Wie Victor Klemperer im Frühjahr 1945 durch den Landkreis Tirschenreuth reiste
Der Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker Victor Klemperer (1881-1960) ist neben seiner 1947 erschienenen Abhandlung LTI über die Sprache im Nationalsozialismus vor allem durch seine ab 1995 u.d.T. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933-1945) herausgegebenen Tagebücher bekannt, in denen er akribisch seine Alltagserfahrungen im Zeichen der Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit dokumentierte. 1945 nutzte Victor Klemperer das Chaos der Bombennacht auf seinen Wohnort Dresden, um sich mit seiner Frau auf die Flucht durch Sachsen und Bayern zu begeben. Bernhard M. Baron ist den lokalen Spuren Klemperers in dessen Aufzeichnungen nachgegangen.
*
Obwohl der Dresdner Romanistik-Professor und Hochschullehrer Victor Klemperer (1881-1960), Cousin des renommierten schlesischen Dirigenten Otto Klemperer (1885-1973), nach Hitlers „Machtergreifung“ 1933 fast Tag für Tag erleben muss, wie seine persönlichen Rechte als zum Protestantismus konvertierter Jude eingeschränkt werden, bleibt er, seit 1906 verheiratet mit der ostpreußischen Konzertpianistin Eva Schlemmer (1882-1951), in seinem geschätzten Kulturland Deutschland. Fast minutiös hält der Sohn eines Berliner Rabbiners akribisch seine Alltagserfahrungen und Erlebnisse im Zeichen der Ausgrenzung während des Nationalsozialismus in einem verborgen gehaltenen Tagebuch fest. Er verliert – trotz Kriegsfreiwilligendienst 1915 – schließlich 1935 seine Professur und 1940 auch sein Privathaus in Dölzschen bei Dresden.
Es gelingt dem Ehepaar Klemperer dem Luftangriff auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 mit geringen Verletzungen zu entkommen – und damit der zu erwartenden KZ-Deportation. Klemperer reißt sich den Judenstern herunter, sie wollen zur nahen „russischen Front“. Da die Wege versperrt sind, flüchten sie unerkannt durch Sachsen über Marktredwitz (3. April 1945) mit dem Zug nach Bayern, das er noch von seinem Studium in München (1912-1914 mit Promotion zum Dr. phil.) und seiner ersten Professur (1919) bestens kennt. In Aichach/Unterbernbach erlebt das Ehepaar Klemperer am 11. April 1945 auch das Ende des Zweiten Weltkriegs. Ausführlich notiert Victor Klemperer in seinem erst 1995 posthum veröffentlichten Tagebuch in einzigartigen Impressionen ab 26. Mai 1945 seinen Rückweg von München nach Sachsen, der ihn über Freising, Regensburg und Schwandorf auch durch die Oberpfalz und den Landkreis Tirschenreuth führt.
**
Mit der offiziellen „polizeilichen Abmeldung“ vom „Altersheim Giesing“ stellt sich das Ehepaar am „26. Mai. Samstag früh, halb sieben Uhr, Speiseraum“ im Hinblick auf die zu erwartenden Strapazen und möglichen Enttäuschungen und Nahrungsprobleme der Gewissensfrage: „Im übrigen ist das Unternehmen natürlich ein fast irrsinniges: ohne ordentliche Wanderausrüstung, ohne Gewißheit der Lebensmittelkarten des Quartiers drei-, vierhundert Kilometer zurücklegen zu wollen. […] Wir begannen unseren Marsch durch München gegen zehn Uhr: die Isar-Anlagen und der Englische Garten – manche Trichter, aber doch sehr friedliches, staubloses Grün – […].“
Am Sonnabend, 2. Juni 1945, gelangt das Ehepaar in Weiden zur MP-Kommandantur. Ein Zivilpolizist verhilft ihnen „zu einem umlagerten und umschimpften Auto“.
