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17.01.2022, 18:28 Uhr
Stefan Wirner
Text & Debatte

In memoriam Herbert Achternbusch (1938-2022). Ein Oberpfälzer Abschiedsgruß von Stefan Wirner

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Herbert Achternbusch, Buchendorf 1976. Foto: Barbara Gass. (Bayerische Staatsbibliothek/Porträtsammlung)

Vorige Woche ist der Schriftsteller, Maler und Regisseur Herbert Achternbusch gestorben. Ein Oberpfälzer Abschiedsgruß von Stefan Wirner.

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Es war irgendwann im Frühjahr 1982, als ein Schulfreund überraschend zu mir sagte: „Am Dienstag läuft im Filmclub Achternbusch, da müssen wir hin.“ Der Filmclub war damals eine Institution in Weiden. Jeden Dienstagabend gab es in einem der örtlichen Kinos die Möglichkeit, etwas andersartige Filme zu sehen. Wer sich für Truffaut, Godard, Tarkowski oder Fassbinder interessierte, hatte in der Gegend keine andere Möglichkeit. Von Achternbusch aber hatte ich noch nichts gehört. Schon der Name klang ziemlich skurril, und noch skurriler der Film: Der Neger Erwin. (Ein Titel, der heute undenkbar ist.) Ich war völlig verblüfft, als ich diesen Achternbusch dann sah, wie er aus der Münchner U-Bahn kam, ungekochte Eier aus einer Tüte holte, sie in seinen Hosentaschen verstaute und minutenlang darüber philosophierte. Das Absurde dieses Films sprach uns sofort an. Das war genau unser Humor, unsere Weltsicht, plötzlich auf großer Leinwand.

Am Tag darauf hatten wir nach der Schule nichts Besonderes vor, wie es halt manchmal so ist in der Provinz. Wir wollten irgendwo in der Gegend herumtrampen, einfach um etwas Anderes zu sehen als dieses ewiggleiche Weiden. Vorher aber schauten wir in eine Buchhandlung, weil wir wussten, dass Achternbusch auch Bücher schrieb. Ich kaufte Die Stunde des Todes. Und ahnte nicht, welche Folgen dieser Kauf für mein Leben haben sollte. Kurz darauf standen wir an einer Landstraße, streckten die Daumen in den Wind und lasen uns beim Warten Achternbusch vor. Es waren vor allem einzelne Sätze, die uns in ihren Bann zogen: „Das Unrecht stinkt, wo es kann.“ Oder: „Ein Mensch ist stärker als ein sterbender Fluß. Ein Mensch überwindet die Betonhöllen [...] Ein Mensch hat seine Überlebenschance angenommen.“ Keine Frage, hier ging es um alles, was uns beschäftigte: ums Überleben in dieser seltsamen, ungerechten Welt. „Solange es hohe Berge gibt, glaube ich an keine Gerechtigkeit.“ Wir auch nicht.

Wir fühlten uns bald innig verbunden mit Achternbusch. Da zog es einer vor, ein Bild zu malen, statt für die Schule zu lernen, da wetterte einer gegen die Kirche und den Staat und machte dabei noch die Polizei lächerlich, da träumte sich einer hinaus nach Grönland, an den Nil oder zum Vesuv und kam doch (wenn auch in München geboren) wie wir als Oberpfälzer aus einer bayerischen Provinz, nämlich aus Mietraching am Rande des Bayerischen Walds. Wie kein anderer sprach er von diesem Dasein abseits der großen Welt, wie kein anderer stieß er vor in das Zentrum der bayerischen Wirklichkeit zwischen sonntäglichem Schweinebraten, Bier, Kirche und CSU. Er formulierte, welchen Fluch es bedeutete, hier geboren zu sein, und setzte ihm einen Trotz entgegen, der uns Mut machte: „Diese Gegend hat mich kaputt gemacht und ich bleibe solange, bis man ihr das anmerkt.“

