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22.02.2018, 18:14 Uhr
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Interview mit der Lyrikerin und Villa Concordia-Stipendiatin Ulrike Almut Sandig

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Ulrike Almut Sandig. Foto: Dirk Skiba/ Schöffling & Co.

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Ulrike Almut Sandig ist eine der StipendiatInnen der Villa Concordia in Bamberg, die seit April 2017 für elf Monate dort wohnen und arbeiten dürfen. In der Sparte LITERATUR haben 2017 sieben Autorinnen und Autoren aus Griechenland und Deutschland das Stipendium angetreten. Der Aufenthalt in der Villa Concordia soll bereits etablierten Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit geben, ohne zeitlichen oder finanziellen Druck, inspiriert durch die Begegnung mit anderen internationalen KünstlerInnen, an neuen Projekten zu arbeiten.

Ulrike Almut Sandig wurde 1979 geboren und wuchs im sächsischen Nauwalde auf. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Berlin. Ihre ersten literarischen Texte veröffentlichte sie als augenpost auf Plakaten, Flyern und Gratispostkarten im öffentlichen Raum, 2005 debütierte sie mit dem Gedichtband Zunder. Ihr literarisches Schaffen erstreckt sich auf Lyrik, Prosa, Hörspiele sowie Sprechperformances. 2006 veröffentlichte sie ihr Debütalbum vertonter Gedichte der tag, an dem alma kamillen kaufte, 2010 erschien der erste Erzählband Flamingos. Ihr aktueller Gedichtband ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt (2016) entstand in Zusammenarbeit mit dem Klangkosmonauten Sebastian Reuter. Gemeinsam mit dem ukrainischen Dichter und Kulturaktivisten Grigory Semenchuk betreibt Sandig das Bandprojekt „Landschaft“. 2017 war sie Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik und Poetin in Residence an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, im gleichen Jahr erhielt sie den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. 2018 ist Ulrike Almut Sandig Trägerin des Wilhelm-Lehmann-Preises. Das Literaturportal Bayern hat mit ihr über ihre Arbeit gesprochen. 

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Literaturportal Bayern: In welcher Umgebung fühlen Sie sich beim Schreiben am wohlsten? Wie war für Sie die Erfahrung in der Villa Concordia?

Ulrike Almut Sandig: Zu Hause in Berlin schreibe ich meistens an meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, weil ich dort nicht so viel Ablenkung und darüber hinaus alle Bücher, allen Wein und alle Äpfel habe, die ich zum Schreiben benötige. Auch hier in Bamberg habe ich am Schreibtisch meiner Stipendiatenwohnung im Neuen Ebracher Hof gearbeitet. Die Tischplatte ist von beeindruckender Größe, so dass auch noch meine Musiktechnik, die ich für meine literarischen Konzerte brauche, darauf Platz hat. Tagsüber nutze ich den Schreibtisch vor allem für Büroarbeiten, für die keine große Kreativität nötig ist, also zum Lesen von Fahnen, Mailverkehr, der Planung meines Musikalbums, das im Herbst erscheinen soll. Meine Literatur entsteht nachts, denn dann schläft das Über-Ich und die Einfälle kommen.

 

Im vergangenen Jahr haben Sie bei der Herausgabe des Jahrbuchs der Lyrik mitgearbeitet. Was bedeutet für Sie diese Arbeit?

Das Jahrbuch der Lyrik gewährt seit fast 40 Jahren Einblick in neueste Entwicklungen der Poesie im gesamten deutschsprachigen Raum. Sie ist eine viel diskutierte Institution in der Lyrikszene, in der unbekannte Dichter und Dichterinnen neben bekannten Namen wie der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und dem Büchnerpreisträger Jan Wagner stehen. Für die Leserschaft mag jede neue Ausgabe eine Entdeckungsreise sein, die weniger zum schlichten Konsum als zur aktiven Auseinandersetzung mit Sprache und Denken gemacht ist. An einer solchen Ausgabe zu arbeiten bescherte mir die Freude, monatelang tausende Gedichte zu lesen, und die Last, am Ende eine Auswahl treffen zu müssen. Heute habe ich einen guten Überblick über das aktuelle Schaffen meiner KollegInnen wie lange nicht. Auch das ist ein großes Geschenk, denn die Lyrikszene ist oft schillernd, wild und schön.

 

Wie sehen Sie das Verhältnis „Lyrik – junge Menschen“ heute?

Also in Kinderbüchern wimmelt es von Gedichten, angefangen mit den blödelnden Reimereien von Paul Maars schweinsnasigem Sams bis zu den genial illustrierten Bilderbüchern von Nadja Budde, dem Wechstabenverbuchsler von Mathias Jeschke oder den Gruselgedichten von Arne Rautenberg, um nur einige zu nennen. Dass das oft Gedichte sind, fällt gar nicht auf, und das muss es auch nicht. Sie werden gelesen, auswendig gekonnt und geliebt, basta. Auch bei Jugendlichen nehme ich eine große Sympathie für Poesie wahr, vor allem wenn sie gerappt, gesungen oder auf andere Art vorgetragen wird. In der Türkei findet seit einigen Jahren eine Form des literarischen Widerstandes in Form von aktuellen oder traditionellen Gedichten auf Hauswänden im öffentlichen Raum statt. Diese #ŞiirSokakta wird vor allem von jungen Menschen befeuert, mit Sinn für die großen Dichter ihrer Kultur, deren Verse ebenso an die Wände geschrieben werden wie Nachdichtungen internationaler Lyrik. Bewegungen wie diese gibt es in vielen Ländern und immer wieder auch im deutschsprachigen Raum. Nur die Erwachsenen tun sich mit Gedichten schwer. Das liegt sicher nicht immer am Deutschunterricht, der manch einen verprellt haben mag. Eher an der Anstrengung des aktiven Lesens, die das Lesen von Gedichten erst zum Genuss macht und ganz anders funktioniert als etwa das passive Konsumieren von Unterhaltungsprosa. Dass Kraft und Lust auf geistige Anstrengung nach einem langen Arbeitstag fehlen, finde ich absolut verständlich. Das zu bejammern wäre arrogant.