Wir fuhren am frühen Nachmittag weiter, durch hübsche Gebirgsgegend, aber müde und skeptisch, und erreichten das Nest Windisch-Eschenbach. Noch einmal beschwörender Kampf mit der Kommandantur […]. Wir erhielten im nahen Gasthaus eine Abendsuppe, wir wurden wieder in ein menschenvolles Auto gepreßt, immer durch schöne Gebirgsland, zuletzt durch eine ganz von mächtigen Bäumen überwölbte Allee gefahren, bis zum Dorf Reuth. […]
In Reuth, abends Abgekämpftheit und Mattigkeit, gehe ich zum Bürgermeister, er weist mich mit bürgermeisterlichem Quartierzettel, auf Lager und Essen lautend, ins Gasthaus, das einem Fleischer gehört. Der Wirt und Fleischer, übellaunig und sehr grob: „Meinen Sie, ich richte Ihnen einen Salon her? Im Saal auf Stroh können Sie schlafen, wenn Sie wollen, zu essen und zu trinken geb ich Ihnen nichts, wir haben nichts mehr.“ – Es sei doch Anweisung des Bürgermeisters. – „Der Bürgermeister kann mich! Er ist Bäcker, er soll Ihnen selber Brot geben.“ Ich ließ Eva im Wirtshaus, lief selber zum Bürgermeister zurück, fand dort nur die Frau, hilflos von anderen Flüchtlingen belagert. Der Ort sei überfüllt und kahlgegessen, ihr Mann unterwegs, um wenigstens alle Welt vor der Sperrstunde – ich glaube, die war hier schon auf zweiundzwanzig Uhr gerückt – von der Straße zu schaffen. Ich pantherte herum, bis der Bürgermeister zurückkam. Er sagte, er könne nicht helfen, der Gastwirt habe wirklich nichts mehr. Ich kehrte um zehn zurück, wir aßen trockenes Brot, das uns der Bürgermeister gegeben, und tranken Wasser dazu.
Am darauffolgenden Sonntag, dem neunten Wandertag, gelangt das Ehepaar auf einem „wunderschönen, nur bei nüchternem Magen sehr anstrengenden Fußmarsch, 11 km weit, zur Station Wiesau.“ Später kommt es zu einem komischen „Intermezzo“:
In Wiesau haben wir uns wohl gründlich restauriert. Notiz und deutliche Erinnerung setzen erst wieder auf dem Güterzug ein, der uns um Mittag nach Marktredwitz brachte. Dort umgestiegen und erst einmal in den neuen, offenen Wagen bis vier Uhr auf Weiterfahrt gewartet. Dabei gab es ein komisches Intermezzo. Auf der gesamten Strecke Wiesau – Hof durfte nur und ausschließlich Militär den Güterzug (Personenzüge gab es noch nicht) benutzen. Ich für meinen Teil hatte Ausweis und Empfehlung – aber doch auch nur fragwürdiger Natur – bei mir [...] wenn Kontrolle kam. Und auf dem Bahnhof Marktredwitz kontrollierte ein übereifriger Kapo wirklich. [...] Gegen Abend, etwa um reichlich achtzehn Uhr, war der Zug in Oberkotzau, 6 km vor Hof, und weitere Bahnverbindung gab es nun erst von Feilitzsch an, 6 km hinter Hof. Wir wanderten also bei großer Hitze nach Hof.
Am 10. Juni 1945 erreicht das Ehepaar Klemperer sehnsüchtig das heimatliche Dresden. Sie sind von körperlichen Strapazen gezeichnet, haben auf total verstopften Straßen, in überfüllten Zügen und total überbelegten Gasthöfen unzählige entlassene oder sich selbst abgesetzte deutsche Wehrmachtssoldaten getroffen, amerikanische Besatzungstruppen, entlassene KZ-Häftlinge, ehemalige „Zwangsarbeiter“ (displaced persons), ausländische Kriegsgefangene aus befreiten deutschen Kriegsgefangenenlagern („STALAGs“) und Kolonnen von Flüchtlingstrecks aus den deutschen Ostgebieten. Letztlich aber kommt das Ehepaar glücklich zu Hause an. Das wichtigste Moment: Sie haben überlebt!
