Schwabinger Einblicke

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Vor den Occam-Lichtspielen, um 1960 (Monacensia München)

Die Debatte zwischen Avantgarde und Tradition in Kunst, Literatur und Lebensstil fand um 1900 in Schwabing statt, das weit mehr als nur ein geographischer Ort war. Schwabing war Projektionsfläche für Träumer, Rebellen, Weltverbesserer und Grenzgänger. Aus dem ehemaligen Bauerndorf Schwabing entwickelte sich nach der Ein­gemeindung 1890 ein Treffpunkt weltgewandter Künstler aus den unterschiedlichsten Ländern. Junge Kunststudenten kamen nach München, um dort in den weltberühmten Kunstmuseen, an der inter­national renommierten Kunstakademie und in privaten Malschulen wie der von Anton Azbe Malerei und Bildhauerei zu studieren.

Die Stadt war damals eine der angesehensten und maßgeblichsten Kunstmetropolen Europas: Der Wille, die Kunst zur gemeinsamen Sprache zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft zu wählen, machte das „Experiment Schwabing“ im damals nationali­stisch gesinnten Europa so einzigartig. Aus den fremden Zuzüglern wurden rasch Schwabinger Neubürger, die die lokaltypischen Gewohnheiten bald in ihr eigenes Leben integrierten. Der Austausch der Kulturen erwies sich als äußerst produk­tiv und innovativ, die Kunst als gemeinsame Lebensweise wie die strikte Ablehnung bürgerlicher Lebensformen wies den Schwabin­ger Künstlern auf der Suche nach einer neuen Identität den Weg in die Moderne. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Schweizer Maler Paul Klee schuf der Russe Wassily Kandinsky in Schwabing sein erstes abstraktes Bild. Durch die intensive Beschäftigung mit der bäuerlichen Kunst revolutionierte er die Kunst des 20. Jahrhunderts.

Wie seine russischen Freunde Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin sammelte er volkskundliche Schnitzereien und entdeckte in Murnau die volkstümliche Hinterglasmalerei, die er „bayerische Ikonen“ nannte. Beim Künstlerpaar Jawlensky-Werefkin in der Giselastraße weilten die berühmtesten darstellenden Künstler jener Tage, zum Beispiel Anna Pawlowa, Nijinsky oder Eleonora Duse.

Links: Innenhof des Eckhauses an der Kaulbachstraße 63, wo zeitweise Franziska zu Reventlow mit Bogdan von Suchocki und Franz Hessel lebte (Monacensia München). Mitte: Kaiserstraße 31, um 1978 (Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Timpe). Rechts: Das Werneck-Denkmal am Kleinhesseloher See, um 1980 (Monacensia München).

Revolutionierten Kandinsky und andere die Künste, so revolutionier­te Franziska Gräfin zu Reventlow den Lebensstil. Ihre Einstellung zu Erotik und Sexualität sprengte den Rahmen der wilhelminischen Moralvorstellungen. Sie lehnte es ab, sich aus wirtschaftlicher Bequemlichkeit an einen Mann zu binden, pflegte die freie Liebe, ließ sich dafür auch entlohnen, war stolz auf ihr uneheliches Kind und lebte mit mehreren Männern ohne Trauschein in einer Wohnung zusammen. Sie stammte aus alter adliger Familie, der sie aber den Rücken gekehrt hatte, als sie die Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge als unerträglich empfand.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde das Schwabinger Experiment jäh unterbrochen. Ausländische Künstler, die aus so genannten „verfeindeten“ Ländern stammten, mussten als Kriegsgegner sofort das Land verlassen, darunter auch Kandinsky, Jaw­lensky und Marianne von Werefkin. In der Räterepublik 1918/19 gaben zugereiste Schwabinger Literaten wie Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller wieder den Ton an, wurden aber schon bald von russischen Revolutionären wie Eugen Leviné und Max Levien abgelöst. Mit der blutigen Niederschlagung der Räterepub­lik war die Schwabinger Sozialutopie endgültig gescheitert. Viele vom weißen und roten Terror traumatisierte Münchner machten die „Schwabinger Kaffeehausdilettanten“ für das Blutvergießen verantwortlich und sahen sich in ihrem Misstrauen gegen „Ausländer“ bestärkt. Schließlich wurden Sündenböcke gesucht.

Links: Leopoldstraße, um 1970 (Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Fruhstorfer). Mitte: Biergarten am Chinesischen Turm (Monacensia München). Rechts: Gäste in einem Straßencafé, um 1970 (Bayerische Staatsbibliothek, Archiv Fruhstorfer).

Erst in den sechziger Jahren konnte Schwabing wieder an das Lebensgefühl der Jahrhundertwende als Ort der Rebellion und des Aufbruchs anknüpfen. Eine harmlose Musikdarbietung von Straßenmusikern löste im Juni 1962 auf der Leopoldstraße tagelange Kra­walle aus. Fünf Nächte lang lieferten sich tausend Jugendliche mit der Polizei erbitterte Straßenkämpfe. Wenige Jahre später rebellierten junge Leute im Westen Europas und den USA mit Rockmusik und „Flower Power“ gegen die Elterngeneration, so auch in Schwabing. Der eher harmlose Film Zur Sache, Schätzchen von 1968, die sommerlich-heitere Schwabinger Liebesgeschichte eines Aussteigers, hält dieses Lebensgefühl lebendig.

Der Englische Garten, ehedem ein Ort für Spaziergänger und Inspi­ration suchende Literaten wie Friedrich Hebbel, Robert Walser und Rainer Maria Rilke, wurde zum Symbol hur anarchistische Hippies. Bereits 1789, als in Frankreich die Revolution begann, hatte der bayerische Kurfürst Carl Theodor seinen Untertanen zur Erholung und Erbauung einen Volksgarten im Stil der englischen Landschaftsarchitektur mit Apollotempel, Chinesischem Turm und Monopteros geschenkt. Der griechische Säulentempel auf einem kleinen Hügel mit einer einzigartigen Rundsicht auf das angrenzende Schwabing wurde nun zum Treffpunkt der Gammler, wie die aufmüpfigen Jugendlichen in München abschätzig hießen. Am Monopteros wurde geraucht, geliebt, musiziert, getanzt, getrunken, debattiert. Eine Kommune mitten in Schwabing erlangte Kultstatus. Als legen­däre Kommunardin beherbergte Uschi Obermaier aus dem Stadtteil Übersendung in dieser wilden Wohngemeinschaft öfter auch Rockstars wie Mick Jagger. Experimentiert wurde mit allem, was etablier­te Bürger in Angst und Schrecken versetzte: mit Drogen, Esoterik, Musik und Sex. Lebensformen, die noch Franziska zu Reventlow mit ihren Lebensgefährten Franz Hessel und Graf von Suchocki nur unter großen Schwierigkeiten erprobt hatte, wurden lustvoll reakti­viert.

Seit Mitte der siebziger Jahre verblasste der Mythos von Schwabing als Ort der Freizügigkeit, Lebendigkeit und Geistigkeit zunehmend, der einst so unbändige Freiheitsdrang geriet zur antibürgerlichen Attitüde, die Gegend um die Leopoldstraße wurde zur Partymeile und das rebellisch-kreative Leben zog sich in andere Stadtviertel zurück. Kein Wunder, dass der spätere ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész 1992 das „alte Schwabing“ nicht mehr fand.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 235-239.



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