„Frau Boge träumt von Schnee“. Von Ulrike Schäfer

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Ulrike Schäfer (*1965 in München) wuchs in Schweinfurt auf und lebt in Würzburg. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Informatik war sie Dozentin für deutsche Sprachwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Würzburg, danach Softwareberaterin. Heute ist sie freie Autorin und Schreibcoach. Sie schreibt Prosa, Theaterstücke und Lyrik. Für ihre literarische Arbeit wurde sie u.a. mit dem Würth-Literaturpreis und dem Leonhard-Frank-Preis für Dramatik ausgezeichnet. 2015 erschien ihr Erzählband Nachts, weit von hier. Ihre Bühnenfassung des Romans Die Jünger Jesu von Leonhard Frank wurde 2015 am Mainfranken Theater Würzburg uraufgeführt, 2016 das musikalische Schauspiel Ein Widder mit Flügeln. Sie tritt u.a. mit der Autorengruppe liTrio und der Lesebühne Großraumdichten & Kleinstadtgeschichten auf und bietet Schreibwerkstätten und Beratung für Schreibende an.

Mit dem folgenden bislang unveröffentlichten Text beteiligt sich Ulrike Schäfer an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Es gibt einen Punkt in dieser Nacht, an dem sich die Träume von Hanna und Frau Boge überschneiden. Dann fließen sie wieder auseinander, und während Hanna am Morgen mit dem Klingelton des Smartphones die Augen aufschlägt, hastet Frau Boge weiter über Dornenfelder, auf der Flucht vor der Meute, die hinter ihr her ist, einem zittrigen Schimmern am Horizont entgegen, von dem sie nicht weiß, was es ist.

Als Hanna später an diesem Tag an der Straßenbahnhaltestelle steht, sieht sie drüben auf dem Marktplatz eine Menschenmenge. Ein rotes Plakat, auf dem sie aus der Entfernung nur AHA FREIHEIT entziffern kann, und auf einem anderen STOPPT PUTSCH. Im Kollegenkreis wurde über die angekündigte Demo schon die letzten Tage gesprochen. Einer erklärte, er wolle die am liebsten mal mit auf die Station nehmen („schleifen“, sagte er).

Sie selbst empfindet diese Wut merkwürdigerweise nicht. Die Menschen und die bunten Plakate kommen ihr surreal vor, wie sie überhaupt seit dem Aufwachen ein Gefühl von Unwirklichkeit hat. Die Welt scheint ihr absurde Botschaften zu senden. Jetzt zum Beispiel entdeckt Hanna eine Frau mit einem durchsichtigen Plastikeimer auf dem Kopf, der sie an ihren Traum erinnert. Ein solches Visier trug sie, genau wie die Frau mit ausgeschnittenem Schlitz für die Augen. Im Traum stand sie im Flur der Isolierstation mit diesem Witz von einer Maske, vollkommen ungeschützt.

Als sie an diesem Morgen dann tatsächlich auf das Zimmer vor der Isolierstation zugeht, setzt ein Gefühl wieder ein, das sie inzwischen kennt: etwas Dumpfes oberhalb des Magens. Zu schwach, um es Drücken zu nennen, eher wie wenn etwas in ihrer Körpermitte ganz leicht Richtung Boden zieht. Eine zusätzliche Schwerkraft. Seit einigen Wochen spürt sie es, wenn sie hier ankommt. Erst hat sie versucht, dagegen anzugehen. Dann hat sie sich angewöhnt, ihre Aufmerksamkeit ganz darauf zu richten. Keine Gedanken. Nur das Ziehen wahrnehmen.

Bei der Übergabe sieht sie in müde Gesichter und erfährt, dass ein weiterer Patient inzwischen ohne Prognose ist.

Sie wird heute Frau Boge übernehmen, außerdem Tim S. und einen Neuzugang. Frau Boge hat immer noch hohes Fieber, aber ihre Lunge hat sich stabilisiert. Das Weaning soll heute eingeleitet werden. Tim S. (den alle Timmi nennen) ist mehr oder weniger unverändert.

Sie zieht sich um und geht durch die Schleuse, legt die Schutzkleidung an, dann ist sie drin. Sie beginnt den Bettplatzcheck bei Timmi. Der Name steht in eigenartigem Gegensatz zu seiner Statur, er ist groß und kräftig, durchtrainiert. Vierunddreißig, keine Vorerkrankungen. Ein Kämpfer. Er kämpft. Atmet, atmet unter der Maske, erst High Flow, jetzt CPAP, ein Marathon. Er wirkt erschöpft, schafft aber doch ein Lächeln und zeigt ihr die Nachricht seiner Freundin auf dem Smartphone, Grüße und Küsse an alle auf der Station. Sie ahnt, dass diese Leichtigkeit die Freundin große Anstrengung kostet und nur schriftlich möglich ist. Sie hat schon einmal mit ihr gesprochen, als Timmi zu erschöpft war und sie einen Tag bis abends ohne Nachricht blieb. Als Hanna ihr sagte, dass alles in Ordnung ist, fing die Freundin zu weinen an und musste auflegen.

