Auf geht’s nach Virginia, endlich! (1)

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Das Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) – Blick vom Haupthaus in Richtung Büro und Ateliers. Alle Fotos © Carola Gruber

Ans Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) kommen jedes Jahr über 400 Kunstschaffende aus Literatur, Komposition und Bildender Kunst, um an ihren Projekten zu arbeiten. Im Oktober/November 2022 verbringt Carola Gruber sechs Wochen dort im Rahmen des Internationalen Stipendiums Oberpfälzer Künstlerhaus. Für das Literaturportal Bayern hält sie (literarische) Eindrücke von ihrem Aufenthalt fest.

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Eigentlich hätte ich bereits vor zweieinhalb Jahren nach Virginia kommen wollen: Mein Aufenthalt am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA) war für das Frühjahr 2020 geplant, wurde pandemiebedingt jedoch mehrmals verschoben – letztlich auf das Jahr 2022. Das Gute daran: Auf diese Weise konnte ich mich länger auf den (baldigen) Aufenthalt freuen und daraus Kraft und Motivation ziehen.

Am ersten Wochenende im Oktober ist es dann soweit. Nach einem knapp neunstündigen Flug nach Washington, einem Jetlag-Tag dort mit etwas Sightseeing, einer dreieinhalbstündigen Bahnfahrt im Northeast Regional nach Lynchburg (die Fahrt im geräumigen, gering ausgelasteten Amtrak-Zug mit den weiten, bequemen Sitzen macht mir große Freude, trotz einer kleinen Verspätung) und einer halbstündigen Taxifahrt komme ich am VCCA an.

Vom South Amherst Highway, der Amherst und Lynchburg verbindet, führt ein kleiner, relativ versteckter Abzweig auf das VCCA-Gelände. Kühe und Autos teilen sich hier die Straße, und man kann den Eindruck gewinnen, auf einer Farm anzukommen. Nur dass hier nicht die Landwirtschaft im Vordergrund steht, sondern das Gedeihen künstlerischer Ideen und Projekte unterschiedlicher Sparten.

And what are you working on?

Das VCCA wurde 1971 gegründet und ist eines der größten Künstlerhäuser des Landes. Wer als Fellow hierher kommt, erhält ein Atelier, ein Schlafzimmer und drei frisch zubereitete Mahlzeiten am Tag – so dass genug Konzentration für die Arbeit an den künstlerischen Projekten bleibt.

Die Abläufe sind so gut organisiert, dass es leicht fällt, sich von dieser freundlichen, gut geölten Maschine tragen zu lassen. Bereits nach einem oder zwei Tagen fühle ich mich angekommen und habe den Eindruck, in dem Setting besonders produktiv sein zu können.

Neben viel Freiraum zum Arbeiten im eigenen Atelier gibt es bei den gemeinsamen Mahlzeiten die Gelegenheit, die anderen Fellows kennenzulernen. Eine typische Einstiegsfrage – nach der Frage nach dem Namen – lautet: „What are you working on?“ Die Antworten darauf sind sehr vielfältig: eine Belletristik-Autorin entwirft gerade ein Konzept für ein Sachbuch, ein Lyriker arbeitet an einem Roman, ein Komponist an einer Messe, eine Künstlerin, die sonst in der Druckgrafik arbeitet, widmet sich Zeichnungen, eine Autorin sitzt an der letzten Durchsicht ihres Romans, eine andere möchte die letzten Kapitel schreiben (während andere Projekte schon so sehr locken) ...

Und so tauschen wir uns über unsere jeweilige künstlerische Praxis aus, zum Beispiel auch darüber, wie diese in unsere Alltage passt, zwischen Jobs, Kindern, pflegebedürftigen Eltern oder einfach dem Haushalt und kleinen Erledigungen – Dinge, von denen wir uns hier zeitweise gelöst haben, um uns auf die künstlerische Tätigkeit zu konzentrieren. Einige bleiben zwei Wochen, weil sie nicht länger frei bekommen, andere etwas länger. Gleichzeitig mit mir sind zwei weitere Kunstschaffende mit dem Internationalen Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus da: Christina Kirchinger und Philipp Ortmeier. Die sechs Wochen, die wir am VCCA verbringen, sind im Vergleich mit den Aufenthalten anderer Fellows wunderbar großzügig bemessen. Ein echtes Geschenk.

