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Kultur trotz Corona: „Alte Geschichten“. Von Ulrike Schäfer

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Bild von S. Hermann & F. Richter auf Pixabay

Ulrike Schäfer (*1965 in München) wuchs in Schweinfurt auf, studierte Germanistik, Philosophie und Informatik und war bis 1994 als Lehrbeauftragte an der Universität Würzburg tätig. Danach arbeitete sie als Softwareentwicklerin und -beraterin. Seit 2007 veröffentlicht sie Kurzgeschichten und Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, außerdem bietet sie Schreibwerkstätten und Beratung für Schreibende an. Für ihren Prosatext „Nachts, weit von hier“ wurde Ulrike Schäfer 2014 mit dem Jurypreis des Irseer Pegasus ausgezeichnet. Darüber hinaus erhielt sie weitere Auszeichnungen und Förderungen, u.a. den Leonhard-Frank-Preis für Dramatik (2014) sowie den Kulturförderpreis der Stadt Würzburg (2017).

Schäfer ist u.a. Beisitzerin im Vorstand des VS Bayern, Stellvertreterin für die Sparte Literatur im Kulturbeirat der Stadt Würzburg sowie Sprecherin im Autorenkreis Würzburg. Mit der Autorengruppe liTrio und auf der Lesebühne Großraumdichten & Kleinstadtgeschichten tritt sie in gemeinsamen Programmen auf. 2015 erschien Schäfers erster Erzählband Nachts, weit von hier bei Klöpfer & Meyer.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Textauszug, der im September 2021 in einer Krimi-Anthologie bei Gmeiner erscheinen wird, beteiligt sich Ulrike Schäfer an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

*

Alte Geschichten

 

Es passierte in dem Frühjahr, in dem sie öfter bei Ina war. Auch an diesem Samstag wollte sie zu ihr fahren. Und natürlich blieb es mit Ina verbunden, auch später, auch aus anderen Gründen. Wenn sie daran dachte, dann dachte sie an Ina.

Und an die Frau, die sie nie gekannt hatte.

Normalerweise war es Ellen, die von Zeit zu Zeit anrief, und es war Ina, die sich nie meldete. Und dann meldete sie sich doch, eines Tages Mitte Februar. Was Ellen so mache. Sie nannte sie Schwesterherz, ihre Ironie klang merkwürdig angestrengt, und sie hörte sich erkältet an.

Ellen berichtete von ihren Plänen einer sanften Renovierung der Buchhandlung, der Boden hinten müsse endlich erneuert werden, und wenn sie schon dabei war: Wände streichen, eine Sesselecke einrichten. Ina sagte „Hm, hm“ und „Ah, ok“, und als das Gespräch irgendwann austrocknete, erklärte sie, sie sei vielleicht schwanger, und Ellen begriff, dass sie nicht erkältet war, sondern verheult.

Ellen brachte Lamm, Kartoffeln und Rosmarin mit. Während sie in Inas Küche schnippelte, briet und dämpfte und ihr irgendwann der Verdacht kam, nicht durchgegartes Lammfleisch gehöre zu den verbotenen Dingen während einer Schwangerschaft, saß Ina am Küchentisch und redete über eine Mars-Sonde, die wegen eines Umrechnungsfehlers verloren gegangen war, über weibliche Seeschnecken, denen ein Penis auf dem Kopf wuchs, und darüber, dass Ego-Shooter die Entscheidungsfähigkeit fördern sollten. Sie hatte ein Faible für Forschung und Abstruses und ein phänomenales Gedächtnis.

Ina trank Tee zum Lamm, Ellen Rotwein. Sie verkniff sich die Frage, was „vielleicht“ hieß. Und ob dieses Vielleicht das war, worüber sie nicht sprachen, oder Ina schon in eine andere Phase übergegangen war.

„Komm ja nicht so schnell wieder!“ Es war der Code von früher: als Ruppigkeit getarnte Zuneigung. Es war so lange her, dass es Ellen einen Stich gab. Sie hatte das Gefühl, nicht zu fest auftreten zu dürfen, um es nicht zu zerbrechen.

