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Eine Vorschau auf Barbara Bronnens Autobiografie

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(c) privat/Arche Verlag

Die 135. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Lebensläufe in Bayern. Im folgenden Beitrag beschäftigt sich die Münchner Künstlerin und Autorin Brigitta Rambeck mit der Schriftstellerin Barbara Bronnen und deren Autobiografie, aus der wir vorab einen Auszug publizieren. Brigitta Rambeck leitet seit Jahren den literarischen Seerosenkreis in München.

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Barbara Bronnen, geboren 1938 in Berlin, aufgewachsen in Österreich, studierte Germanistik und Philosophie in München, wo sie 1962 über Fritz von Herzmanovsky-Orlando promovierte und im Anschluss daran als Lektorin, Journalistin und Sachbuchautorin arbeitete. München, insbesondere Schwabing, ist ihr rasch zur Heimat geworden. Alle einschlägigen Literaturpreise – vom Tukan- über den Ernst-Hofrichter- bis zum Schwabinger Kunstpreis sind ihr inzwischen zuerkannt worden.

Von früher Kindheit an hat sich Barbara Bronnen mit den Manuskripten ihres Vaters, des berühmten, wenn auch umstrittenen Autors Arnolt Bronnen, auseinandergesetzt. Schreiben erscheint ihr von Anfang an als ebenso erstrebenswerter wie schwieriger Beruf. Erst mit knapp 40 Jahren begann sie sich selbstbewusst als freie Schriftstellerin zu definieren. Ihr erster – autobiografischer – Roman Die Tochter (1980) brachte die Entscheidung: „Schreiben ohne den geringsten Vorbehalt. Nur das schreiben, was ich schreiben will."

Inzwischen ist ein umfangreiches Oeuvre entstanden, in dem sich Barbara Bronnen nicht nur – intensiv und kritisch – mit den Schicksalen ihrer Herkunftsfamilie und den historischen und politischen Gegebenheiten ihrer Epoche befasst, sondern auch die eigene Lebensgeschichte nach und nach zum Anlass für Auseinandersetzungen mit dem jeweils zeitbedingt-aktuellen wie auch den grundsätzlichen Problemen der conditio humana nimmt.

Etliche weitere Romane entstanden – u.a. Die Diebin, Die Briefstellerin, Die Überzählige, Liebe um Liebe, Leas siebter Brief, Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden, Am Ende ein Anfang, Liebe bis in den Tod –, die sich zuletzt schwerpunktmäßig der Problematik der späten Jahre widmeten: schonungslos, aber auch mit teils liebevollem Humor.

Daneben veröffentlichte Barbara Bronnen Aktuell-Dokumentarisches (Wie mein Kind mich bekommen hat, Mütter ohne Männer), Biographisches (Karl Valentin und Liesl Karlstadt) sowie eine Reihe themenbezogener Essay-Bände (Die Stadt der Tagebücher, Friedhöfe – warum ich für mein Leben gern auf Friedhöfe gehe) und zahlreiche Anthologien (Geschichten vom Überleben – Frauen-Tagebücher aus der NS-Zeit).

In ihrem vielleicht bekanntesten Roman Das Monokel umkreist Barbara Bronnen einmal mehr anhand der ebenso problematischen wie exemplarischen Biografie ihres Vaters einige Grundfragen unserer Zeit – und ihrer eigenen Lebensgeschichte, die sie in einem Interview auf den Punkt brachte: 1) „Wie geht meine, wie eine jüngere und noch jüngere Generation mit den Folgen unserer Geschichte um?" 2) „Wie erfährt ein junger, von Kapitalismus und Kaltem Krieg geprägter Mensch wie ich einen sozialistischen Staat?"

Noch deutlicher als in ihren früheren Büchern kommt in diesem Roman auch das ihr eigene Stilprinzip zum Tragen: sorgfältig recherchierte Fakten aufzubereiten in einem fiktionalen Rahmen, und so auch einer jüngeren Generation in lesbarer Form zu vermitteln, „dass Geschichte etwas Lebendiges ist, etwas, das wir machen oder erleiden".

