Dem Oktoberfest entkommt man nicht (3)

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Ziel für Spaziergänge: der nahegelegene Sweet Briar Lake mit herbstlich gefärbten Bäumen. Alle Fotos: Carola Gruber

Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.

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Inzwischen sind Christina Kirchinger, Philipp Ortmeier und ich die dienstältesten Fellows. Denn in meiner dritten Woche am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) reisen die letzten Fellows ab, die früher als wir oder gleichzeitig mit uns angekommen sind. Die Abschiede sind einerseits traurig, andererseits gehören sie mittlerweile fest zum Wochenprogramm.

Die Abschiede sind aber auch ein Moment der Freude, sagt ein kürzlich angereister Fellow: Freude darüber, dass einem selbst noch etwas Zeit in diesem wunderbaren Umfeld bleibt. (Drei Wochen in meinem Fall – das ist mehr als einigen Fellows insgesamt zur Verfügung steht. Dennoch staune ich: Bereits die Hälfte des Aufenthalts am VCCA liegt hinter mir.)

Photoshop mit einer Prise Vermeer

Auch diese Woche darf ich Arbeiten anderer Fellows erleben. Am Montag lesen Mariejean Oldham, Stephanie Early Green und Jake Warren aus ihren Texten. Besonders intensiv ist die Lesung von Jake, der einen Auszug aus einem autobiografischen Manuskript vorstellt. Darin geht es um eine von Missbrauch geprägte Beziehung, die er in seinen frühen Zwanzigern erlebt hat. Der Text arbeitet mit zahlreichen Zeitsprüngen und dem Motiv des Erdbebens als Sinnbild für die Beziehungsdynamik. Als Jake liest, ist es im Raum ganz still, die anderen Fellows hören gebannt zu.

Auch der Fotograf James Robert Southard zeigt seine Arbeiten. Diese reichen von dokumentarischen Bildern, etwa für das Kentucky Documentary Photographic Project, bis hin zu aufwendig digital erstellten Bildkompositionen: An verschiedenen Orten weltweit hat er mit Protagonist*innen zusammengearbeitet, nach deren Vorstellungen Bilder entworfen und sich dabei an Gemälden früherer Epochen orientiert, z.B. von Jan Vermeer. Die so entstandenen Bilder fesseln den Blick mit ihrer Mischung aus gegenwärtigem Inhalt und kunsthistorischen Bezügen. Rob lädt uns ein, ebenfalls mit ihm zusammenzuarbeiten und ihm Vorschläge zu machen. Zwei, drei Fellows melden sofort Interesse an.

Schreibtipp: Such Dir Verbündete!

Links: Kathryn Schulz und Casey Cep im Gespräch miteinander am Sweet Briar College. Rechts: Ankündigung der Veranstaltung mit Kathryn Schulz und Casey Cep am Sweet Briar College

Zwei festangestellte Autorinnen des New Yorker, Casey Cep und Kathryn Schulz, kommen am Dienstagabend ans Sweet Briar College. Sie sind zu einer Veranstaltungsreihe eingeladen, die die Studentinnen ins Schreiben einführen soll, „The Mindful Writer“. Die beiden Journalistinnen berichten unter anderem, wie sie zum New Yorker gekommen sind (Casey: über ihr Spezialgebiet, Religion; Kathryn: über zahlreiche Freelance-Jobs bei anderen Medien und ein Buch). Und sie erzählen, wie ihre Ideen entstehen (ein Spezialgebiet zu haben, ist hilfreich – und Neugier, selbst gegenüber Alltäglichem).

Außerdem geben sie den aspirierenden Journalistinnen und Autorinnen im Raum einige Tipps mit auf den Weg. Tipp 1: sich ein Umfeld schaffen, das einen beim Schreiben unterstützt. Tipp 2: eine der nützlichsten Fragen für Interviews mit Fachleuten: Was wissen alle in Deiner Branche, aber niemand außerhalb? Tipp 3: Struktur entsteht durch einen Faden und durch Chronologie (die bei Bedarf natürlich gebrochen werden kann).

Fragen aus dem Publikum: Wie zum Ende kommen, wie das Ende gestalten? (Antwort: Oft liegt das Material für das Ende bereits im Stück.) Im Zweifel lieber dem eigenen Stil folgen und etwas riskieren oder lieber der Struktur folgen? (Antwort: Wagnis! Der eigene Stil ist unersetzlich, an der Struktur kann auch im Nachgang noch jemand anderes feilen.)

Auch zwei Lese-Empfehlungen nehme ich von dem Abend mit, da diese mehrfach angesprochen werden: Casey Ceps Artikel über den verbraucherfeindlichen Umgang von Johnson & Johnson mit Zehntausenden Frauen, die den Konzern wegen seines potenziell krebserregenden Babypuders verklagen. Kathryn Schulz' Artikel über fantastische Wesen.

Erkenntnis der Woche

Von Schnitzel über Fischsuppe bis Sauerbraten: das Oktoberfest-Menü

Dass man auf Reiseblogs Listen mit den „authentischsten Oktoberfesten der Vereinigten Staaten“ (the Most Authentic Oktoberfests in the United States) findet, spricht für sich. Die Faszination in den USA für das größte Volksfest der Welt macht auch vor dem VCCA nicht halt: Küchenchefin Katy kündigte für diese Woche ein Oktoberfest-Menü an und zwinkerte uns drei Deutschen zu. „Bitte nehmt das nicht zu ernst. Lächelt Euch einfach hindurch“, bat sie uns. Jeden Abend gab es bayerisch inspirierte Gerichte (besonders gelungen: die Brezn!). Und wie immer war es sehr lecker (auch wenn Purist*innen einwenden könnten, dass Büsum möglicherweise nicht in Bayern liegt). Eine Erkenntnis hat sich am Ende der Woche bei mir jedenfalls durchgesetzt: Auch wer neun Flugstunden hinter sich bringt, entkommt dem Oktoberfest nicht.

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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).