. Doch darum soll es nicht gehen jetzt.

Ich sitze also im Foyer des Literaturhauses in München hinten an der Wand und zu meiner Rechten steht eine Bühne, die Sie jetzt auch nicht sehen können, es stehen Stuhlreihen vor der Bühne, besetzt mit hauptsächlich jungen Menschen und Edgar Selge, dem Schauspieler, der sich sehr für Texte junger Autor*innen interessiert, und den sie jetzt auch nicht sehen können, aber wenn Sie wissen, wer Edgar Selge ist, dann können Sie sich vorstellen, wie dieser zarte ältere Mann mit dem kantigen Gesicht aufmerksam zwischen den Zuhörern und Zuhörerinnen sitzt, und ich sitze am Rand; absichtlich, und in mein Ohr dringen nacheinander die Lesungen von neun Autorinnen und Autoren; Ausschnitte aus Romanen, in denen das Oktoberfest oder ein Campingplatz auf Korsika, eine Landschaft im Osten der Republik oder das Faltengebirge an der Grenze zu Italien, die Räume einer österreichischen Firma Orte sind, an denen Figuren zu Menschen werden, während vor meinem Auge die Nacht kommt, die Theatinerkirche und in der Ferne die St.-Lukas-Kirche in der Thierschstraße in blaues Licht getaucht werden.

Und obwohl es kein Bühnenbild ist, wirkt dieses Leuchten der Türme in der Dämmerung hinein in den Raum, wirkt diese Kulisse hinein in das, was ich höre, wirkt das ganz sicher auf alle Zuhörer*innen und auf Edgar Selge auch. Was es in ihm und in den anderen bewirkt, weiß ich nicht, aber bei mir führt diese Kulisse immer dazu, dass mein Körper sich beruhigt, dass ich mich fokussiere, dass ich nur noch da bin, wo ich bin, in diesem Literaturhaus-Foyer eben, und nur noch das höre, was mir dort vorgetragen wird, und es ist, als ob sich über die Kulisse eine andere legt, die legt, die in den Texten der Ort der Figuren ist, die darin vorkommen. Draußen und drinnen und ein Text gehen eine schillernde und luzide Verbindung ein.

Und vielleicht ist es eine Sache, die Literatur kann, wenn sie stark ist: Sie schafft eine neue Welt in der Welt. Ein Viehtransporter fährt vor, Kühe gehen durchs Literaturhaus, eine Wölfin mit spektakulärem Namen INDIVIDUUM GW267F, ein Eistänzer, der eine zu große Nachricht bekommt, um sie überhaupt zu verstehen. Sie alle kommen plötzlich zusammen, nur zum Beispiel.

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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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