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28.10.2022, 11:49 Uhr
Kunstministerium
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© Sandra Hoffmann

Arbeitsstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Sandra Hoffmann

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© Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt, der Laudatio und einem Textauszug vor.

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Sandra Hoffmann, 1967 geboren, arbeitet seit einem Studium der Literaturwissenschaft, Mediävistik und Italianistik (M.A.) als freie Schriftstellerin und lebt seit Ende 2012 in München. Bisher hat sie sechs Romane veröffentlicht. Sie schreibt Radiofeatures und Radioessays u.a. für den Bayerischen Rundfunk und v.a. Reisereportagen für DIE ZEIT. Auf dem Literaturportal Bayern veröffentlicht sie seit 2021 die Kolumne DRAUSSEN. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. an der Universität Karlsruhe, dem Literaturhaus München und der Bayerischen Akademie des Schreibens sowie für Goethe-Institute im Ausland. Für ihren Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist (Hanser, 2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis, für ihren letzten Roman Paula (Hanser, 2019), der durch ein Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert wurde, den Hans-Fallada-Preis. Das Leben spielt hier ist ihr erstes Jugendbuch (Hanser, 2019).

Laudatio von Katharina Adler:

Sandra Hoffmann seziert in ihrem neuesten Romanprojekt Tage im Wald die Anziehung zwischen einer Frau Anfang Vierzig und einem 17-jährigen Teenager. Dabei steht nicht das Tabu im Zentrum, sondern die Frage, wie man mit dem Triebhaften des Menschen umgehen kann. Ein Text voll intensiver Naturbeschreibungen und einem präzisen Blick für die Gefühlswelt der Hauptfigur.

Auszug aus Tage im Wald (Romanvorhaben)

Er war kein Trugbild, kein Traumbild. Claire hat ihn gesehen, wie er sie gesehen hat. Er hat sie, als er den Weg hinabgegangen war, vom Wald aus so gesehen, wie die Rehe es wahrscheinlich tun, die jagenden Katzen, der Fasan, oder der kleine Rehbock, der seit diesem Frühling alleine unterwegs ist, weil die Ricke, seine Mutter, jetzt zwei neue Kitze durchs Strauchdickicht führt. Weil er ein Jährling ist. Er hat sie gesehen, wie dieses noch zarte Tier, das aus dem Wald herunterkommt, um dort hinüber zu gehen, wo das Gebüsch dicht und artenreich und nahrhaft ist; nur dass Janis ein Mensch ist, der keinen Umweg machen muss, er ist nicht auf Futtersuche, sondern auf der Suche nach ihr, Claire. Er hat den Umweg, wohin auch immer, nur gemacht, um ihr nicht sofort ganz nahe zu sein, oder um sich Bedenkzeit zu verschaffen. Oder warum sonst? Es macht ihr nichts aus, wenn der kleine Rehbock sie sieht, wie sie den kleinen Rehbock sieht, mitten im Löwenzahn stehend, wenn sie am Morgen mit dem Schlafanzug draußen auf die Terrasse den noch ungewärmten Tag einatmet. Es macht ihr nichts aus, wenn das Tier sie so sieht, aber wenn sie sich nun, wo Janis vor ihr steht, vorstellt, dass er schon länger dort drüben auf dem Weg gestanden, sie schon länger beobachtet, und sie ihn erst mit Verzögerung wahrgenommen hat, dann ist das etwas anderes. Der Jährling trägt sein erstes Geweih, und seine scheckige Kinder-Decke ist jetzt ein braunes Sommerfell. Und er steht da in der Wiese, fünfzehn Meter von ihr entfernt und schaut sie an. Und sie steht da und schaut ihn an. Sie stehen Auge in Auge, das Tier und sie. Es ist das Tier, das sie nicht aus dem Blick lässt, still steht es da, sieht sie, scannt sie, bleibt, ruhig, bleibt ruhig stehen. Eine Minute, zwei Minuten, drei sogar, in denen nichts geschieht. Nur das junge Tier ist da und sie.

Und nun stehen der Junge und sie voreinander, sie sehen sich, sie schauen sich in die Augen, schauen sich beim Atmen zu und verharren. Der Junge wirkt selbstbewusst, anscheinend weiß er, was er tut, als er den Blick nicht abwendet, aber sie den ihren, weil ihre Augen wandern wollen, einmal an ihm hinabwandern, von den Haaren über den Hals, die Brust, die Arme, die Hände, den Bauch – sie sieht, er trägt einen Gürtel mit einer dicken Schnalle, den trug er im Camp nicht – weiter zu Beinen, den Füßen. Wie parallel seine Füße stehen.

Er hält inne, ich dachte, sagt er, ich komme einfach mal vorbei. Er schaut sie direkt an, nickt, als ob er sich selbst zunicken müsste.