Chiffre wird Wirklichkeit: West-östliche Erinnerungen von Dagmar Leupold

Das vergangene Literaturfest München widmete sich Fragen an die Welt nach 1989". In ihrem Textbeitrag beschäftigt sich die Schriftstellerin Dagmar Leupold mit ihren Erinnerungen an die Zeitenwende. Vorgestellt und diskutiert wurde der Text neben weiteren von Katja HuberFridolin Schley und Tilman Spengler im Rahmen des forum:autoren am 23. November im Literaturhaus München.

Dagmar Leupold hat für ihr schriftstellerisches Werk etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman „Unter der Hand". Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr Roman „Die Witwen" war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dagmar Leupold lebt in München. Ende August erschien ihr hervorragender neuer Roman Lavinia.


Meine Ost-West-Geschichte beginnt lange vor dem Schaltjahr 1989. Bereits bei meiner Einschulung in die Kaiser-Wilhelm-Volksschule, im selben Jahr wie der Mauerbau, wusste ich: Das Morgenland liegt im Osten, das Abendland, also meins, im Westen. Dort ging die Sonne auf, hier ging sie unter. Die Ostzone – kein Mensch in meiner Umgebung sagte DDR –  war also das Morgenland. Morgenland war eine Projektionsfläche, eine freie Chiffre – synthetisch, beliebig besetzbar: von der Märchenerzählung bis zum ideologisch infiltrierten Narrativ. Kein Heimatkundeunterricht und, im späteren Schulleben, Geschichtsunterricht stellte dies in Frage – oder vielmehr richtig.

Wir hatten kein Fernsehen, aber ich erinnere mich dunkel an Meldungen im Radio im dramatischen Tonfall einer Elf-Meter-Ankündigung und an die angespannte Reizbarkeit meines Vaters, der sich jede Unterhaltung bei Tisch verbat, solange die Nachrichten liefen. Der 13. August 1961 setzte Standards: Fortan war alles, was offiziell über die Ostzone verlautbart wurde, im Genre Spannung und Konspiration angesiedelt. Beispielsweise der 17. Juni: Weißes Rauschen auf allen Kanälen. Frequenzbereich: Drama.

Pastoren und Lehrerinnen dagegen sprachen verschwörerisch – und ganzjährig! – von Brüdern und Schwestern. Mein Bedarf an Schwestern war eigentlich gedeckt, aber die Brüder waren mir hoch willkommen. Um Weihnachten herum forderte uns die Klassenlehrerin auf, nützliche Gaben für die Brüder und Schwestern der Ostzone in die Schule mitzubringen, wo sie dann in einer gemeinsamen Aktion eingepackt und zum Postamt gekarrt wurden. Niemals Zeitungspapier! Keine spitzen Gegenstände! (Welche hätten das wohl sein können: Nagelfeilen? Kämme zum Toupieren, die einen dünnen, stählernen Stiel hatten, der aussah wie der Stachel eines Rochen?), keine Genussmittel! (Ja, warum dann überhaupt etwas schicken?)

Also blieb’s bei Kaffee Hag koffeinfrei, Kochbeutelreis (Inbegriff des Fortschritts) und Taft-Vier-Wetter-Spray. Dem jeweiligen Päckchen wurden kurze Briefe beigelegt, die eine kleine Selbstauskunft enthalten und Festwünsche ausdrücken mussten. (Die Zurückhaltung, das Konfessionelle und Religiöse betreffend, erkannte ich später in der Childcare-Einrichtung meiner Tochter in New York wieder, wo strikte Neutralität geboten war: Happy Holiday statt Merry Christmas).

Ich teilte meinen unbekannten Brüdern und Schwestern Substantielles mit, zum Beispiel, dass ich am liebsten Blumenkohl mit Semmelbröseln, brauner Butter und Kartoffeln äße. Erste Erfahrung mit Neid: Warum konnte ich nicht Adressatin eines solchen Päckchens sein? Und, Stichwort Konspiration, Teilhaberin eines Geheimnisses, das noch in der harmlosesten Marmeladenkonserve kassiberhaft verborgen sein könnte. Ich fühlte mich in der falschen Hälfte behaust. Im Abendland, wie gesagt. Auch wenn das nicht der offiziellen Lesart entsprach, nach der ich im besseren Deutschland aufwachsen durfte.

In den späten 70er- und frühen 80er-Jahren erste Reisen nach Westberlin: Die Transitautobahn mit ihren Wachtürmen, die betonierte Fahrbahn, das eigenartige Gefühl von Monitoring bei Einkehr in den Raststätten – Spannung und Konspiration. Erst recht beim Übergang in den östlichen Teil der Stadt, der SPIEGEL im Gepäck wurde konfisziert, der Ausweis so unter die Lupe genommen, dass der schöne Verdacht, ich könne jemand anderes sein, sich bei mir selbst einschlich.

Und bewahrheitete, ich war eine andere: wenn ich eine Buchhandlung betrat und die schönen leinengebundenen Aufbau-Verlag-Gesamtausgaben in der Hand wog, bevor ich sie abschleppte. Wenn ich zwischen den schmucklosen Häuserreihen mit bröckelndem Putz ziellos herumspazierte und das Zweitakter-Ölgemisch wie eine Verheißung einatmete und, im Winter, die schwere Kohleheizungsluft dazu. Wenn ich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof die Verbündeten besuchte.

Diese Jahre waren meine Nostalgiephase, ich verklärte den Mangel zu Echtheit, die Repressionen zu Spannung –  die schlechteste Voraussetzung für kritische Würdigung. Diese Phase schloss insofern nahtlos an die kindliche Neidphase an, als auch sie von Unwissenheit geprägt war.

Ich verließ Deutschland, zog nach Italien (wo es, im Vespa- und Motorini-Getümmel nach demselben Ölgemisch roch) und von dort, fünf Jahre später, nach New York.

Am 9. November 1989 saß ich, ein schlafloses Neugeborenes im Arm, vor dem amerikanisch dimensionierten Bildschirm, um die Nachrichten auf ABC News zu verfolgen. Die kamen aber nicht, sondern, zu meiner Verwunderung, ein Film der Sorte Docu-Fiction über The Berlin Wall: Die Mauer ist gefallen. So etwas liegt den Amerikanern, Geschichte im optimistischen Großformat. Die deutsche Nationalhymne erklang, brüderlich mit Herz und Hand, die Brüder bestiegen die Mauer, taumelten, jubelten, Korken flogen, Champagner spritzte wie sonst nur bei der Formel-1, die hier durch hupende Trabis vertreten war. Mir rannen die Tränen zu Haydns Klängen, wie weit weg war das alles, sowohl geographisch wie politisch: Ungeteiltes Deutschland? Never!

Plötzlich war der Film zu Ende, der Anchorman erschien hinter seiner wuchtigen Nachrichtentheke und verkündete, getting back to news from the United States, dass der Kongress die Erhöhung des Mindestlohns von $ 3.35 auf $ 4.45 beschlossen habe, Präsident Bush würde die Gesetzesvorlage am 17. November unterschreiben.

Das Morgenland ging unter – endlich! Und wurde Wirklichkeit: Schwierige, interessante, herausfordernde Wirklichkeit. Mit Akteuren, die nicht länger Statisten in einem vom Westen geschriebenen Drehbuch waren, sondern Gegenüber, Gesprächspartner, Freunde.

Ach ja, München: Dorthin zog ich, von West nach Ost, im Jahr darauf, 1990. Und bin noch immer Ankömmling. Status: Schön fragwürdig.