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Vortrag zu Ruth Rehmann: „Produktive Beunruhigung“

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(c) Lina Muzur / Carl Hanser Verlag

„Kompliziertes einfach machen“ lautete das Motto des Festabends am 29. Juni in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zu Ehren der Schriftstellerin Ruth Rehmann, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. Am Abend las Gert Heidenreich mehrere Passagen aus ihrem Werk, u.a. aus den Romanen Der Mann auf der Kanzel und Die Schwaigerin. Den Vortrag über das Werk hielt Dagmar Leupold. Wir veröffentlichen diesen mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Vortrag wird voraussichtlich im April 2023 im Jahrbuch 36/2022 der Bayerischen Akademie der Schönen Künste beim Wallstein Verlag, Göttingen, erscheinen.

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Meist ist das (kommerziell lohnende) Ausrufen eines Gedenkjahrs – zuletzt Beethoven und Hölderlin – beziehungsweise, bei weniger prominenten Verstorbenen, das Erinnern an sie in einer knappen Radionotiz („Das Kalenderblatt“), im Regionalteil oder auch Feuilleton einer Zeitung um die runden Geburtstags- und Todestage herum, etwas pflichtschuldig und tönern. Wie auf Kommando wird die Windmaschine angeworfen – und zwei Tage später ist alles verflogen. Bis zur nächsten runden Gelegenheit. Aber immer mal wieder bin ich diesem schlichten Automatismus dankbar, dann nämlich, wenn es längst Vergessene wieder in Erinnerung ruft und würdigt, und, wie im Fall von Ruth Rehmann, sogar eine Neuausgabe ihres ersten Erzählungsbands Illusionen, erstmals 1959 bei Suhrkamp erschienen, vom Aviva-Verlag besorgt wird.

Ruth Rehmann wäre am 1. Juni 2022 einhundert Jahre alt geworden. 2009, da war sie 87, erschien im Hanser-Verlag ihr letzter Roman Ferne Schwester und rundete damit ihr Lebenswerk auf genau fünfzig Jahre ab. Der größte Erfolg war ihrem 1979 erschienenen Roman Der Mann auf der Kanzel: Fragen an einen Vater beschieden. Darin erstellt sie ein komplexes Porträt ihres Vaters, Pfarrer im rheinlandpfälzischen Auel, 1875 geboren, 1940 gestorben, ein Porträt, das die Etymologie des Worts ernstnimmt, bedeutet doch das lateinische „protrahere“ herausziehen, also auch das Sicht- und Verstehbarmachen, das sich nicht über den Blick erschließt. Es ist das Porträt einer starken Persönlichkeit und die Mentalitätsgeschichte einer Generation – es heißt ja Fragen an einen Vater, nicht den oder meinen –, die, von der Kaiserzeit und einem autoritären Glaubensverständnis – die Bibel als Kodex der Kirche – geprägt, zu spät erkennt, was sich spätestens ab 1933 anbahnt. Ich werde gleich auf den Roman zurückkommen.

Rehmann hat als Jugendliche und junge Frau die ungeheure, nicht nur physische, Vernichtungskraft des Zweiten Weltkriegs und die damit einhergehende Vertreibungsdynamik am eigenen Leib erfahren, 1945 floh sie aus dem Rheinland nach Oberbayern, ins Chiemgau, wo sie sich als Landarbeiterin und Barsängerin verdingte, später auch als Dolmetscherin, Journalistin und Übersetzerin. Sie blieb dem Chiemgau bis zu ihrem Tod im Jahr 2016 treu.