***
Die folgenden Monate, in denen Victor Klemperers berufliche Zukunft weiterhin unsicher bleibt, nutzt er zur Niederschrift seines Buches LTI (Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches), das 1947 erscheint. Klemperer will, dass aus den Reihen der Bevölkerung Menschen hervortreten, die nicht dem Instinkt versklavt sind, sondern deren geschulter Verstand allgemeine Zusammenhänge begreifen kann. Er entwirft das idealtypische Bild eines Intellektuellen: wiederauferstanden zu gesellschaftlicher Bedeutung nach den Jahren nationalsozialistischer Diffamierung.
Von 1947 bis 1960 lehrt Victor Klemperer an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1950 wird er als Vertreter des „Kulturbundes“ Abgeordneter der DDR-Volkskammer sowie ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Charakteristisch für die Zeit seiner DDR-Erfahrung sind die zweibändigen Tagebücher 1945-1959. So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Victor Klemperer stirbt 1960 im Alter von 78 Jahren. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Dölzschen.
Am 27. November 1995 erhält Victor Klemperer posthum von der Stadt München den Geschwister-Scholl-Preis. Die Stifterurkunde nehmen seine Witwe Hadwig, Klemperers zweite Ehefrau und ehemalige Studentin, sowie Klemperer-Herausgeber Walter Nowojski entgegen. Die Laudatio bei der feierlichen Preisverleihung in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München hält der bayerische Schriftsteller Martin Walser.
Victor Klemperers Blick auf die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik sowie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) machen ihn zu einem der wichtigsten Chronisten des Lebens eines Überlebenden des Holocausts.
Baron, Bernhard M. (2007, 4. Aufl.): Weiden in der Literaturgeographie. Eine Literaturgeschichte (Weidner Heimatkundliche Arbeiten Nr. 21). Weiden i.d.OPf., S. 48.
Ders. (2019): Wie Victor Klemperer im Frühjahr 1945 durch den Landkreis Tirschenreuth „reiste“. In: Heimat-Landkreis Tirschenreuth 31, S. 20-25.
Brenner, Henny (2001): Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden. Mit einem Nachwort von Michael Brenner. Pendo München.
Busl, Adalbert (2018): Lager Wiesau – Grenzdurchgangslager. In: 42. Bayerischer Nordgautag in Wiesau im Landkreis Tirschenreuth. Das Kulturfest der Oberpfälzer (FS). Regensburg, S. 94f.
Meyers Taschenlexikon. Schriftsteller der DDR (1974): VEB Bibliographisches Institut Leipzig, S. 278f.
Steinbach, Peter (1999): Klemperer – Ein Leben in Deutschland. 12tlg. TV-Serie (mdr/ARD). Regie: Kai Wessel, Titelrolle: Matthias Habich.
Wer war wer in der DDR? (2010): Victor Klemperer, 5. Ausg. Bd. 1. Ch. Links Berlin.
Quellen:
Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945, hg. Von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. 2 Bde. Aufbau Berlin, S. 799ff. (Erw. Neuausg. Aufbau TB-Nr. 8052. Berlin 2000, S. 442.)
Ders. (1946): Der Intellektuelle in der Gesellschaft. In: Zeitschrift Aufbau, H. 7, S. 686.
Ders. (1947): LTI – Notizbuch eines Philosophen. Aufbau Berlin. (1966 neu ediert u.d.T. Die unbewältigte Sprache; 1969 als dtv-TB Nr. 575 in der Reihe dtv-dokumente.)
Ders. (2015): Man möchte weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Berlin.