Beim nächsten Mal zog Ina die DVD aus dem Regal, die sie Mutter zum fünfundsechzigsten geschenkt und wenig später aus ihrem Nachlass gerettet hatte, digitalisierte Fotos und Filmchen. „Der ganze alte Plunder. Hab die gar nicht mehr angesehen.“

Sie hangelten sich an den Aufnahmen vor, tauschten Fragmente von Familienanekdoten wie Witz-Anfänge: Kennst du den? Wie immer staunte Ellen darüber, wie früh Inas Erinnerung einsetzte, und dass sie Details beschreiben konnte, die ihr selbst nicht mehr präsent waren, obwohl sie acht Jahre älter war.

Auf den späteren Fotos wirkte Mutter ein bisschen angestrengt, ein bisschen blass, mehr sah man ihr nicht an. Und dann kamen Bilder, mit denen Ellen gar nicht gerechnet hatte: Sie selbst und ihre Mitbewohnerinnen in ihrer ersten WG. Das Werbefilmchen aus der Kneipe, in der sie gejobbt hatte. Auf den Stufen der Uni in Helsinki mit Kommilitonen. Die Häufung von Fotos aus der Zeit, nachdem sie fortgegangen war, war ihr ein bisschen peinlich.

„Du warst so unglaublich cool“, sagte Ina. Das Wort verblüffte Ellen, noch mehr die Tatsache, dass keinerlei Ironie darin mitschwang. Ellen war 17 gewesen, als sie ausgezogen war. Sie hatte Ina gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt, aber das Gefühl der Überforderung und der Drang, aus allem herauszukommen, waren stärker gewesen.

Sie wollte etwas erwidern, zögerte jedoch. Ina hatte immer schon die Eigenart gehabt, plötzlich mit offenem Visier vor einem zu stehen und, wenn man es ihr dann gleichtat, etwas Alltägliches zu sagen, wie wenn sie einen Schalter an- und ausknipste. Und man selbst blieb dann zurück, beschämt, als hätte man alles falsch verstanden.

„Noch Rotwein?“, fragte Ina, die Hand schon an der Flasche, und der Moment war vorüber.

An dem Abend wurde es spät in der Buchhandlung, Ellen hatte noch die Abrechnung gemacht und die Sesselecke eingerichtet. Das große Licht hatte sie schon ausgeschaltet und stand vor der Tür zum Hof, ihre Handtasche in der Hand. Dann fiel ihr ein, dass sie Ina das Buch hatte mitbringen wollen, das noch auf dem Tischchen lag, also ging sie nach hinten, und dann konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sich noch einmal in einen der neuen Sessel zu setzen.

Sie sah auf die Kuckucksuhr, die jetzt wieder am Wandvorsprung zwischen den Kinder- und Jugendbuchregalen hing, und strich über den weichen Stoff des Sessels, nahm dessen neuen, fremden Geruch wahr. Auch der Geruch nach frischer Farbe lag noch hauchdünn in der Luft. Der lichte Orangeton war merkwürdigerweise erst jetzt die richtige Wahl, seit die Uhr wieder an ihrem Platz hing. Der Kuckuck klemmte seit Jahren im Häuschen und kam nicht mehr heraus.

So würde es sein, wenn jemand hier hinten saß und schmökerte. Sie schlug das Buch auf. Das Original musste verschüttgegangen sein.

Sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war, es Ina mitzubringen. Vielleicht war es ein zu unverblümter Verweis auf die Vielleicht-Schwangerschaft. Oder auf früher. Oder beides. Ihre Augen brannten, sie schloss sie für einen Moment. Wehmut überkam sie, zugleich Glück. Es war die erste Renovierung seit Jahrzehnten. Selbst der Abschied von dem kreisrunden Stück Teppichboden war ihr schwergefallen, ein eingesetzter Flicken, dessen Rand immer deutlich sichtbar geblieben war. Und dennoch. Es ist alles richtig so, dachte sie. Alles richtig. Ein rundes, weiches Gefühl in einem Kokon aus Zeit.

Sie erwachte von einem Geräusch, das so leise war, als hätte sie es geträumt. Unwillkürlich sah sie zur Kuckucksuhr. Es war fast elf. Das Buch rutschte ihr vom Schoß und glitt auf den Boden. Sie hob es auf und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung vorne an der Ladentheke.

Der Mann machte sich an der Kasse zu schaffen. Er bemerkte sie im gleichen Moment und wandte sich abrupt in ihre Richtung. Sie sah nur seine Konturen, er hatte kein Gesicht. Die Seitentür zum Hof stand offen.

Blitzschnell bewegte er sich zur Tür und verschwand. Erst jetzt spürte sie ihren Herzschlag.

