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11.09.2020, 15:17 Uhr
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Gespräche
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Ulrike Almut Sandig im Gespräch über ihr beeindruckendes Romandebüt

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Foto: Michael Aust © Villa Concordia

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Dichtung und Klangkunst wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Monster wie wir ist ihr erster Roman. Darin wachsen die ungleichen Freunde Ruth und Viktor in der ostdeutschen Pampa auf. Beide erfahren familiäre Gewalt – und das Schweigen darüber. Während Ruth sich in die Musik flüchtet, entwickelt sich Viktor selbst zu jemandem, den man fürchten kann. Er trägt jetzt Glatze und Springerstiefel. Schließlich geht er nach Frankreich. Doch wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander?

Über ihr eindrucksvolles Romandebüt haben wir mit der Autorin auf dem Erlanger Poetenfest gesprochen.

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LITERATURPORTAL BAYERN: Neben der Literatur sind Sie auch für Ihre Musik und Soundprojekte bekannt. Man fahndet deshalb gleich nach musikalischen Elementen in Ihrem Roman. Dessen Sprache ist aber eher zurückhaltend. Haben Sie sich da bewusst gebremst?

ULRIKE ALMUT SANDIG: Ja, bei den Passagen zu Viktor habe ich stark darauf geachtet, dass es nicht zu melodiös wird – einfach weil er nicht musikalisch ist. Bei Ruth mit ihrem besonderen Gehör gab es schon etwas größeren Spielraum für poetische Mittel. Insgesamt war mir aber wichtig, gerade die expliziten Gewaltszenen so unmusikalisch zu beschreiben, wie sie eben stattfinden. Es ist eine Frage des Respekts vor den Erfahrungen der Figuren, ihnen nicht einfach meine Sprache überzustülpen. Hinzu kommt, dass die Musik, die in dem Buch wichtig ist, also die klassische, gar nicht meine ist. Ich könnte ja kaum die Mondscheinsonate spielen.

 

Ihr Roman behandelt das Thema Kindesmissbrauch und sein Verschweigen in keiner Weise reißerisch. Es geht nicht um Enthüllung. Wollten Sie eher das Schweigen hörbar machen als das Verschwiegene?

Die Wahrnehmung darüber scheint davon abzuhängen, was man selbst für ein Verhältnis zu Gewalt und Kommunikation hat. Ob man Erfahrungen gemacht hat, Zeuge war, oder wie auch immer. Es gibt Leserinnen und Leser, die die Darstellungen im Buch als regelrecht exzessiv empfinden. Im Lektorat wurde sogar diskutiert, zwei Szenen zu entschärfen, um den möglichen Eindruck eines voyeuristischen Interesses zu vermeiden.

 

Ulrike Almut Sandig und Moderator Michael Braun beim Erlanger Poetenfest. Selbst ein Wolkenbruch konnte den Sog des Romans nicht hemmen.

 

Auch das Schweigen wird nicht einfach wohlfeil angeprangert. Es existiert eben, ist struktureller Teil von Familie und Gesellschaft. Funktionieren diese teils überhaupt nur über das Schweigen, auch wenn der Preis sehr hoch sein kann?

Für mich ist und bleibt die Familie der Raum, in dem wir geschützt sein sollten, auch wenn wir es oft nicht sind. Da bewirkt Schweigen meist nichts Gutes. Zugleich interessiert mich beim literarischen Nachdenken über Gewalt die simple Schuldfrage nicht besonders. Sie ist wichtig für Jugendämter und Gerichte. Beim Schreiben steht sie mir aber im Weg. Da versuche ich, das Schweigen eher als Phänomen zu betrachten, anstatt mir ständig die Frage zu stellen, ob es nun per se schlecht ist oder ob es das Schweigen eines Täters oder eines Opfers ist.

Mich interessieren Zusammenhänge, keine einfachen Wertungen. Ruth vertraut sich ihren Eltern nicht richtig an, auch weil die so viel mit sich selbst beschäftigt sind, mit ihrem Umgang untereinander, der ebenfalls von Gewalt geprägt ist. Ruth weiß nicht einmal, dass ihr sexueller Missbrauch widerfährt, dafür fehlen ihr noch Bewusstsein und Sprache. In ihrer kindlichen Wahrnehmung ist der Großvater ein Vampir. Und das versteht wiederum die Mutter nicht, vielleicht will sie es nicht verstehen. Sie hat da einen blinden Fleck, schließlich ist der Täter ihr Vater. Das Schweigen wird also über Generationen weitergereicht. Es ist die Luft, die wir atmen.