Blasphemie! Blasphemie! Der Filmskandal

Als dann aber 1983 der Film Das Gespenst erschien, war es erstmal vorbei mit Achternbusch-Vorführungen im Filmclub. Der Streifen, der auf surreale, groteske Weise die Jesus-Geschichte in Szene setzt (mit Herbert Achternbusch in der Hauptrolle, mit Annamirl Bierbichler, Josef Bierbichler, Kurt Raab und Gabi Geist), wurde zum Politikum. Der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) verweigerte Achternbusch eine zugesagte Filmförderrate, weil der Film „das religiöse Empfinden großer Teile der Bevölkerung“ verletze. Blasphemie, Blasphemie! In Österreich und der Schweiz kam es zur Beschlagnahmung von Filmrollen. (In Österreich ist der Film bis heute verboten.) Als wir damals den Besitzer des Weidner Kinos fragten, ob er noch mal Achternbusch im Filmclub zeigen würde, sagte er: „Achternbusch? Da zeige ich lieber einen Porno!“ Der Kinobesitzer und die anderen Saubermänner hatten den Film wohl nur zu gut verstanden. Hieß es doch darin: „Dieses Kreuz ist keine Sicherheit. Dieses Kreuz ist eine Frage.“

Freilich machte all das Achternbusch in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt. Zahlreiche Filme und Bücher folgten auf die bisherigen zahlreichen Filme und Bücher, hier war ein Besessener am Werk, der einfach alles machte, auch noch Theaterstücke schrieb und Bilder malte, und über die Jahre hinweg wurde der zuerst Verfemte, dessen Bücher als unlesbar galten, zu einer kulturellen Größe in Bayern. Ausgerechnet er, der „Wirtshaus-Denker“ (Die Welt), der „Bierdimpfl-Satiriker“ (Abendzeitung), der „Burroughs der weißblauen Droge (Süddeutsche Zeitung, Zitate aus den 80ern). Einige seiner poetischen Sätze sind inzwischen Sprichwörter geworden, wobei er wahrscheinlich gerade den am häufigsten zitierten Spruch „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ geklaut (oder sagen wir geliehen) hat, nämlich von der Studentenbewegung Ende der 60er-Jahre. Hierauf hat mich mein Magistervater Gerhard Bauer, Kenner und Liebhaber bayerischer Literatur und damals Professor an der Freien Universität Berlin, einmal hingewiesen.

Im Achternbusch-Universum

Ja, mich hatte es nach Berlin verschlagen, aber meine Magisterarbeit schrieb ich über Achternbusch. Diese Gestalt ließ mich einfach nicht los, und je intensiver ich mich mit ihm beschäftigte, umso mehr erkannte ich, dass es bei ihm nicht nur um Bayern ging, sondern dass gerade auch die Gegenbilder von großer Bedeutung waren, dass er durch die Konfrontation des Bayerischen mit dem Andersartigen, Exotischen Verfremdungseffekte erzielte, die ihn zu weit mehr machten als zu einem Heimatdichter. So enthielt schon sein zweites Buch Das Kamel ein Kapitel „Tibet“. Da war eine Spur, die in eine erweiterte Achternbusch-Welt führte, ich analysierte seinen Hang zu ostasiatischen Kulturen und versuchte zu zeigen, dass bei Achternbusch der Akt des Schreibens der Zen-Meditation ähnelt, dem Zuihitsu, was „dem Pinsel folgen“ bedeutet und die Brücke zwischen dem Maler und dem Schriftsteller Achternbusch darstellt. (Den Tipp, in diese Richtung zu forschen, hatte mir der Oberpfälzer Autor Werner Fritsch gegeben.) Das bekannteste Werk des Zuihitsu ist das Kopfkissenbuch der Hofdame sei Shonagon (von Peter Greenaway in dem Film Die kleine Bettlektüre aufgegriffen). Mich erstaunte die Ähnlichkeit dieser Literatur, die um das Jahr 1000 in Japan entstanden war, mit der Prosa Achternbuschs. Im Zuihitsu gesellen sich essayartige Passagen, Aphorismen und andere Elemente frei zueinander, wie bei Achternbusch fließen kleinste, alltägliche Beobachtungen in das Werk ein und werden poetisiert, in einem radikalen und freundlichen Subjektivismus.

Auf verlorenem Posten. Oder doch nicht?