Ruth Rehmanns Werk und Person zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt, sprachliche Eleganz – gelegentlich, im Frühwerk, beinah spätexpressionistischen Furor – und durch politische Wachheit aus. Als Bürgerin engagierte sie sich in der Friedensbewegung und beim Umweltschutz. Und auch als Schriftstellerin nahm sie sich der Themen an, die die „Fehlrotation“ unseres Erdballs verursachen: soziale Ungleichheit, kriegerisch ausgetragene Konflikte um Dominanz in Machtsphären und bei der Ressourcenverteilung, Fragmentierung einer Öffentlichkeit, die längst nicht mehr als Agora einer Gesellschaft, als geteilter Debattenraum funktioniert. In ihrem literarischen Werk werden diese Themen freilich nicht diskursiv verhandelt, sondern in den Emotionen, dem Denken, dem Handeln und der Weltwahrnehmung ihrer Figuren verankert, wir erfahren, was sie bewegt: anschaulich, sinnfällig und psycho-logisch. Rehmanns Sprache hört man die Musikalität an, die sie als ausgebildete Geigerin und Sängerin mitbrachte. Der einleuchtenden (auch dramaturgisch wirkungsvollen) Komposition ihrer Werke entspricht auf intellektueller Ebene die gedankliche Schärfe ihrer Analysen, sowohl was zwischenmenschliche Beziehungen und die damit einhergehenden Verwerfungen angeht, als auch die Befassung mit denjenigen, die in Politik, Gesellschaft, Kirche und Geschichte das Narbengewebe des 20. Jahrhunderts bilden. Die Verwerfungen und Verstrickungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen werden engstens mit den historischen Gegebenheiten verknüpft und sind niemals allein individualpsychologisch zu erschließen. Die Annahme, man könne sich über Verletzungen und daraus resultierender Abwehr und Feindseligkeit hinweg verständigen, solange man guten Willens, vernünftig und der Sprache des Gegenübers mächtig ist, wird in Rehmanns Werk ausgesprochen skeptisch und hartnäckig hinterfragt. In immer neuen Varianten und Konstellationen – unterschiedliche Nationalitäten, Glaubensfragen, asymmetrische Liebesbeziehungen – sind auch die meist weiblichen Protagonistinnen von Rehmanns Romanen und Erzählungen von diesen Zweifeln bis zur Verzweiflung erfasst. Ihre Grundkonstitution gleicht der der Autorin: Produktive Beunruhigung.

Drei an den Krieg gebundene Erfahrungen – die von struktureller Gewalt, die der Fremdheit und die der Flucht – sind ihrem Werk tief eingeschrieben, oft scheinen ihre Themen bereits in den Titeln programmatisch auf, „Fremd in Cambridge“, „Unterwegs in fremden Träumen“. „Fluchtlinien“ lautet der Titel einer Geschichte im Erzählungsband Illusionen, und mit „Fluchten“ ist der erste Teil des Romans Ferne Schwester überschrieben.

Im Folgenden möchte ich mich in dem bereits kurz vorgestellten Roman Der Mann auf der Kanzel, dem Roman Fremd in Cambridge aus dem Jahr 1999 sowie der ungewöhnlichen Autobiographie Unterwegs in fremden Träumen. Begegnungen mit dem anderen Deutschland (unverständlicherweise nicht einmal mehr antiquarisch zu beschaffen) auf Spurensuche begeben, mit gelegentlichen Seitenblicken in weitere ihrer Werke.

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Rehmann ist in allen ihren Werken eine äußerst präzise Beobachterin und gewissenhafte Rechercheurin – die permanente Selbstbefragung, ja, geradezu Selbstexamination auf Spuren internalisierter Beeinflussung hin – „Bias“ würde man das heute nennen – ist besonders eindrucksvoll im Vater-Roman Der Mann auf der Kanzel nachzulesen. Die nachgeborene Tochter möchte – wie nach ihr viele Autoren und Autorinnen, u.a. Christoph Meckel, Uwe Timm, Stephan Wackwitz, ich selbst – das Schweigen brechen, das in der Familie, die Kriegserfahrung des Vaters betreffend, herrschte:

‚Wie hat er es denn genommen?‘ habe ich die Mutter gefragt, ‚Niederlage, Zusammenbruch, Kaiserflucht?‘ ‚Wir haben nicht darüber gesprochen‘, sagt sie. ‚Es tat ihm zu weh.‘