Der Atelierkomplex in den ehemaligen Ställen am Virginia Center for the Creative Arts (VCCA)

Lesungen am Kaminfeuer

Ein Format, das sich am VCCA etabliert hat, ist die Präsentation der eigenen Arbeit im informellen Rahmen unter den Fellows, zum Beispiel bei Lesungen und offenen Ateliers.

Gleich in meiner ersten Woche erlebe ich drei Kaminlesungen. Am Samstagabend lesen JoAnn Balingit und Clare Needham aus ihren Texten: In Clares noch in Arbeit befindlichem Roman geht es um eine 20-jährige US-amerikanische Studentin und ehemalige Leistungssportlerin, die gerade in einer Orientierungskrise steckt und einen Studienaufenthalt in Frankreich absolviert. Für ihre Schilderung des gar nicht mal schönen und trotzdem attraktiven Cédric, einem potenziellen love interest ihrer Protagonistin, erntet Clare viele Lacher. JoAnn hingegen geht ihrer philippinischen Herkunft nach, hat das Familienalbum sowie das Fotoarchiv der Library of Congress in Washington durchforstet, verbindet Fotografie und Essay zu eindrücklichen Bild-Text-Collagen.

Dawn Raffel präsentiert am Montag Texte aus ihrem im Januar erscheinenden Buch Boundless as the Sky, einem Kurzprosaband, der von Italo Calvinos Buch Die unsichtbaren Städte inspiriert ist und Fakt mit Fiktion vermischt, und Brian Culhane liest Gedichte aus seinem Band Remembering Lethe. Nach einem Einblick in ein Romanmanuskript von Peng Wu am Mittwoch stößt die New Yorker Lyrikerin Grace MacNair ein angeregtes Gespräch an – mit einem Gedicht aus ihrem frisch erschienenen Lyrikband Even as They Curse Us. Unter dem Titel Abecedarian for Those Who Claim Birth Contol Goes Against Nature werden darin Verhütungs- und Abtreibungsmethoden aus verschiedenen Kulturen und Zeiten alphabetisch aufgelistet – hochaktuell angesichts des laufenden Streits um Abtreibungen in den USA (ausgelöst durch die Entscheidung des Supreme Courts, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA zu kippen und somit zur Sache der Bundesstaaten zu machen).

Bestseller-Autorin im Sweet Briar College

Lesung von Jocelyn Nicole Johnson in der Mills Chapel am Sweet Briar College

Als ich für diese Woche, was Lesungen angeht, eigentlich schon satt bin, erfahre ich, dass Jocelyn Nicole Johnson am Donnerstag im benachbarten Sweet Briar College lesen wird – und gehe hin. Die Autorin des Bestsellers My Monticello ist in Virginia aufgewachsen und beschäftigt sich intensiv mit sozialer Gerechtigkeit sowie Klima- und Umweltfragen. In Ihrem Vortrag geht sie unter anderem auf die rechtsextremen Demonstrationen in Charlottesville im Sommer 2017 ein und auf den blutigen Anschlag auf eine Gegendemonstration – ein Geschehen, das wenige hundert Meter von ihrem Wohnort stattfand und sie zum Schreiben ihres mittlerweile mehrfach preisgekrönten Buchs bewegte. In der anschließenden Fragerunde ging es auch um die Geschichte des Sweet Briar College: Wie damit umgehen, dass auch diese Institution, wie so viele in der Gegend, als frühere Plantage in Sklavenhaltung verstrickt war? (Die Antwort: Sich dessen bewusst zu sein und es anzusprechen, ist schon ein wichtiger Schritt.)

Fundstück der Woche

„Literature only“: Das Fach für Informationsmaterial am Flugzeugsitz

Im Flugzeug nach Washington freue ich mich über einen Hinweis, den die Fluggesellschaft am Sitzfach hat anbringen lassen: „Literature Only“. Dass damit natürlich nicht Belletristik, sondern Informationsmaterial gemeint ist, schmälert meine Freude nur geringfügig.

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Carola Gruber (*1983 in Bonn) lebt als Autorin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben in München. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Hildesheim und Montreal. An der Ludwig-Maximilians-Universität in München promovierte sie mit einer Arbeit über Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel. 2015 war sie Stadtschreiberin von Regensburg und Rottweil. Sie erhielt mehrere Preise und Stipendien, darunter das Literaturstipendium des Freistaats Bayern (2016), den Würth-Literaturpreis (2018) und das Internationale Stipendium Oberpfälzer Künstlerhaus im Virginia Center for the Creative Arts (VCCA), Virginia, USA (2020/22).