Wie Victor Klemperer im Frühjahr 1945 durch den Landkreis Tirschenreuth reiste>
Der Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker Victor Klemperer (1881-1960) ist neben seiner 1947 erschienenen Abhandlung LTI über die Sprache im Nationalsozialismus vor allem durch seine ab 1995 u.d.T. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933-1945) herausgegebenen Tagebücher bekannt, in denen er akribisch seine Alltagserfahrungen im Zeichen der Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit dokumentierte. 1945 nutzte Victor Klemperer das Chaos der Bombennacht auf seinen Wohnort Dresden, um sich mit seiner Frau auf die Flucht durch Sachsen und Bayern zu begeben. Bernhard M. Baron ist den lokalen Spuren Klemperers in dessen Aufzeichnungen nachgegangen.
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Obwohl der Dresdner Romanistik-Professor und Hochschullehrer Victor Klemperer (1881-1960), Cousin des renommierten schlesischen Dirigenten Otto Klemperer (1885-1973), nach Hitlers „Machtergreifung“ 1933 fast Tag für Tag erleben muss, wie seine persönlichen Rechte als zum Protestantismus konvertierter Jude eingeschränkt werden, bleibt er, seit 1906 verheiratet mit der ostpreußischen Konzertpianistin Eva Schlemmer (1882-1951), in seinem geschätzten Kulturland Deutschland. Fast minutiös hält der Sohn eines Berliner Rabbiners akribisch seine Alltagserfahrungen und Erlebnisse im Zeichen der Ausgrenzung während des Nationalsozialismus in einem verborgen gehaltenen Tagebuch fest. Er verliert – trotz Kriegsfreiwilligendienst 1915 – schließlich 1935 seine Professur und 1940 auch sein Privathaus in Dölzschen bei Dresden.
Es gelingt dem Ehepaar Klemperer dem Luftangriff auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 mit geringen Verletzungen zu entkommen – und damit der zu erwartenden KZ-Deportation. Klemperer reißt sich den Judenstern herunter, sie wollen zur nahen „russischen Front“. Da die Wege versperrt sind, flüchten sie unerkannt durch Sachsen über Marktredwitz (3. April 1945) mit dem Zug nach Bayern, das er noch von seinem Studium in München (1912-1914 mit Promotion zum Dr. phil.) und seiner ersten Professur (1919) bestens kennt. In Aichach/Unterbernbach erlebt das Ehepaar Klemperer am 11. April 1945 auch das Ende des Zweiten Weltkriegs. Ausführlich notiert Victor Klemperer in seinem erst 1995 posthum veröffentlichten Tagebuch in einzigartigen Impressionen ab 26. Mai 1945 seinen Rückweg von München nach Sachsen, der ihn über Freising, Regensburg und Schwandorf auch durch die Oberpfalz und den Landkreis Tirschenreuth führt.
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Mit der offiziellen „polizeilichen Abmeldung“ vom „Altersheim Giesing“ stellt sich das Ehepaar am „26. Mai. Samstag früh, halb sieben Uhr, Speiseraum“ im Hinblick auf die zu erwartenden Strapazen und möglichen Enttäuschungen und Nahrungsprobleme der Gewissensfrage: „Im übrigen ist das Unternehmen natürlich ein fast irrsinniges: ohne ordentliche Wanderausrüstung, ohne Gewißheit der Lebensmittelkarten des Quartiers drei-, vierhundert Kilometer zurücklegen zu wollen. […] Wir begannen unseren Marsch durch München gegen zehn Uhr: die Isar-Anlagen und der Englische Garten – manche Trichter, aber doch sehr friedliches, staubloses Grün – […].“
Am Sonnabend, 2. Juni 1945, gelangt das Ehepaar in Weiden zur MP-Kommandantur. Ein Zivilpolizist verhilft ihnen „zu einem umlagerten und umschimpften Auto“.