Und die nachgeborene Tochter legt sich, auch durchaus unter Schmerzen, Rechenschaft darüber ab, dass man erzeugt ist und es bleibt, Kind seiner Eltern, seiner Zeit, selbst wenn es der innigste Wunsch ist, entsprungen zu sein, sich als autonomes Ich zu behaupten. Auch in Der Mann auf der Kanzel ist es, wie später in ihren Lebenserinnerungen und in anderen Romanen, das Gesprächsformat, das eine kritische Selbstkorrektur gewährleistet: Auf der Meta-Ebene geschieht dies in der Auseinandersetzung mit der nachkommenden Generation, nämlich mit ihren Kindern, (denen das Werk gewidmet ist), insbesondere mit dem ältesten Sohn Thomas, der als Figur im Roman erscheint, und romanintern in der Befragung des Antagonisten des Vaters, dem (sehr alten) „roten“ Lehrer Limbach, der früh erkannte, was mit der Machtergreifung Hitlers auf das Land und die Kirche, die Gemeinde zukam. Rehmanns Blick ist streng, genau, aber niemals denunziatorisch. Lakonisch notiert sie über den fleißigen Vater (Goethe hätte es „thätig“ genannt), zu dem sie, als mit großem Abstand Jüngste, ein geradezu symbiotisches Verhältnis hatte („Wir zwei beide!“ lautet die Formel dieser innigen Verbindung): „Montags macht er frei wie die Friseure.“

Als sie im Zuge der Recherche ihren ältesten Bruder nach seinen Erinnerungen an den Vater, seiner Haltung gegenüber dessen problematischer „Mischung aus Glauben und Patriotismus“ befragt, ist dieser ablehnend, unkooperativ. Rehmann schreibt:

Wir trennten uns kühl, trotz geschwisterlicher Umarmung, die mir zum ersten Mal als Farce erscheint. Es wirkt etwas nach aus diesem intakten, liebreichen Elternhaus, das sowohl Streit als Verständigung verhindert: zu viel ‚Rücksicht‘ zu wenig Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, ein Harmoniebedürfnis, das Gegensätze verkleistert und Feindseligkeiten mit ihren heimlichen Ursachen im Dunkeln schwelen lässt.

Ich bedaure sehr, dass ich Rehmanns kluges, nachdenkliches und radikales Buch über die Verstrickungen von Geschichte und Lebensgeschichte nicht viel früher gelesen habe – umso dankbarer bin ich für die schöne Gelegenheit, dies anlässlich ihres hundertsten Geburtstags nachholen zu können.

Unterwegs in fremden Träumen erschien 1993, drei Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung. Es ist eine ungewöhnliche Autobiographie, weil Rehmann nicht chronologisch das eigene Leben, die Lebensstationen nachzeichnet, sondern in der Hauptsache von zwei historisch markanten (und problematischen) Zeitpunkten, Zeitbrüchen aus, nämlich 1947 und 1989/90, zentrifugal erzählt. Rückschau, auch ins Private, Skepsis und Zweifel der Schriftstellerin werden im Kontext der tektonischen Verschiebungen – es kracht gewaltig! – und Fliehkräfte erörtert. Und sind für ihr Schreiben konstitutiv.

1947 fand der erste Gesamtdeutsche Schriftstellerkongreß statt, der letzte vor der Teilung des Landes in Ost und West. Viele Prominente, auch prominente Exil-Heimkehrer waren unter den rund 250 Teilnehmenden, darunter Verleger, Kritiker, Berichterstatter und berühmte Autorinnen wie Elisabeth Langgässer, Ricarda Huch und Anna Seghers. Die Dokumentation des Kongresses umfasst 800 Schreibmaschinenseiten und „verschwand gleich nach dem Ende des Kongresses in den Katakomben der Bürokratie, unzugänglich für die Westforschung, die sich seitdem auf das Gedächtnis der Teilnehmer, auf Medienbeiträge und auf zensierte DDR-Publikationen beschränken musste“, wie es im Vorwort zum Buch heißt. Kurz vor der Aufgabe des Unternehmens „Bildwechsel“ (ihr Begriff) – eine Recherche, die die Nachkriegszeit und die Zeit des Kalten Kriegs bis 1989 umfassen sollte – funkte die Geschichte dazwischen, die Mauer bröckelte (auch wenn immer von Fall die Rede ist), wurde porös. Und die Archive wurden es auch.

Rehmann nutzt den Umbruch auch hier auf die für sie typische Weise, nämlich um sich einer skrupulösen Selbstbefragung zu stellen, ausgelöst durch die Parole „Wir sind das Volk!“, der Soundtrack der sogenannten Montagsdemonstrationen, auf die sie mit einer gewissen Verstimmung und Befremdung reagiert: Was habe ich, kleines, teils unerforschtes Stück Volk, von den Bildwechseln meiner Lebenswelt gemerkt? Was haben sie mit mir gemacht – 1933, 1945, 1968?