Im deutschen Kulturleben ging es Anfang der 90er-Jahre um völlig andere Themen. Ich erinnere mich an zwei kurz aufeinanderfolgende Theaterbesuche in Berlin. Zuerst sah ich Germania. Tod in Berlin von Heiner Müller. Das Publikum war begeistert. Hier war was los auf der Bühne, da ging es um Revolution, Aufruhr, Gewalt, Soldaten marschierten auf, ein deutsches Werk der deutschen Geschichte vom hochgelobten DDR-Dramatiker, der im ORB mal gesagt hatte, er könne in jeder Diktatur leben. Wie anders dagegen das Stück von Achternbusch: Auf verlorenem Posten. Hier war wieder diese skurrile Poetik, dieses Albern-Absurde, dieses Abseitige, hier deutschtümelte niemand herum, vielmehr ging es um die Menschen im rumänischen Temeswar, wo 1989 die Revolution gegen die kommunistische Diktatur Nicolae Ceaușescus begonnen hatte und Armee und Securitate ein Massaker verübt hatten. Im Theatersaal war das Missfallen des Publikums zu spüren, das schien alles zu absurd, zu unverständlich, zu weit weg vom plötzlich so wichtigen Deutschland. Am Ende des Stücks gab es keinen Applaus, eher ein Grummeln, im wiederauferstandenen Berlin war Achternbusch auf verlorenem Posten. Mir aber gefiel genau das. Unvergessen nach wie vor die wunderbare Irm Herrmann, die in der Aufführung „das Glück“ spielte.

„Glück ist nur einen Atemzug vom Leben entfernt, aber du weißt nie, sollst du als nächstes ein- oder ausatmen, damit du es hast.“ Auch so ein poetischer Satz von Herbert Achternbusch. Ohne Zweifel hatte er selbst großes Glück, dass er als zutiefst subjektiver Künstler seine Vorstellungen von Kunst über lange Jahre hinweg derart frei verwirklichen konnte. Wenn heute jemand einfach so in die Rolle eines Komantschen schlüpfen würde wie er in einem seiner Filme, dann müsste er mit einem harten Urteil vor dem Strafgerichtshof der Postcolonial Studies rechnen wegen „kultureller Aneignung“. Die meisten seiner Bücher wären heute nur noch schwer vorstellbar als Suhrkamp-Veröffentlichungen. Eine derart kompromisslose, experimentelle, eruptive Literatur spielt im heutigen auf formale Konventionalität und heitere Seichtigkeit bedachten Literaturbetrieb und in Zeiten der „Parlamentspoesie“ keine Rolle mehr. Achternbuschs letzte Bücher erschienen denn auch weithin unbemerkt in der kleinen, sehr feinen „Bibliothek der Provinz“ in Österreich.

Und dennoch: Achternbusch wurde zeitlebens mit vielen Preisen und Ehrungen bedacht, er ist dann doch zum Aushängeschild weiß-blauer Kultur geworden, und in den Nachrufen wird er eingereiht in die Gilde bayerischer Literatur-Denkmäler wie Oskar Maria Graf oder Marieluise Fleißer, die auch viel gelobt, aber kaum noch gelesen werden. Durchaus erstaunlich aber war es, dass die ARD-Tagesschau am Abend, als Achternbuschs Tod bekannt geworden war, einen kurzen Ausschnitt aus Das Gespenst zeigte. Und wer kennt noch Friedrich Zimmermann?

Die Oberpfalz sagt Servus

Für uns Oberpfälzer Komplizen aber, die Achternbusch so sehr geschätzt haben, war es ein zutiefst trauriger Abend. Denn für uns ist nicht nur ein bekannter Künstler gestorben. Es fühlt sich an, als hätte man einen engen Freund verloren, mit dem man früher auf dem Moped durch die Gegend gebraust ist, mit dem man geraucht und Bier getrunken hat, der denselben bescheuerten Humor hatte und sich über den Zustand der Welt so aufregte wie wir. Auch wenn man lange nichts mehr von Achternbusch gehört hatte, irgendwie war er immer da. Nun hat sich diese Lücke aufgetan. Eine eigensinnige, unangepasste und vertraute Stimme fehlt.

In all der Trauer aber bleibt die Gewissheit: Wir werden Herbert Achternbusch wiedersehen. Und zwar im Himmlischen Biergarten. Dort sitzt er jetzt, in einer weißen, sommerlichen Leinenjacke, mit breitkrempigem Hut, ein Weißbier vor sich auf dem Tisch, Schaum an der Backe. Vielleicht übt er gerade das Klatschen mit einer Hand oder schreibt einen seiner wunderbaren Sätze auf: „Heuer hab ich für den Sommer überhaupt kein Gefühl mehr.“ Servus, Herbert Achternbusch!