 

Selbsterforschung

Seit einiger Zeit ist Barbara Bronnen nun mit der Zusammenstellung ihrer eigenen Biografie befasst. Schwere Krankheit hat mehrfach die Arbeit erschwert, ja unterbrochen. Doch sie gibt nicht auf. Das Schreiben hält sie in Atem, am Leben. „Es ist unerklärlich und wunderbar – solange ich schreibe, bin ich glücklich und fühle mich kraftvoll und gesund. Erfüllte Tage", heißt es in dem inzwischen fast fertigen Manuskript. „Ich weiß nicht, aus welchem Brunnen ich schöpfe. Der Titel (Mein liebes Leben) übt eine seltsame Wirkung auf mich aus. Er scheint mich fort- und zurückzutragen –  ich wählte ihn, bevor die Krankheit in mein Leben trat … Menschen verstecken sich vor meinem geistigen Auge, Menschen, die zu entdecken und zu beschreiben eine Herausforderung ist."

Aber die Rückschau macht auch eine Einschätzung der eigenen Person möglich. Was dabei entsteht, ist „eine Biografie mit Kulissenwechsel, die transparent macht, wie ein von außen gesehenes Leben einem inneren gegenübersteht, bis sich innere Zwänge und Selbsttäuschung auflösen und einem klaren Selbstbild Platz machen".

 

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Mein liebes Leben

 

Ein Innehalten, das den Abend abwartet,
an dem sich das Gewirr des Tages
in anderem Licht zeigt als mitten im Gewühl


(nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

 

Mein Leben ist ein Buch. Abgegriffen, mit Eselsecken, Anmerkungen, Unterstreichungen. Ich kann darin blättern, vor und zurück. Kann Bilder von meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester, meinem Sohn und meinen Enkelkindern, meinem Mann und meinem Geliebten finden, meinen Freunden und Freundinnen, meine Lehrern, Lektoren, Verlegern. Kann die Seiten wie in einem Daumenkino vorwärts schnellen lassen oder den Rückwärtsgang einlegen. Ich will das Buch für meinen Leser aufschlagen und ihm mit den Mitteln der Sprache so nah wie möglich kommen, will, das er mich sieht und spürt, die er noch nie gesehen hat, umgeben von den Lebensbedingungen, unter denen ich lebe, ohne Rücksicht auf Details, die man von mir nicht erwartet. Was ich schreibe, wird meine Wahrheit sein.

Ich kann in diesem Buch meine erste Italienreise nach der Matura entdecken, per Autostop im LKW mit drei italienischen Maurern nach Vincenza, Venedig, Florenz. Und gleich nach der Rückkehr per Autostop mit einem weißen Amischlitten nach München. Kann die Nachkriegstage in München, erlebt mit meiner kundigen Großmutter, wiedererwecken und sehe uns entgeistert vor den herabgefallenen Löwenköpfen am Siegestor stehen, sehe die paar hundert frierenden Menschen dem Marsch der Militärkapelle an der Feldherrnhalle lauschen, blättere zurück und betrachte die beiden eiskalten Riesenpaläste, Mausoleen der Hitlerepoche am Königsplatz – in einem wurde in meinem Geburtsjahr das Münchner Abkommen unterzeichnet – und üble Bilder überschwemmen meinen Verstand.

Mein Kopf blättert weiter und beruhigt sich beim ersten Blumencorso der wiederaufbauenden Fünfzigerjahre in der Schellingstraße, bei der ersten Tanzstunde in Linz, und regt sich auf, weil alles anders zu werden scheint in den Sechziger Jahren, aber ich weiß nicht, wie, ich tanze nackt mit Franz auf dem Balkon. Das heitere Bild, das eine neu gewonnene Freiheit in einer Zeit demonstriert, in der ich dem Keller der Angepasstheit entfliehe, verschmilzt mit dem düsteren Eindruck, wie ich mit Michael Braun von den Tupamaros in ihrer WG in der Leonrodstraße Parolen gegen die Konsensgesellschaft von mir gebe, und ich zucke zurück, wenn ich meine aggressiven Reden höre in der Achtundsechzigerzeit – in deren Denkweise ich manchmal noch verfalle –, wie ich meine Mutter maßregle im aufbrechenden Generationenkonflikt.