Tatsächlich richtet sich ihr Blick nicht nur auf die genannten Schlüsseldaten, sondern auch auf die späten 50er-Jahre, die McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten, die Vereinigungsjahre 1989/90, insbesondere auf das P.E.N.-Vereinigungstreffen 1990, aber auch auf die jüngste Gegenwart, die 90er-Jahre, in denen sie erste Anzeichen einer zunehmenden Ökonomisierung beobachtet, sie schreibt von „Marktzensur“ und dass „der Schriftsteller ein Glied der Warengesellschaft“ sei. Es ist eine gelegentlich geradezu inquisitorische, stets aber investigative Haltung, die Rehmann – und ihre Protagonistinnen und Erzählerinnen – den Ereignissen, den privaten wie auch den (kultur-)politischen Entscheidungen und Entwicklungen gegenüber einnehmen. Häufig haben die Autorin und ihre Figuren Zweifel an der Gültigkeit der Investigationsergebnisse, sehen sich Chaos und Beeinflussbarkeit ausgesetzt. Die Selbstüberprüfung als Fragestellerin fällt entsprechend streng aus und begleitet stetig alles Schreiben und Nachdenken.

Rehmanns Vorgehen in Unterwegs in fremden Träumen ruft nicht nur „Träume“ im Sinne von Hoffnungen und Utopieentwürfen auf, sondern macht sich auch formal die Traumlogik zu eigen: In Träumen verknüpfen wir assoziativ, also nach dem Ähnlichkeitsprinzip und fusionieren Zeiten und Räume in einen einzigen Zeitraum. Der Zeitverlauf ist nicht horizontal-linear, sondern vertikal geschichtet. Damit wird eine beklemmende Simultaneität der Umbruchsmomente erreicht, die die Begegnungen mit dem „anderen Deutschland“ kennzeichnen. Das andere Deutschland ist aus Sicht des Westens der Osten und umgekehrt, aber es ist auch das Deutschland des Nationalsozialismus, der nicht nur in Spurenelementen den Krieg überlebt. Und es ist ein generationell gespaltenes Deutschland, das der 68er und ihrer Nachkommen, die sich abwenden.

Um dem im Zitat genannten gefürchteten Chaos beizukommen, und, um möglichen Vereinnahmungen vorzubeugen, wählt Rehmann hier das journalistische Format des Interviews und sucht die ausgewählten Gesprächspartner, sofern sie noch leben, an vereinbarten Treffpunkten, oft den Wohnorten, auf, mit den bereits Verstorbenen hält sie Zwiesprache. In den Romanen übernimmt das Briefeschreiben diese distanzierende Funktion. Die „ferne Schwester“ Clara im gleichnamigen Roman ist folglich weniger Adressatin als Resonanzraum, der es Madeleine, der Ich-Erzählerin. erlaubt, ihre Erlebnisse – hier die Begegnung mit Algerien, dem Algerienkrieg, der Kolonialismus-Problematik – zu sortieren und zu überdenken. Selbstreflektion hat bei Rehman stets die Rolle eines Korrektivs und erhebt gewissermaßen eine dissidentische Stimme. So wird in Unterwegs in fremden Träumen immer wieder die Angst thematisiert, dass die Fragestellerin, die sich den ausgewählten Gesprächspartnern, darunter Stephan Hermlin, Walter Kolbenhoff, Steffi Spira, empathisch nähert, den jeweiligen Strategien der Selbstrechtfertigung, ihrer Suggestivkraft kritik- und wehrlos unterliegt. Auch Elisabeth Götte, die Lehrerin, die sich in Fremd in Cambridge nach dem traumatischen Scheitern als Pädagogin und Literaturvermittlerin eine Auszeit in der Fremde nimmt – hier taucht erneut das Fluchtthema wieder auf –, ist von der Furcht besessen, aufgrund der intrinsischen Ambiguität von Sprache und kulturell geprägter Verhaltens- und Kommunikationsformate das Urteilsvermögen und das Vertrauen in eine gelingende Verständigung einzubüßen – einbüßen zu müssen.

