Sandra Hoffmann ist: DRINNEN (17). Und mag gemeinsame abendliche Rituale

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sechs Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlichte sie von 2021 bis 2022 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium. 2022 erhielt sie vom Freistaat Bayern das Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst.

In den kommenden 52 Wochen schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern wieder eine Kolumne: DRINNEN. Momentaufnahmen aus dem (halb)privaten Leben. Anders als Natur-Räume ermöglichen uns Innenräume, wenn es nicht gerade öffentliche Räume sind, nur einen privaten Blick. Wir sehen dort hinein, wo wir Einlass bekommen, oder wir uns den Einlass erkaufen, wie etwa in Museen, Zügen, Hotels. Es geht um Wahrnehmung. Diesmal aber von Orten, von Menschen, Begegnungen, Situationen. Immer mit der für Literatur relevanten Frage: Wie spiegelt sich im Kleinen oder im Privaten auch das große Ganze, die Welt. Wer sind wir im (anscheinend so) Geborgenen?

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17

Das sind wir in neuem Licht. Abends in einem Hotel in Leipzig auf der Buchmesse.

Wir waren genug unter Menschen, wir haben genügend gesprochen.

Jetzt lesen wir Zeitung. Auf dem Telefon.

Wir sind ein Paar. Seit mehr als zwölf Jahren, und seit etwa zehn Jahren leben wir zusammen.

Ich weiß nicht, wie das bei anderen Paaren ist, aber ich vermute, auch bei ihnen ist das so, dass sie Rituale haben, oder dass sie Rituale entwickeln im Zusammensein.

Es war nicht von Anfang an so, dass wir am Abend beide noch Zeitung lasen, oder auf unserem Telefon Zeitung lasen, und es ist auch nicht täglich so, aber nach einem Tag, an dem einer von uns viel gearbeitet hat und wir beide zuhause sind, ist das so. Wir wollen nicht mehr sprechen. Aber wir wollen zusammen sein. Wir sitzen im selben Zimmer, manchmal einer im Sessel, die andere auf dem Sofa, manchmal auch beide auf dem Sofa, die Beine oder Füße berühren sich, und so lesen wir.

Manchmal schaut einer auf und sagt: Hast Du schon dies oder das gelesen, hier oder dort. Ich habe ein digitales Zeitabo, mein Mann hat ein digitales SZ-Abo und ein Spiegel-Abo. Den Spiegel lese ich eigentlich nie.

Wir lesen auf unterschiedliche Weise Zeitung, ich lese kommunikativer. Ich weiß nicht, ob das geschlechtertypisch ist. Ich mag dieses Gemeinsame-die-Welt-lesen. Es ist anders als gemeinsam im Bett liegen und noch in einem Buch lesen. Wenn ich in einem Buch lese, bin ich vollkommen bei mir. Wenn ich die Zeitung lese und dabei auf einen Artikel stoße, den ich bemerkenswert finde, möchte ich das sofort teilen.

An diesem Abend im Hotel haben wir noch zwei kleine Bier aus dem Automaten gelassen und dann saßen wir da in diesem gelben Licht, lesend und irgendwann haben ich uns in einem Spiegel bemerkt und uns darin gemocht, so wie wir da saßen. Und zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass ich uns mag in diesem Abend-Ritual, das wir so pflegen, wie das gemeinsame Teetrinken am Morgen.

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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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