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01.02.2023, 19:22 Uhr
Bernhard M. Baron
Text & Debatte
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Foto: Reinhold Willfurth

Anmerkungen zum neuen Literarischen Reiseführer Galizien

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa engagiert sich für die Vermittlung deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Dabei sind Regionen im Blick, in denen Deutsche gelebt haben oder bis heute leben. Das Kulturerbe jener Gebiete verbindet Deutschland mit seinen Nachbarn. Dies soll einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht werden – im Dialog und in zukunftsorientierter Zusammenarbeit mit Partnern aus dem östlichen Europa. In der „Potsdamer Bibliothek östliches Europa“ erscheinen Sachbücher, Bildbände und Kulturreiseführer. In diesen Tagen erschien der neue Literarische Reiseführer Galizien. Unterwegs in Polen und der Ukraine, worin sich auch einige Bezüge finden, die gleichsam eine geistige Brücke zwischen dem historischen Galizien und Bayern bilden.

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„Vier Sprachen verständigen sich ...“
(Rose Ausländer, Czernowitz vor dem Zweiten Weltkrieg)

 

Und wieder einmal wird sich der interessierte Literaturfreund erstaunt fragen: „Was hat der neue Literarische Reiseführer Galizien hier im Literaturportal Bayern oder mit einer Literatur in Bayern zu tun?“ Auch hier steht am Anfang der kulturellen Beziehungen die 1174 in Andechs geborene Herzogin Hedwig, später „die Heilige Hedwig“ genannt und nach ihrem Tod 1243 in Breslau sowohl von Polen als auch von Deutschen („Patronin Schlesiens“) verehrt. Und welcher bayerische Heimatkundige war noch nicht Gast beim folkloristischen Spektakel der Landshuter Fürstenhochzeit 1475? Sie erinnert alle vier Jahre an die Hochzeit des Herzogs Georg dem Reichen von Bayern-Landshut mit Jadwiga „Hedwig“ Jagiellonica, Tochter des polnischen Königs Kasimir IV. Andreas von Krakau. Erwähnenswert an dieser Stelle sei auch die Ausstellung „Bayern und Polen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schlaglichter auf eine wertvolle Beziehung“ der Staatlichen Archive Bayerns von 2020.

Wohl inspiriert durch die intellektuellen Größen Galiziens wie Rose Ausländer, Gregor von Rezzori (der im hier genannten Literaturführer leider fehlt!), Paul Celan oder Joseph Roth haben immer auch deutsche Schriftsteller und Dichter die Wege von Krakau nach Galizien gekreuzt: sei es zu Weltkriegszeiten als Wehrmachtssoldat wie Hans Werner Richter; später Alfred Döblin und Maxim Biller (Im Kopf von Bruno Schulz); in ständigen Reiseintervallen August Scholtis (Reise nach Polen), Stefan Wackwitz (Osterweiterung), den Regensburger Matthias Kneip (Reise in Ostpolen) oder die am Starnberger See lebende Autorin und Filmemacherin Monika Czernin (Der Kaiser reist ingocito). Ja, den noch 1944 in Breslau geborenen und in Franken aufgewachsenen Michael Zeller (Die Kastanien von Charkiw) hat es sogar ganz nach Krakau gezogen, in dem sich schon Hans Dürer, Peter Vischer und Veit Stoß künstlerisch heimisch fühlten und dort anerkannt und geschätzt wurden. Im Sommer 2021 war die Mannheimer Journalistin Ira Peter noch Stadtschreiberin des Deutschen Kulturforums Potsdam in der ukrainischen Schwarzmeermetropole Odessa.

Wer den Literarischen Reiseführer Galizien in die Hand nimmt, spürt gleich, dass es sich hier um einen besonderen Reiseführer handelt, der die Leserin/den Leser vom polnischen Krakau über Tarnow bis nach Brody sowie von der ukrainischen und ehemaligen k. u. k. Landeshauptstadt Lemberg über Drohobytsch, Stanislau/Iwano-Frankiwsk und Boryslau bis nach Zakopane führt. Der Autor Marcin Wiatr, gebürtiger Gleiwitzer wie Horst Bienek, ist Bildungsforscher, Historiker, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und arbeitet im Leibniz-Institut für Bildungsmedien/Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Den Literaturkennern ist er durch seinen 2016 erschienenen Literarischen Reiseführer Oberschlesien bekannt. Seine Leserschaft führt er wie den ins ostgalizische Grenzstädtchen Brody versetzten k. u. k. Leutnant Carl Joseph Trotta aus Joseph Roths Radetzkymarsch in das nordöstlichste Ende der Donaumonarchie.

Auch wenn es das supranationale Gebilde namens „Habsburgermonarchie“ – zu dem das sog. „Kronland“ Galizien zwischen 1772 und 1918 gehörte – nicht mehr gibt, lebt die kulturgeschichtlich beachtliche Region Galizien mit auf Polnisch, Deutsch, Ukrainisch, Jiddisch und Russisch verfassten Werken fort in unserer Literatur in einer breiten illustren Phalanx, zu der u.a. Leopold von Sacher-Masoch, Iwan Franko, Jozef Wittlin, Zygmunt Haupt und Isaak Babel gehören. Von den zahlreichen zeitgenössischen einheimischen Autorinnen und Autoren seien nur erwähnt: Olga Tokarczuk, Tanja Maljartschuk, Ziemowit Szecerek oder Natalka Sniadanko. Eine geistige Fülle, die bis zur 1970 in Kiew geborenen Katja Petrowskaja reicht, welche mit Vielleicht Esther den Hauptpreis des Ingeborg-Bachmann-Preises 2013 gewann.

