Geschwister-Scholl-Preis 2017 für Hisham Matar

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(c) Luchterhand Literaturverlag

Für sein Buch Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater (Luchterhand Literaturverlag) wird Hisham Matar mit dem 38. Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. In der Jury-Begründung heißt es: „Hisham Matar war zwanzig Jahre alt, als sein Vater verschwand. Jaballa Matar, ein libyscher Geschäftsmann und ehemaliger Diplomat, lebte mit seiner Familie seit 1979 im Exil in Kairo. Vom Tschad aus operierte eine von ihm gelenkte Partisanentruppe gegen den Diktator Gaddafi. 1990, als Hisham Matar in London Architektur studierte, wurde sein Vater entführt. Erst sechs Jahre später erfuhr die Familie, dass er noch lebte und im berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis eingesperrt war. Zwei Briefe hatten den Weg ins Freie gefunden.

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In seinem Buch Die Rückkehr berichtet Hisham Matar davon, wie er 2012 nach der libyschen Revolution in sein Heimatland kam, um seinen Vater zu suchen. Als die Eingekerkerten von Abu Salim das Tageslicht wiedersahen, war Jaballa Matar nicht unter ihnen gewesen. Im Verlauf des Buchs verdichtet sich die Vermutung fast zur Gewissheit, dass er schon 1996 einem Massaker im Gefängnishof zum Opfer fiel: einer unter geschätzten 1200 Toten. Aber er soll später noch lebend gesehen worden sein. Hisham Matar heftet sich an diese Spur. Denn sein Vater überlebt in den Erzählungen der Mitgefangenen. Seine Leidensgefährten berichten davon, wie seine Kraft auf sie überging. Hisham Matars verschwundener Vater war in Wirklichkeit, was jeder Vater in den Augen seines Sohnes ist: ein Held.

Von dem, was mit der Chiffre vom berüchtigten Gefängnis gemeint ist, bekommt der Leser eine erschütternd konkrete Vorstellung: von den Zerstörungen, die ein Gewalthaber anrichtet, der jedes Mittel einsetzt, um den Willen derer zu brechen, die er zu seinen Feinden erklärt. Dabei betritt Hisham Matar Abu Salim nicht – als wäre der Ort verflucht, als könnte er dort dem Gespenst des Vaters begegnen. Wie es dort aussah und zuging, setzt sich der Autor aus den Zeugnissen der Überlebenden zusammen, seiner Verwandten. Denn Gaddafi rächte sich durch Sippenhaft.

Diesen Männern wurden Jahrzehnte ihres Lebens geraubt. Ohne Grund. Wie überbrückt man einen solchen Abgrund? Die Genauigkeit, mit der Hisham Matar über Gespräche berichtet, in denen so viel ungesagt bleiben musste, schlägt den Leser in den Bann. Der Aufbau des Buchs ist kunstvoll, verrät den Architekten: Alles, was wir über die lange Unfreiheitsgeschichte Libyens erfahren, die nach der Revolution weiterging, ist vermittelt durch den Rückkehrer, der nicht bleiben kann.

Die Rückkehr ist ein Buch über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes und über die Tugenden der Erinnerung, die dieser Erfahrung gerecht werden will: Beharrlichkeit, Sorgfalt und Vorsicht. Damit erinnert Hisham Matars Werk im weitesten Sinn an das Vermächtnis der Geschwister Scholl und ist geeignet bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.“

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Hisham Matar, Sohn libyscher Eltern, wurde 1970 in New York City geboren, wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in England. Vor dem aktuellen Titel hat er die international vielbeachteten Romane Im Land der Männer (2006) und Geschichte eines Verschwindens (2011) verfasst.

Der Geschwister-Scholl-Preis wird im Rahmen des Literaturfests München vergeben. Die Preisverleihung findet am 20. November 2017 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität statt. Am 21. November 2017 ist eine öffentliche Lesung in der Buchhandlung Lehmkuhl geplant.

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Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. und die Landeshauptstadt München vergeben 2017 den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis zum 38. Mal. Sinn und Ziel des Geschwister-Scholl-Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Zu den Preisträgern zählten in den letzten Jahren unter anderem Garance Le Caisne, Achille Mbembe, Glenn Greenwald, Otto Dov Kulka, Andreas Huckele (Pseudonym Jürgen Dehmers), Liao Yiwu, Joachim Gauck, Roberto Saviano, David Grossman und Anna Politkovskaja.

Der Fachjury unter dem Vorsitz von Kulturreferent Dr. Hans-Georg Küppers und Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e. V. gehörten 2017 an: Patrick Bahners (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Jobst-Ulrich Brand (Focus), Andreas Isenschmid, Prof. Dr. Armin Nassehi (LMU / Institut für Soziologie), Dr. Michael Schmitt (ZDF), Sonja Zekri (Süddeutsche Zeitung) und Cornelia Zetzsche (Bayerischer Rundfunk). Als Vertreter des Börsenvereins Bayern sind außerdem Ulrich Dombrowsky (Buchhändler, Regensburg), Michael Krüger (Schriftsteller und Publizist) und Thomas Rathnow (DVA) Mitglieder der Jury, von Seiten des Stadtrats Klaus Peter Rupp (SPD), Marian Offman (CSU) und Dr. Florian Roth (Bündnis 90 / Die Grünen / Rosa Liste). Beratende Mitglieder waren neben Dr. Hildegard Kronawitter (Weiße Rose Stiftung e. V.) die Stadträtinnen Ulrike Grimm (CSU) und Dr. Constanze Söllner-Schaar (SPD).

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