Hanna stellt die Alarme ein und geht hinüber zu Frau Boge. Während sie sie begrüßt – guten Morgen Frau Boge, ich bin Hanna –, gräbt diese sich gerade durch einen Fuchsbau, der unter einem Maschendrahtzaun auf die andere Seite führt und eigentlich zu schmal für sie ist. Sie muss gleichzeitig graben und sich durchzwängen, graben, graben, zwängen. Erdklumpen kleben an ihrer Stirn, kühl an ihrer heißen Stirn.

Hanna nimmt die Hand von Frau Dorays Stirn, horcht die Lunge ab, den Magen. Erst der Augenschein, dann abhören, dann die Daten ableiten von den Anzeigen. Prüft alles, dann fährt sie langsam die Sedierung runter.

Das geschieht hier drin, in der Isolierstation wie in einer Raumkapsel. Draußen auf dem Marktplatz schreit die Frau mit dem Eimer auf dem Kopf „Ihr Schlafschafe!“ an zwei Frauen gerichtet, die von einem Reporter und einem Kameramann interviewt und dabei gefilmt werden. Während Frau Boge hier drinnen liegt und vermeintlich schläft, jedoch alles andere als ein Schlafschaf ist. Sie hastet über einen Acker und gerät unversehens in eine andere Vegetation, betritt vereisten Boden (sie hat immer noch hohes Fieber und träumt erstaunlicherweise von Schnee). Jetzt bleibt sie stehen und dreht sich um, blickt ihren Verfolgern entgegen. Sie entdeckt einen leeren Eimer auf dem Boden, an dem sie schon mal vorbeigekommen ist, vor Stunden, sie muss sich die ganze Zeit im Kreis gedreht haben. Genau das denkt sie im Traum, und tatsächlich hat sie von dem Eimer schon geträumt, vor Stunden, vielleicht eine Wirkung des Delirs, das sie immer wieder sachte auftauchen lässt aus einer Landschaft aus Weiß in eine Landschaft aus Weiß und wieder zurück. Ein Eimer. Es ist die Überschneidung mit Hannas Traum von letzter Nacht, eine dieser vom Zufall hingestreuten Überlappungen. Frau Dorays Eimer allerdings ist nicht durchsichtig, sondern rot. Sie stülpt ihn sich über die Hand wie eine zweite, blutige Faust und geht zum Angriff über.

Frau Boge wird wacher und immer unruhiger in ihrem Delir und kämpft gegen den Tubus an. Hanna klingelt nach dem Arzt.

Draußen auf der Demo befragt der Journalist eine der beiden Frauen gerade, warum sie gegen die Impfung sei. Das fühle man, antwortet diese. Wir vertrauen unserem Gefühl nicht mehr, DAS ist das Problem. Jeder hat ein Wissen hier drinnen (sie legt die Hände auf ihren Oberkörper, auf Höhe der Lungenflügel). Der Kameramann filmt, dann verwackelt das Bild, der Journalist wird von einem Mann mit Motorradhelm abgedrängt, und das Video endet abrupt. Es dampft hoch da draußen, Polizeieinsatz. In den 17-Uhr-Nachrichten wird darüber berichtet, dann weitere Meldungen, ein Vertreter der Gastronomie wird zitiert, der Lockdown würde für viele Betriebe zum Showdown.

Frau Boge legt auch einen Showdown hin, setzt zum großen Befreiungsschlag an. Um ihr Bett ist nun hektische Betriebsamkeit. Den Tubus rausziehen, gegen den sie sich so heftig wehrt? Es kann schiefgehen. Es kann ein, zwei Stunden gut gehen, auch einen Tag, und dann müssen sie womöglich wieder intubieren, wenn alles zugeschwollen ist, ein Risiko. Alles andere ist aber ebenfalls riskant. Sie entscheiden sich für Extubieren, und in dem Moment, als der Tubus draußen ist, geht der Alarm von Timmi los. 

Er war in Ordnung, als Hanna ihn verlassen hat. Sie kann Frau Boge jetzt nicht allein lassen, also geht der Arzt rüber zu Timmi, und sie bleibt hier. Frau Boge hustet, das ist ein gutes Zeichen. Hustet und atmet. Atmet. Es kann immer noch kippen, aber für diesen Moment ist alles gut.

Später, als sie Frau Boge versorgt hat, geht sie zu Timmi. Er ist in Panik geraten, hatte Angst zu ersticken. Er hat ein Beruhigungsmittel bekommen, jetzt geht es. Er kann nicht sprechen, ist erschöpft, aber es geht.

Sie verabschiedet sich, und als sie sich vor seiner Tür noch einmal zu ihm umdreht, macht er das Victoryzeichen. Die Geste gibt ihr einen Stich.

Er atmet jetzt wieder tapfer und ruhig ein und aus, ein und aus, seine Angst-Attacke ist überstanden. Sie weiß nicht, ob sie seine Geste richtig gedeutet hat. Ob es möglich ist angesichts seiner Situation, dieser permanenten Bedrohung. Sie kann sich nicht vorstellen, dass so etwas wie Ironie irgendjemandem möglich ist, der das durchstehen muss, aber genauso hat sein Victoryzeichen auf sie gewirkt: wie eine traurige ironische Geste.