Wir fuhren am frühen Nachmittag weiter, durch hübsche Gebirgsgegend, aber müde und skeptisch, und erreichten das Nest Windisch-Eschenbach. Noch einmal beschwörender Kampf mit der Kommandantur […]. Wir erhielten im nahen Gasthaus eine Abendsuppe, wir wurden wieder in ein menschenvolles Auto gepreßt, immer durch schöne Gebirgsland, zuletzt durch eine ganz von mächtigen Bäumen überwölbte Allee gefahren, bis zum Dorf Reuth. […]
In Reuth, abends Abgekämpftheit und Mattigkeit, gehe ich zum Bürgermeister, er weist mich mit bürgermeisterlichem Quartierzettel, auf Lager und Essen lautend, ins Gasthaus, das einem Fleischer gehört. Der Wirt und Fleischer, übellaunig und sehr grob: „Meinen Sie, ich richte Ihnen einen Salon her? Im Saal auf Stroh können Sie schlafen, wenn Sie wollen, zu essen und zu trinken geb ich Ihnen nichts, wir haben nichts mehr.“ – Es sei doch Anweisung des Bürgermeisters. – „Der Bürgermeister kann mich! Er ist Bäcker, er soll Ihnen selber Brot geben.“ Ich ließ Eva im Wirtshaus, lief selber zum Bürgermeister zurück, fand dort nur die Frau, hilflos von anderen Flüchtlingen belagert. Der Ort sei überfüllt und kahlgegessen, ihr Mann unterwegs, um wenigstens alle Welt vor der Sperrstunde – ich glaube, die war hier schon auf zweiundzwanzig Uhr gerückt – von der Straße zu schaffen. Ich pantherte herum, bis der Bürgermeister zurückkam. Er sagte, er könne nicht helfen, der Gastwirt habe wirklich nichts mehr. Ich kehrte um zehn zurück, wir aßen trockenes Brot, das uns der Bürgermeister gegeben, und tranken Wasser dazu.
Am darauffolgenden Sonntag, dem neunten Wandertag, gelangt das Ehepaar auf einem „wunderschönen, nur bei nüchternem Magen sehr anstrengenden Fußmarsch, 11 km weit, zur Station Wiesau.“ Später kommt es zu einem komischen „Intermezzo“:
In Wiesau haben wir uns wohl gründlich restauriert. Notiz und deutliche Erinnerung setzen erst wieder auf dem Güterzug ein, der uns um Mittag nach Marktredwitz brachte. Dort umgestiegen und erst einmal in den neuen, offenen Wagen bis vier Uhr auf Weiterfahrt gewartet. Dabei gab es ein komisches Intermezzo. Auf der gesamten Strecke Wiesau – Hof durfte nur und ausschließlich Militär den Güterzug (Personenzüge gab es noch nicht) benutzen. Ich für meinen Teil hatte Ausweis und Empfehlung – aber doch auch nur fragwürdiger Natur – bei mir [...] wenn Kontrolle kam. Und auf dem Bahnhof Marktredwitz kontrollierte ein übereifriger Kapo wirklich. [...] Gegen Abend, etwa um reichlich achtzehn Uhr, war der Zug in Oberkotzau, 6 km vor Hof, und weitere Bahnverbindung gab es nun erst von Feilitzsch an, 6 km hinter Hof. Wir wanderten also bei großer Hitze nach Hof.
Am 10. Juni 1945 erreicht das Ehepaar Klemperer sehnsüchtig das heimatliche Dresden. Sie sind von körperlichen Strapazen gezeichnet, haben auf total verstopften Straßen, in überfüllten Zügen und total überbelegten Gasthöfen unzählige entlassene oder sich selbst abgesetzte deutsche Wehrmachtssoldaten getroffen, amerikanische Besatzungstruppen, entlassene KZ-Häftlinge, ehemalige „Zwangsarbeiter“ (displaced persons), ausländische Kriegsgefangene aus befreiten deutschen Kriegsgefangenenlagern („STALAGs“) und Kolonnen von Flüchtlingstrecks aus den deutschen Ostgebieten. Letztlich aber kommt das Ehepaar glücklich zu Hause an. Das wichtigste Moment: Sie haben überlebt!