Ich bin mittendrin, und die historische Epoche dieser Jahre mit ihren politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Tendenzen hat manche Geste, Worte, Gedanken, Entscheidungen von mir geprägt. Meine Kleidung, meine Art, mich in jener Zeit zu schminken demonstrieren meine Besessenheit, die eigene Persönlichkeit auszuleben – sich ausleben ist das Schlüsselwort. Ich empfinde eine Art pubertärer Genugtuung, wenn ich mich autoritär gebärde, und betrachte mich mit einem Anflug von Distanz als Mitläuferin, wobei offenbleibt, wann und inwiefern. Mittendrin stecke ich, und außerhalb in traumhaften Terrain, wenn ich, eine Folge meiner intensiven Beschäftigung, zu Vera Sassulitsch werde, oder, bei meinen Toskana-Forschungen, zur ausschweifenden Gräfin von Castiglione. Mein Beruf lässt zaubrisches Davontreiben in Zweitleben zu.

Ich lasse mich auf Verwegenes ein und marschiere bei Demos mit, brülle Hohohotschimin! und kehre rosig und zufrieden zurück. Ich finde es mit einem Mal so erniedrigend, normal und bürgerlich zu sein, und meine Abenteuerlust motiviert mich, die Schlammstrecke am Siegestor mit täschchenschwingenden Huren zu absolvieren, doch keiner beißt an. Dann springen die Bilder über ins Jahr 1989, ich verrenke mich am 11. November, einen Tag nach dem Mauerfall, wild beim Beat mit meinem in Ostberlin aufgewachsenen Bruder und seiner sturzbesoffenen Motorrad-Gang auf der Glienickerbrücke und heule Rotz und Wasser, weil mich das Ende der DDR so mitnimmt.

Ich verharre andächtig beim zärtlichen Bild meiner Hingegebenheit in den Armen meines Geliebten, spüre das Zittern meiner Hände beim Weiterblättern, vermerke die ersten Risse, die nach seinem Tod in meinem körperlichen Wohlbefinden auftauchen, die ersten Geheimboten zum drohenden Schlaganfall. Mein Blick haftet entrüstet auf meinem Nachttisch, angefüllt mit Medikamenten und ich lausche auf die unheimliche Detonation nach der Stenose eines der Gefäße meines Gehirns und den Knall, mit dem ich zu Boden gehe.

Ich kann mein ungläubiges Gefühl nicht abschütteln, wenn ich mich im Rollstuhl sehe, und ich all die Bewegungen des Lebens, mit drei Jahren bereits beherrscht, aufs Neue lernen muss: Ich über essen ohne zu kleckern, das Atemholen beim Sprechen, weine beim Versuch zu singen und zittere beim dritten Versuch, mit stolzer Verzweiflung aufzustehen und, über den Rollator gekrümmt, die ersten Schritte zu machen.

Seit ich allein lebe, habe ich es mir abgewöhnt, mich mit mir selber zu beschäftigen – mir kann es vor, als hätte ich mich für immer von dieser Leidenschaft der Selbstbetrachtung befreit, die meine Jugend und Pubertät quälte. Altsein, und unverbesserlich ich selbst sein und das noch mit einem Glas Wein vor dem Fernseher – allein die Vorstellung brachte mich in melancholische Stimmung, die ans Selbstmörderische grenzte.

Ich will nicht eine angeknackste Venus sein, von der es heißt, sie hat einmal geliebt. Ich bleibe hartnäckig auf der Suche nach dem geheimnisvollen Kribbeln des Eros, er darf nicht schrumpfen, von mir aus mag er auch metaphysisch sein. Jetzt aber zieht es mich wieder, nicht nur der Wunsch meines Verlegers, sondern auch ein natürlicher Lauf des Lebens, zu meinem Fundament, zu den Fragen nach dem, was über sich selber schweigt, zum Wurzelgeflecht.