Als sie nach Hause fährt, sind von der Demo nur leere Flaschen und Papierfetzen übrig. Sie wird nichts von den Nachrichten darüber lesen oder sehen. Sie ist eigentlich ein Nachrichten-Junkee, aber seit einigen Tagen merkt sie, dass es ihr zu viel wird, wie sie überhaupt merkt, dass etwas ins Kippen geraten ist.

Sie verpasst die Nachrichten des Tages. Alle bis auf eine.

Als sie nach Hause kommt, hört sie einen Mann in einer fremden Sprache sprechen, dann die eines anderen Mannes darübergelegt, offenbar der Übersetzer: „Ich denke, dass wir gescheitert sind.“ Das Gefühl von Unwirklichkeit überkommt sie wieder. Die Stimme erinnert sie an die eines Patienten, der zu ihr gesagt hat: „Sie sind mein Geleitschutz auf die andere Seite.“ Auch einer dieser Sätze, die eigentlich gar nicht möglich sind. Es ist aber natürlich nicht seine Stimme, denn dieser Patient ist verstorben, verstorben wie so viele. Die Stimme kommt aus dem Fernseher, und die Ähnlichkeit ist mit den nächsten Worten verschwunden. Sie streift die Schuhe ab, geht in die Küche und lässt sich Leitungswasser in ein Glas. Wenn ihr Dienst zu Ende ist, kann sie ihren Durst kaum stillen, so schwitzt sie unter der Schutzkleidung, und weil sie ewig nicht aufs Klo kann, trinkt sie nichts. Danach dann immer Durst ohne Ende.

Sie geht rüber ins Wohnzimmer und fragt Lukas, der auf dem Sofa sitzt mit dem Laptop auf dem Schoß, wer das war, der da gerade gesprochen hat. Er hat aber überhaupt nicht zugehört.

Nachts, als sie aufwacht und nicht wieder einschlafen kann, googelt sie das Zitat. Ich denke, dass wir gescheitert sind. Es war der schwedische König. Es kommt ihr alles irreal vor, aber anders als im Frühjahr. Frau Boge ist immer noch im Delir. Sie kann noch kaum sprechen, und wenn, dann ist es mehr ein Hauchen, aber am Abend hat Hanna das Wort Schneeriese verstanden. Und dann kommt sie nach Hause, und eine so vergangene Figur wie ein König zieht ein einfaches Resümee.

Die nächsten zwei Tage hat sie frei. Am Abend hat sie ein Zoom-Treffen mit Freundinnen, von denen keine in einer Klinik arbeitet. Sie liebt diese Treffen eigentlich, endlich mal was anderes hören, aber an dem Abend wird sie unvermittelt aggressiv. Eine der Freundinnen hat Angst, dass sie ihren Job verliert, eine andere tröstet sie und sagt schließlich: „Irgendwie geht es immer weiter“, und Hanna erwidert laut und hart: „Nein. Tut es nicht.“ Betretenes Schweigen, das Treffen ist schneller zu Ende als sonst, und Hanna ist erleichtert. Sie ist einfach nur erleichtert, dass es vorbei ist und sie ihre Ruhe hat, auch wenn ihr diese Ruhe dann kein Stück Erleichterung bringt.

Während ihres nächsten Dienstes müssen sie Timmi intubieren. Er kann nicht mehr, seine Atemmuskulatur ist erschöpft.

Ihre Aversion gegen Nachrichten wächst. Manchmal geht sie aus dem Zimmer, wenn sie zuhause ist und der Fernseher läuft. Es ist, wie wenn sie durch einen Tunnel geht. Sie verpasst Sondersendungen und Interviews, Artikel, in denen es um sterbende Restaurants geht und Wirtshauskultur. Die Welt da draußen geht weiter. Ihr entgehen die Zufälle, diese wie im Delir orchestrierten Gleichzeitigkeiten. Sie versucht sogar, die täglichen Infektionszahlen auszublenden, weil sie jetzt einen Tag an den anderen reihen muss und davon immer eine Stunde an die andere, sie muss sich auf die kurze Strecke konzentrieren, den einen Patienten und den nächsten. Und nächsten.

An einem Tag Ende Dezember ist, unbemerkt von Hanna, besonders viel vom Sterben die Rede in Pressemeldungen, Zeitungskommentaren und Interviews. Sterbende Gasthäuser abermals, auch sterbende Theater und Museen. Eine wundersame Kulmination gegen 14:30 Uhr, als in gleich zwei Interviews das Sterben der Innenstädte vorausgesagt wird, und fast genau in dem Augenblick, als der zweite Interviewpartner seinen Satz zu Ende gebracht hat, stirbt Timmi. Es ist, als stünde das Land Spalier mit seinen Sterbe-Metaphern, als wolle es Timmi hinausgeleiten, einen von 1029 an diesem Tag.

Frau Boge weiß fast nichts mehr von ihrem Traum. Nur eine vage Erinnerung an Schnee ist ihr geblieben. Sie weiß nur noch, dass es ein sehr kaltes Land war.