Forschungsexpedition aufs Volksfest (4)

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Der „Cliffhanger“, ein Fahrgeschäft auf der Amherst County Fair (irgendwo darin: die Autorin dieser Blogreihe). Foto: Christina Kirchinger

Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.

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Die erste Hälfte meines Aufenthalts am VCCA liegt hinter mir. Müsste ich eine Zwischenbilanz ziehen, dann wäre da als Allererstes sehr viel Begeisterung. Darüber, wie viele unterschiedliche Kunstschaffende ich bereits jetzt kennenlernen durfte. Und wie produktiv die Tage hier sein können. Kurz: wie gut durchdacht und wie förderlich das Umfeld am VCCA gestaltet ist – mit den Gelegenheiten zur Begegnung und den Räumen zum Rückzug.

Außerdem wäre da aber auch einige Bescheidenheit: Trotz der förderlichen Bedingungen gelingt nicht alles, was ich anpacke – an manchen Tagen bin ich mit meiner „Ausbeute“ zufrieden, an anderen weniger. (Die anregenden Gespräche mit anderen Fellows rücken die Perspektive auch auf vermeintlich weniger erfolgreiche Tage rasch wieder zurecht.)

Zeigen, wie die Zeit voranschreitet

Bildende Künstlerin Heloisa Pomfret und Komponist Doug Geers im Gespräch in Heloisas Atelier. Foto: Carola Gruber

An diesem Sonntag öffnet das VCCA seine Türen für Interessierte. Fellows laden in ihre Ateliers, und auch ich nutze die Gelegenheit, mich umzuschauen. Heloisa Pomfret zeigt eine Bilderreihe, die am VCCA entstanden ist. Seit ihrer Ankunft vor einer Woche hat sie jeden Tag das gleiche Motiv gezeichnet, um das Vergehen der Zeit zu dokumentieren. Auf den ersten Blick sehen die Bilder fast gleich aus, wie eine Wiederholung. Auf den zweiten Blick fallen jedoch viele kleine Unterschiede auf. Ist eine identische Wiederholung überhaupt möglich? Das ist gleichermaßen eine philosophische und eine handwerklich-praktische Frage, zeigt Heloisas Arbeit.

Um Nuancen geht es auch in den Arbeiten von Caroline Burton, die mit einer sehr reduzierten Farbpalette arbeitet. Was im Ergebnis vielleicht einfach aussehen mag, ist es in der Herstellung überhaupt nicht. Die Künstlerin mischt die verschiedenen Grautöne mit Farben aus dem gesamten Spektrum aufwendig an. Und auch die angerührte Mischung aufs Papier zu bringen, ist eine echte Anstrengung, denn die Künstlerin legt dafür die großformatigen Blätter auf den Boden, klebt Flächen ab und erzeugt damit harte Übergänge.

In Christina Kirchingers Atelier, das ich bereits am Ende meiner ersten Woche besichtigen durfte, kann ich mitverfolgen, wie ihre künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ort voranschreitet. Viele neue Zeichnungen sind hinzugekommen, darauf auch Notizen in feiner Bleistiftschrift, was bei der nächsten Zeichnung oder beim Druck zu beachten ist. Die Zeichnungen anzusehen – und zu lesen –, fühlt sich ein bisschen an, als würden wir der Künstlerin beim Nachdenken zusehen.

Expedition der Woche

Bunt und irgendwie exotisch: der Eingang zur Amherst County Fair. Foto: Carola Gruber

Am Wochenende unternehmen Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich einen Ausflug zu einem kleinen Volksfest, das in unmittelbarer Nähe stattfindet: der Amherst County Fair. Nach den konzentrierten Tagen im Atelier sind die bunten Farben, die anderen Menschen und die Bewegungen der Fahrgeschäfte in alle möglichen Richtungen ein Kontrast. Ungefähr so, wie man sich durch ein Museum bewegt, gehen wir drei über das Gelände und machen uns auf dieses und jenes aufmerksam.

Einiges davon wirkt wie frisch aus dem Bilderbuch über US-amerikanisches (Südstaaten-)Landleben gepurzelt. Fried Oreos (ja, so einen Schokokeks kann man frittieren!). Ein Pie Eating Contest (natürlich!). Ein Face Cookie Contest (Anleitung: Keks aufs Gesicht legen und versuchen, ihn zu essen, ohne zu lachen!). Eine Motorsägen-Vorführung. Eine Ausstellung mit Ständen des Sweet Briar College, der Baptisten, der Demokraten, der Republikaner, der Zeugen Jehovas, der Marine Corps Reserve (ja, in der Reihenfolge!). Etwa alle zwei Schritte bleiben wir stehen, fotografieren, analysieren ... Für Außenstehende sehen wir vermutlich wie eine verirrte Forschungsexpedition aus.

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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).