Die jüdische Bevölkerungsminderheit auf dem ukrainischen Territorium verfügt seit Jahrhunderten über reiche Erfahrungen von Grenzerkundungen. Schon 2017 befasste sich die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder unter dem Titel Blondzhende Stern (als Buch 2020) ebenfalls mit der Thematik von jüdischen Schriftstellerinnen aus der Ukraine als Grenzgängerinnen zwischen den Kulturen in West und Ost. Sie fokussierten zwar das 20. Jahrhundert als das „goldene“ Zeitalter der jüdischen Kultur, zugleich ging das 20. Jahrhundert aber als „aschgraues“ Zeitalter des Massenmordes an den europäischen Juden in die Kulturgeschichte ein. Als „wandernde Sterne“ ließen sich jüdische Schriftstellerinnen in Wien, Paris, Jerusalem, Moskau, Berlin, Bukarest, Petersburg und anderen Kulturzentren der Welt nieder und leuchteten weiter an den Horizonten vieler Kulturen.

1966 verfasste Julian Stryjkowski den Roman Austeria mit der galizischen Untergangsstimmung im Ersten Weltkrieg angesichts des Vorrückens der russischen Armee. Wie konnte dieser Schriftsteller aus Ostgalizien ahnen, dass seit 2014 wieder im Osten seines Heimatlandes ein russischer Vernichtungskrieg begonnen hat, dessen Schlussphase noch nicht abgeschlossen ist – „aber es half der einheimischen Bevölkerung, verstärkt und unmittelbar die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa und damit zum westlichen Kulturkreis zu untermauern“, so Marcin Wiatr.

Der neue Literarische Reiseführer Galizien ist wieder eine einzigartige breitgefächerte Informationsquelle für Leser, Literaturvermittler, Journalisten, Touristiker, Buchhändler und Bibliothekare. Die beachtliche Reihe der sog. „Literaturführer“ des Deutschen Kulturforums östliches Europa (Berlin-Potsdam) besitzt – auch durch die weitsichtige stellvertretende Direktorin dieses rührigen humanistischen Kulturinstituts, Tanja Krombach – einen hohen lobenswerten Standard. Allein schon die bibliophile Ausstattung dieses Kompendiums mit umfangreichem Infomaterial, wie Illustrationen, Fotos, Stadtplänen und Landkarten, aber auch die breite Einbeziehung von Baukunst, Industrie, Landschaft, historischen Grenzverläufen und Kurzbiographien von Schriftstellern sowie ein erklärendes Orts- und Personenregister machen diesen literarischen Reiseführer zu einem bleibenden Vademecum durch ein vielfältiges Kulturland.

Fazit: Marcin Wiatr ruft ins Bewusstsein, dass der „Schmelztiegel“ Galizien historische Lektionen bereithält, die uns alle in Europa angehen und mit dem Filmregisseur Billy Wilder und Pop Art-Künstler Andy Warhol sogar „einen amerikanischen Galizien-Mythos“ ausstrahlen. An der manchmal schon halbvergessenen Literaturlandschaft Galizien führt somit kein Weg mehr vorbei.

 

Marcin Wiatr: Literarischer Reiseführer Galizien. Unterwegs in Polen und der Ukraine. Mit zahlr. Farb- und S/W-Abb., Zeittafel, ausführl. Register und mehrsprachigen Karten, Integralbroschur mit Lesebändchen (Potsdamer Bibliothek östliches Europa – Kulturfahrten), Potsdam 2022, 476 S.

Sekundärliteratur:

Adam, Winfried (1998): „Die Welt von Vorgestern“. Heimat Galizien in der deutschen Exil-Literatur (Regensburger Skripten zur Literaturwissenschaft, Bd. 10). Regensburg.

Aubele, Katharina (2020): Bayern und Polen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schlaglichter auf eine wertvolle Beziehung. Eine Ausstellung der Bayerischen Archivschule (Kleine Ausstellungen Nr. 60). München.

Gauss, Karl-Markus (1992): Das reiche Land der armen Leute. Literarische Wanderungen durch Galizien. Wien.

Herzberg-Fränkel, Leo (1898): Die Juden. In: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Galizien/Wien, S. 475-500.

Kermani, Navid (2018): Entlang der Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. München.

Neborak, Wiktor (2008): Etwas Lemberger Mythologie. Aus dem Ukrainischen v. Alis Woldan. In: Europa erlesen. Lemberg/Klagenfurt, S. 101-105.

Philipp, Hannes; Stangl, Theresa; Wellner, Johann (2021): Deutsch in der Ukraine, Geschichte, Gegenwart und zukünftige Potentiale (Forschungen zur deutschen Sprache in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Bd. 10). Regensburg.

Pollak, Martin (2016): Galizien: Eine Reise in die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. 9. Aufl. Berlin.

Schlögel, Karl (2017): Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. München.

Trost, Ernst (1966): Dass blieb vom Doppeladler. Auf den Spuren der versunkenen Donaumonarchie. Wien/München.

Wackwitz, Stefan (2008): Osterweiterung. Zwölf Reisen. Frankfurt am Main.

Wiatr, Marcin (2022): Europäische Lektionen. An der Literatur- und Kulturlandschaft Galizien führt kein Weg mehr vorbei. In: Blickwechsel. Magazin für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa 10, S. 17-19.

Zöckler, Theodor (1915): Das Deutschtum in Galizien. Bd. 2 der Gesamtdarstellung: Das Deutschtum im Auslande in Einzeldarstellungen. Weimar.

Externe Links:

Deutsches Kulturforum östliches Europa (Potsdam-Berlin)

Galizien in der Wikipedia

Das jüdische Schtetl in der Wikipedia

Ukrainische Literatur in der Wikipedia

Rat der Deutschen der Ukraine in der Wikipedia

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