 

Die Kehrseite der verschwiegenen Gewalt ist ihre Selbstverständlichkeit. Das Prügeln in den Familien erscheint als ebenso normal wie die sozialistische Staatsgewalt, in die es eingebettet ist. Oft wirkt die beschriebene Kindheit sogar irritierend heiter. Der Abgründigkeit tut das keinen Abbruch, im Gegenteil. Man ahnt: Das hätte auch ich sein können, das könnte jeder sein.

Oder wie Ruths Mutter es sagt: Das kommt in jeder Familie vor, wie Karies. Ich wollte gerade keine Horrorkindheit beschreiben, sondern eine Kindheit, die auch Horror kennt. Ruth und Viktor erleben daneben viele schöne Momente. Eine Kindheit wie viele. Oft sind sie glücklich. Das Glück wird durch den Horror nicht einmal zwingend kleiner. Er kommt schlicht dazu. Auf diese Weise wird einem die Distanzierung schwerer gemacht, man kann nicht so leicht sagen: Das sind halt die Anderen, die mit der scheiß Kindheit.

 

Gesellschaftlich kennen wir den Schweigetopos vor allem aus den Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts. Aber wie ist es heute?

Es hat sich nichts daran geändert, dass familiäres Schweigen immer auch politisches Schweigen bedeutet. Es ist eingefleischt und wird weitergeben. Nehmen wir die Braunkohlegegend, aus der Ruth kommt: In Abbaugebieten wie der Lausitz wurde schon vor zehn oder zwanzig Jahren gegen das Weggeschlucktwerden und die Devastierung der Ortschaften protestiert, aber das hat kaum einer wahrgenommen. Darauf zogen die Leute weg oder resignierten, und jetzt, da der überregionale Protest anhebt, wird er meist von Aktivist*innen geführt, die von außerhalb anreisen. Währenddessen bleiben anderswo die nächsten lokalen Proteste ungehört und verkümmern.

 

(c) Simone Voggenreiter/Erlanger Poetenfest 2020

 

Der Schrecken kommt in Ihrem Buch nachts, wenn der Mond scheint. Trotzdem ist der Mond ein ambivalentes Leitmotiv. Er widersteht auch der Dunkelheit, die ihn umgibt. Er bewahrt sich eine Schönheit, obwohl er das Schlimmste bezeugt. Bringt das Finstere auch seine eigene Gegenkraft hervor? Einmal macht Viktor ja das V-Zeichen: V wie Viktor, V wie Victory.

Ruth und Viktor sind nicht nur Opfer. Bliebe man bei der einfachen Dichotomie, könnte man sogar sagen, Viktor ist auch Täter. Schließlich prügelt er einen anderen Jungen ins Koma. Aber reine Täter/Opfer-Kategorien führen nicht weit. Schon bei Bram Stokers Dracula halten sich Gewalt und Erotik, Verdammnis und Schönheit in Balance. Und so hält sich auch Viktor buchstäblich am Mond fest. Als Spiegelbild des Übels hilft er ihm, aus der Passivität herauszukommen. Anders als Ruth setzt bei ihm ja nie eine Hirnschranke ein, er kann sich immer genau an alles erinnern, was passiert ist. Und sich ihm stellen. Er hat im Mond einen Zeugen, der seine Erinnerung stützt. Das ist meine Hoffnung: dass in der Erinnerung, so düster sie auch ist, ein Kraftquell liegt. Wenn wir uns erinnern, können wir uns anvertrauen – und Halt finden.

 

Ruth richtet ihre Geschichte an eine Hintergrundfigur namens Voitto. Auch diese Beziehung scheint nicht frei von Gewalt zu sein. So bleibt die Erlösung aus, das Ende zwiespältig. Ein Happy End war bei dieser Geschichte einfach nicht drin, oder?

Zumindest ist Voitto kein Retter. Doch gerade deshalb scheint mir Ruth am Ende ein großes Stück weiter zu sein. Lange war sie passiv und verschwiegen, auch sich selbst gegenüber. Aber zuletzt hört sie auf, auf einen Retter zu warten. Sie beginnt selbstbestimmter zu handeln. Sie spielt ihre eigene Musik. Und erkennt Viktor im Publikum, ein Komplize, der ihr immer bleiben wird.