Ich muss mich um das verdammte Sicherheitsschloss kümmern, durchfuhr es sie. Oder hatte sie die Tür offen stehen lassen?

Dann hörte sie Schritte im Hof, hastig. Sie kamen näher.

Er kam zurück.

„Dein Auto?“ Sie nickte.

Er schloss die Tür hinter sich. „Die Schlüssel.“

„Ich hab sie in der Tasche.“ Sie hielt ihre Tasche hoch, angstvoll und zugleich beschämt über ihre Bereitwilligkeit.

„Komm her.“

Sie stand auf und ging langsam auf ihn zu.

„Schneller!“

In einiger Entfernung blieb sie stehen. Sie hatte immer noch das Buch für Ina in der Hand, ein Teil von ihr registrierte es, als ob sie sich selbst zusah. Sie nahm es in die andere Hand und griff in ihre Handtasche. Er brüllte: „Still!“

Sie schrak zusammen.

„Du hältst die Hände still!“

Sie war in der Bewegung erstarrt, die Hand halb in der Tasche. Er trat auf sie zu und riss sie ihr aus der Hand. Dann wich er zurück, stand da, als wisse er nicht weiter. Schließlich ließ er die Tasche auf den Boden fallen.

„Die Kasse.“

Er war ihr im Weg, so kam sie nicht hinter die Ladentheke. Er trat zur Seite und sah sich dabei hektisch um, schien das Schaufenster zu bemerken, die Bühne, auf der sie standen, im schwachen, untrüglichen Schein der Nachtbeleuchtung.

„Da hinter. Hinter!“

Sie musste ihm vorausgehen. Sie wusste nicht, ob sie zu schnell oder zu langsam ging, fragte sich, ob sie die Hände heben sollte, wagte aber nicht, eine Bewegung zu machen, die er nicht erwartete.

Als sie hinten bei der Sitzecke angelangt waren, rief er: „Setz dich auf den Boden. Auf den Boden!“

Sie ging, so langsam sie konnte, zu Boden. Erst als sie eine Weile unten saß und nichts geschah, wagte sie, zu ihm aufzusehen.

Er war jünger, als sie zuerst gedacht hatte, vielleicht Mitte zwanzig. Drahtig. Ein scharf konturiertes Gesicht.

Ihr Blick schien ihn zu verunsichern. Er fing an, vor der Zwischenwand auf und ab zu laufen, die ihn vom Schaufenster abschirmte.

„Ich muss nachdenken.“ Er hatte jetzt einen anderen Ton, klang fast entschuldigend.

Vielleicht hat er das noch nie gemacht, dachte sie. Vielleicht erschrickt er selbst über das, was er da tut.

Er ließ sich auf einen der Sessel fallen und stützte den Kopf auf beide Hände, schnaufte tief durch. Saß still. Verharrte in der Haltung, die Hände vorm Gesicht.

Zeit verstrich. Sein Atem ging gleichmäßig.

Vielleicht war er eingenickt. Sie konnte es kaum glauben, wusste nicht, ob sie es hoffen sollte. Es würde ihr die Entscheidung auferlegen, ob sie versuchen sollte zu fliehen. Sie verwarf den Gedanken sofort. Von hier hinten, auf dem Boden kauernd, war es aussichtslos. Überhaupt wirkte er schlafend – wenn er denn schlief – nicht weniger bedrohlich auf sie. Er kam ihr fahrig vor, aggressiv und zugleich unsicher. Er konnte aufschrecken, und dann konnte ihm klar werden, wie leichtsinnig er war. Herumzuschreien in der Stille der Nacht. Er konnte nicht wissen – jedenfalls glaubte sie das nicht –, dass über der Buchhandlung und im Hinterhaus gegenüber niemand wohnte. Der Gedanke erfüllte sie mit grenzenloser Hoffnungslosigkeit. Sie befand sich mitten in der Stadt und war doch vollkommen allein mit ihm.

Dann sah sie, dass er zuckte. Er schlief nicht.

Er weinte.

[...]

 

Die vollständige Erzählung erscheint am 8. September 2021 als Kurzkrimi in der Anthologie Mord in der Buchhandlung. 14 Todesfälle zwischen den Zeilen, Hg. v. Thomas Kastura, Gmeiner-Verlag. Vorveröffentlichung des Textauszugs mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier: www.gmeiner-verlag.de/buecher/titel/mord-in-der-buchhandlung.html

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