 

Glauben Sie, dass Lyrik in Zeiten von Flüchtlingskrise und Migration Kulturgrenzen überwinden kann? Inwiefern oder inwiefern auch nicht?

In vielen Ländern, aus denen seit 2014 verstärkt Menschen bei uns Zuflucht suchen, etwa Syrien, Afghanistan und dem Iran, hat Dichtung einen hohen Stellenwert. Traditionelle und aktuelle Dichtung aus diesen Ländern zu lesen kann uns Kulturen näherbringen, die auf den ersten Blick fremder wirken, als sie eigentlich sind. Die Website www.lyrikline.org bietet hier wunderbar zum Stöbern ein. Browsen Sie mal in der Rubrik „Autoren“ nach Herkunftsländen, und schon sind Sie mitten in einem Paralleluniversum. Übrigens müssen Kulturgrenzen in den meisten Fällen gar nicht überwunden werden. Wichtiger erscheint es mir, sie zu formulieren und einen Umgang mit ihnen zu finden. In meinem letzten Gedichtband finden sich eine ganze Reihe von Gedichten, die die Unsicherheit und oft missglückende Suche nach Haltung der Deutschen formulieren. Ähnliches werden Sie in den jüngeren Gedichtbänden von einigen meiner Kollegen finden, etwa Björn Kuhligk und Max Czollek. Die dichtende Szene politisiert sich wieder, da entstehen wichtige Beiträge zur Zeit.

 

Welche Bedeutung geben Sie den Traditionen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint? Inwiefern hat das Auswirkungen auch auf die Literatur?

Zum einen verändern sich die technischen Bedingungen, unter denen Gedichte entstehen. Wenn ich schreibe, bin ich die ganze Zeit online, um Inhalte nachzurecherchieren, aber auch um Sprache zu untersuchen. Wie schreiben die Leute in Facebook-Kommentaren? Was für Ausdrücke gibt es, die ich noch nicht kenne? Wie verändert sich unsere Grammatik, wenn wir uns bedroht fühlen? Zum anderen ist es eine Eigenschaft von Dichtung, bei aller Verwurzelung in der Tradition vor allem in der Gegenwart und sogar in der Zukunft zu haften. Keine andere Kunstform bildet neue Entwicklungen in Sprache und Denken so früh ab wie die Lyrik. Das Klischeebild vom Dichter, der allein in seinem Kämmerchen hockt und trotzdem Weltliteratur schreibt, stimmt nur halb. Er oder sie musste hinaus in die Welt, um die Gegenwart zu verstehen, sie zu überleben und an der Zukunft mitzubauen.

 

Worin sehen Sie die besondere Leistung der Gebrüder Grimm? Was können ihre Märchen heute für uns noch bedeuten?

Jacob und Wilhelm Grimm haben nicht nur in ihrer Sammlung der Kinder- und Hausmärchen, sondern auch in ihrem Mammutprojekt des Deutschen Wörterbuchs mit seinen 32 Bänden einen Grundstock für eine moderne deutsche Sprache gelegt, dem sonst nur die Bibelübersetzung von Luther nahekommt. Die Art, wie wir Dinge erzählen und verstehen, aber auch geläufige Motive bis hin zu konkreten Begriffen und Redewendungen wie „Ich bin so satt, ich mag kein Blatt“ sind selbst dann von den Kinder- und Hausmärchen geprägt, wenn wir viele Märchen wegen der schwierigen Geschichte ihrer Herausgaben gar nicht kennen. Als Schriftstellerin und Performancedichterin interessieren mich an dieser Textsammlung und ihrer Entstehung aber auch die Schnittstellen zwischen Mündlichkeit, Literarizität und Schriftlichkeit. Wie fingiert man Mündlichkeit? Und wie holt man einen schriftlichen Text in die Mündlichkeit, ohne ihm seine Literarizität zu nehmen? Über diese Fragen hinaus haben die Kinder- und Hausmärchen mir beim Schreiben meines Gedichtbandes ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt auch eine Ästhetik in die Hand gegeben, mit der sich politische und moralische Fragen unserer Gegenwart formulieren ließen.

 

Welche Literatin/welcher Literat war schon immer Ihr Vorbild?

In den letzten Jahren war mir Helga Novak unersetzlich. Sie ist meines Wissens die einzige deutsche Dichterin, die nach ihrer Ausweisung aus der DDR trotz aller Bemühungen nie in den Besitz eines bundesdeutschen Passes kam. Aus dem spröden Charakter ihrer Verse spricht ein Ringen um Aufrichtigkeit und der große Mut einer Heimatlosen. Aber Sie fragten nach dem Schon-immer. Na, die Leute! Wie sie sprechen, wie sie dabei klingen, wie sie witzeln, wie sie reimen – was für eine Wundermaschine die menschliche Stimme ist! Und erst, wenn ein Kopf drauf sitzt!

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