***
Die folgenden Monate, in denen Victor Klemperers berufliche Zukunft weiterhin unsicher bleibt, nutzt er zur Niederschrift seines Buches LTI (Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches), das 1947 erscheint. Klemperer will, dass aus den Reihen der Bevölkerung Menschen hervortreten, die nicht dem Instinkt versklavt sind, sondern deren geschulter Verstand allgemeine Zusammenhänge begreifen kann. Er entwirft das idealtypische Bild eines Intellektuellen: wiederauferstanden zu gesellschaftlicher Bedeutung nach den Jahren nationalsozialistischer Diffamierung.
Von 1947 bis 1960 lehrt Victor Klemperer an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1950 wird er als Vertreter des „Kulturbundes“ Abgeordneter der DDR-Volkskammer sowie ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Charakteristisch für die Zeit seiner DDR-Erfahrung sind die zweibändigen Tagebücher 1945-1959. So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Victor Klemperer stirbt 1960 im Alter von 78 Jahren. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Dölzschen.
Am 27. November 1995 erhält Victor Klemperer posthum von der Stadt München den Geschwister-Scholl-Preis. Die Stifterurkunde nehmen seine Witwe Hadwig, Klemperers zweite Ehefrau und ehemalige Studentin, sowie Klemperer-Herausgeber Walter Nowojski entgegen. Die Laudatio bei der feierlichen Preisverleihung in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München hält der bayerische Schriftsteller Martin Walser.
Victor Klemperers Blick auf die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik sowie der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) machen ihn zu einem der wichtigsten Chronisten des Lebens eines Überlebenden des Holocausts.
Baron, Bernhard M. (2007, 4. Aufl.): Weiden in der Literaturgeographie. Eine Literaturgeschichte (Weidner Heimatkundliche Arbeiten Nr. 21). Weiden i.d.OPf., S. 48.
Ders. (2019): Wie Victor Klemperer im Frühjahr 1945 durch den Landkreis Tirschenreuth „reiste“. In: Heimat-Landkreis Tirschenreuth 31, S. 20-25.
Brenner, Henny (2001): Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden. Mit einem Nachwort von Michael Brenner. Pendo München.
Busl, Adalbert (2018): Lager Wiesau – Grenzdurchgangslager. In: 42. Bayerischer Nordgautag in Wiesau im Landkreis Tirschenreuth. Das Kulturfest der Oberpfälzer (FS). Regensburg, S. 94f.
Meyers Taschenlexikon. Schriftsteller der DDR (1974): VEB Bibliographisches Institut Leipzig, S. 278f.
Steinbach, Peter (1999): Klemperer – Ein Leben in Deutschland. 12tlg. TV-Serie (mdr/ARD). Regie: Kai Wessel, Titelrolle: Matthias Habich.
Wer war wer in der DDR? (2010): Victor Klemperer, 5. Ausg. Bd. 1. Ch. Links Berlin.
Quellen:
Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945, hg. Von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. 2 Bde. Aufbau Berlin, S. 799ff. (Erw. Neuausg. Aufbau TB-Nr. 8052. Berlin 2000, S. 442.)
Ders. (1946): Der Intellektuelle in der Gesellschaft. In: Zeitschrift Aufbau, H. 7, S. 686.
Ders. (1947): LTI – Notizbuch eines Philosophen. Aufbau Berlin. (1966 neu ediert u.d.T. Die unbewältigte Sprache; 1969 als dtv-TB Nr. 575 in der Reihe dtv-dokumente.)
Ders. (2015): Man möchte weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919. Berlin.