Als Elisabeth Götte zufällig auf einem ihrer einsamen Spaziergänge – das Verhältnis zum Sohn der Wirtsfamilie Jeremy wird immer problematischer – die Wittgenstein-Biographie von Ray Monk in einer Buchhandlung entdeckt und erwirbt, gewinnt sie einen Komplizen, einen Seelenfreund:

Ein asketisches, besessenes, einsames deutsches Gesicht, das mit ihrem augenblicklichen Seelenzustand wunderbar übereinstimmt. [...] Seitdem ist Wittgenstein immer dabei, als Exempel zum besseren Verständnis ihrer eigenen Fremdheit zwischen den Sprachen ...

Dass es auch eine Sprache gibt, die ganz ohne Ambiguitäten und Vertuschungsabsichten auskommt, die geteilt wird, haptisch und leitungsfähig ist, erfährt Elisabeth Götte als Kind von und mit ihrer Erzieherin Miss Eastwood. Ein Sturz bringt die Wende, und der Rekonvaleszenz-Prozess der Elisabeth Götte wird ein doppelter: Die Hüfte gesundet, und das Hadern weicht der Wittgenstein'schen Einsicht, dass „Vorliebnehmen [...] eine Denkbewegung [ist]“. Elisabeth Götte verlässt das Krankenhaus mit unbekanntem Ziel. Die Autobiographie – also die Lebensgeschichte der Autorin und die Geschichte ihres schwierigen Landes im 20. Jahrhundert – bietet keinen solchen versöhnlichen Schlusspunkt. Die Zuversicht, dass die Gespräche mit den Zeitzeugen und Akteuren der Umbrüche zu erhellenden Erkenntnissen führen, schwindet auf dem Hintergrund aktueller Ereignisse, auf die Euphorie der Vereinigung folgt die herzlose Abwicklung der einen Staatshälfte.

Und doch geschieht bei der an sich desillusionierenden Lektüre dieser beeindruckend nüchternen Lebensüberschau etwas Eigenartiges, ein Wohlgefallen kommt auf, etwas erhellt sich – und das hat mit der literarischen Qualität des Buchs, mit seiner Sprachwucht und der knappen, pointierten Eleganz zu tun, mit seiner Bildstärke und der ungeheuren Plastizität der Beschreibungen. Eine mit literarischen Mitteln betriebene Geschichtsschreibung ändert nichts an den Fakten, gehört aber keineswegs in den Bereich Kulinarik: Die „Lizenz“ der Literatur zur eigenständigen Kontextualisierung und Fiktionalisierung dient nicht der Verklärung, sondern der Aufklärung.

Als Beispiel dafür möge folgende Passage dienen, in der die Autorin / Erzählerin sich auf den Weg zu einem Treffen mit Melvin J. Lasky macht, dem Mann, der mit seiner Rede am Morgen des dritten Kongresstages eine Hymne auf die freiheitlich gesinnten Vereinigten Staaten anhebt (in „150 Jahren nie eine politische Zensur“), die sich der  „kulturelle[n] Barbarei des Hitlerregimes“ widersetzt hätten, und damit dezent unterstellt, es gäbe bei der sowjetischen Kulturpolitik der Nachkriegsjahre dazu Parallelen. Als Redner war er ursprünglich nicht vorgesehen, auch sein Status – Schriftsteller? – ist unklar. Er polarisiert mit seinen Einlassungen den Kongress, erhält riesigen Beifall von der einen und wütende Reaktionen von der anderen Seite. Rehmann analysiert klug und nüchtern diesen „Clash“ und beginnt wenige Seiten später den Bericht ihres Besuchs, gut vierzig Jahre nach dem Kongress. Sie verwebt in der für diese Autobiographie typischen Dramaturgie Gegenwart (der 90er) und Rückblick ins letzte Kriegsjahr 1945.

Rehmann weiß, im Unterschied zu so manchen ihrer tatsächlichen oder, in den Romanen, fiktiven Gesprächspartnern ihrer Protagonistinnen, dass „die Brille der Überlegenheit falsche Fragen und falsche Antworten“ hervorbringt, deshalb ist sie radikal unbebrillt unterwegs. Was keineswegs bedeutet, dass sie den eigenen Augen traut: Produktive Beunruhigung bedeutet eben auch, die eigenen blinden Flecken mitzudenken.

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