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07.11.2019, 13:25 Uhr
Ingo Schulze
Krieg und Frieden 1939/1989
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© Gaby Gerster

Ingo Schulze über den Mauerfall '89 und seine Pläne für das Literaturfest München

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Das Brandenburger Tor am 1. Dezember 1989. Das Tor ist von der Ostberliner Seite bereits frei zugänglich, die offizielle Öffnung des Übergangs zum Westen am 22. Dezember steht noch bevor

Das Literaturfest München feiert vom 13. November bis zum 1. Dezember seinen 10. Geburtstag und begeht gleichzeitig noch ein weiteres Jubiläum: 30 Jahre Mauerfall. Der Schriftsteller Ingo Schulze hat sich in Romanen wie Simple Storys (1998), Neue Leben (2005) und Peter Holtz (2017) immer wieder mit den Umbrüchen von 1989/90 und deren Folgen beschäftigt. Im Rahmen des Literaturfests möchte er als Kurator des forum:autoren den Blick vor allem auf die internationalen Auswirkungen richten. Marina Babl hat mit ihm vorab darüber gesprochen. Das Interview ist zum Schwerpunktthema Krieg und Frieden soeben auch in der Zeitschrift Literatur in Bayern erschienen.

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LITERATURPORTAL BAYERN: Einübungen ins Paradies. Fragen an die Welt nach 1989 – so lautet Ihr Motto für das diesjährige forum:autoren. Welches Paradies und was soll da eingeübt werden?

INGO SCHULZE: Die Begriffe Paradies und Einübung passen im Grunde nicht zusammen, denn ein Paradies bedeutet doch die Erfüllung aller Wünsche. Schwierig wird es, wenn das Paradies behauptet wird, doch jene, die es bewohnen sollen, es als problematisch empfinden, aber damit zurechtkommen müssen. Sie versuchen, sich einzuüben. Für mich gibt es Analogien zu der Welt, wie ich sie nach 1989 kennengelernt habe. Es wird aber am Samstag, dem dritten Tag des Festivals, auch eine Diskussionsrunde geben, in der Paradiesvorstellungen und die entsprechenden Analogien zum Thema gemacht werden.

 

Sie haben einmal gesagt, Sie seien kein großer Fan der Begriffe Wende und Wiedervereinigung. Warum?

Wende ist ein Begriff, den man von der sogenannten Bonner Wende kennt, als die FDP nicht mehr mit der SPD koalierte, sondern mit der CDU. Zudem weiß ich noch, wie Egon Krenz behauptete, das Politbüro habe die Wende eingeleitet. Der Begriff kommt von ihm und ist eine Verharmlosung für das, was da passiert ist. Es war ein Weltenwechsel, ein Umbruch, eine Revolution, eine Zeitenwende – aber keine Wende. Der Begriff Wiedervereinigung ist wiederum insofern irreführend, als das eine neue Verfassungsdiskussion notwendig gemacht hätte. Wolfgang Schäuble erwiderte bei den Beitrittsverhandlungen auf seiner Ansicht nach überzogene Forderungen aus dem Osten sinngemäß: Liebe Leute, das ist ein Beitritt, keine Vereinigung. Mit dem Beitritt wird klar: Aus A und B wird ein größeres A und nicht ein großes C.

 

Sie haben den Mauerfall persönlich miterlebt. Was ist das erste Bild, das Ihnen in den Kopf kommt, wenn Sie an die Geschehnisse von 1989 zurückdenken?

Das ist keineswegs der Mauerfall. Das sind die Demonstrationen in Leipzig, aber vor allem auch in der Kleinstadt Altenburg, in der ich damals lebte. Der Mauerfall war ein herausragendes Ereignis unter anderen. Für mich war es genauso wichtig, dass wir uns das Recht zur freien Meinungsäußerung erkämpft hatten, dass wir uns versammeln konnten und Parteien gründen. Und vor allem, das hatten wir dem Westen voraus, dass wir unsere eigenen Chefs und Leiter wählen konnten. Das fand ich großartig. Das war ein souveräner Akt, die Macht selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Prozess ist zu meinem großen Bedauern durch den Beitritt in aller Regel annulliert worden.

 

Was hat sich in Deutschland seitdem verändert?

Im Osten hat sich alles verändert, von der Liebe über das Geld bis zur Luft. Der Westen, zu dem ja dann auch der Osten gehörte, hat sich durch den Wegfall des Systemwettbewerbes in eine Richtung entwickelt, die es für die Lohn- und Gehaltabhängigen schwerer gemacht hat. Das Gemeinwesen wurde oft regelrecht enteignet, man vertraute auf den Markt als regulierende Instanz. Jener Westen, der im Herbst 1989 noch bestand, hat sich im Grunde selbst abgeschafft.

 

Nun wollen Sie sich im Rahmen des Literaturfests vor allem auch intensiv mit der internationalen Bedeutung von 1989 beschäftigen. Wieso ist Ihnen dieser Fokus wichtig?

Weil es meine Erfahrung ist, dass diese Zeitenwende überall eine Rolle gespielt hat. In nicht allzu ferner Zukunft wird China die ökonomische Nummer 1 sein. Das hat viel mit ‘89 zu tun. Dasselbe gilt für Indien, das ja auch eine Art sozialistisches Land gewesen ist. Nelson Mandela hätte die Schlüsselindustrien verstaatlicht, wenn es ‘89 nicht gegeben hätte. Überhaupt hatte es auf afrikanische und arabische Staaten einen großen Einfluss. Ich bin neugierig, inwieweit sich das auch in der Literatur nachweisen lässt, wie die Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt das mit ihren Erfahrungen beurteilen.

 

Der Mauerfall liegt inzwischen 30 Jahre zurück, doch wenn man die politischen Entwicklungen der letzten Jahre in Europa und an den EU-Außengrenzen betrachtet, stellt sich die Frage: Wurden neue Mauern errichtet?

Zugespitzt gesagt ließe sich die These aufstellen: Dadurch, dass der Westen sich als Sieger gefühlt hat, haben wir zivilisatorisch 30 Jahre verloren. Ich meine damit, dass die Notwendigkeit, über existentielle Menschheitsfragen nachzudenken, durch den Neoliberalismus zurückgedrängt wurde. Allerspätestens 2008, als die Finanzkrise alles erschütterte, hätte man aufwachen müssen. Die eigentlichen Probleme lassen sich nicht durch Technologie lösen, auch wenn es nicht ohne Technologien gehen wird. Was bedeutet es denn, wenn der Kampf gegen die Ursachen der Flüchtlingsbewegungen verkündet wird? In den afrikanischen Ländern wird die Bevölkerung in den nächsten zwanzig Jahren stark anwachsen, sich beinahe verdoppeln. Das wird einen enormen Druck auf Europa erzeugen. Wie löst man das? Marktwirtschaftlich ist das meiner Ansicht nach nicht zu machen.

 

Was soll und kann ein Literaturfest bei all dem leisten?

Das wird sich zeigen. Ich erhoffe mir, danach die Welt etwas anders zu sehen als vorher, weil ich dann über andere Erzählungen und damit auch über andere Erfahrungen verfüge, vielleicht manches schärfer sehe, bei manchen Fragen strenger oder gelassener geworden bin. Ich erhoffe mir eine Erweiterung meines Gesichtskreises. Und das alles auf eine lustvolle, also poetische Art und Weise.