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09.07.2015, 16:07 Uhr
Andrea Heuser
Gespräche
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Im Gespräch: die Schriftstellerin Andrea Heuser über ihr Romandebüt

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© Mara Eggert

Andrea Heuser lebt als Schritstellerin und Literaturwissenschaftlerin in München. 2008 promovierte sie mit einer Studie zur deutsch-jüdischen Literatur. Sie arbeitet im Bereich Lyrik, Prosa und Musiktheater. Für ihre Gedichte wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Weyrauch-Preis. Sie ist Mitglied der Autorengruppe reimfrei. Augustas Garten (Dumont Verlag, 2014) ist ihr erster Roman. Er erzählt von dem Mädchen Augusta, das mit seiner Mutter das Zuhause und damit das bisherige Leben verlassen muss. An ihrem sechsten Geburtstag läuft Augusta weg, um zu ihrem Vater zurückkehren  und mitten hinein in die Gefahr. Es ist die ebenso poetische wie aufwühlende Geschichte einer Trennung und eines ersehnten Neubeginns, eine Geschichte über das Verschwinden und über die tragischen Folgen, die aus zu langem Schweigen erwachsen können.

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Literaturportal Bayern: Sie sind bisher vor allem als Lyrikerin hervorgetreten, und immer wieder besticht auch in Ihrem Romandebüt Augustas Garten die Sprache durch besondere ‚Verdichtung‘, etwa wenn ein „Ball leuchtet, hell wie ein Gelächter“. Wie war das für Sie – einen Roman zu schreiben?

Andrea Heuser: Wie bei allen ‚ersten Malen’: aufregend. Und zugleich, im schönen Widerspruch dazu: entspannend. Vielleicht weil dieser weite offene Raum, den ich da beim Prosaschreiben vor mir sah und der ja auch etwas Beängstigendes haben kann, mir zunächst einmal das Gefühl gab, tatsächlich etwas zu ‚besitzen’. Nämlich: Raum und Zeit (wann hat man schon mal Zeit?). Erzählzeit also, für die Figuren in Augustas Garten und die Fragen, die sie umtreiben. Was ja in der Lyrik, wo es um das Verdichten geht, nicht so möglich ist. Wobei, wirklich ‚stimmig’ wurde die Geschichte als Text für mich im Grunde erst durch dieses Zusammenspiel der Formen: von Erzählfluss & diesen wenigen, aber für mich elementaren poetischen Momenten, in denen sich die Erfahrungen, die Weltwahrnehmung der Personen in einem einzigen lyrischen Satz bündeln und so eine Art unterströmigen Resonanzraum entfalten. Wie in diesem von Ihnen so schön herausgestellten Satz mit dem (motivischen) Ball. Prosa und Lyrik sind ja beides Weitungen der Wirklichkeit, die sie sich anverwandeln. Abstrakter: Das Von-Satz-zu-Satz-Erzählen schaffte für mich den Horizont (Horizontale) der Geschichte und die poetischen Bilder ihre Vertiefung (Vertikale).

Erstaunlicherweise zeigen Sie bei Ihrem Grenzübertritt zugleich aber keinerlei Scheu vor deutlich prosaischen Elementen – Spannungsklammer, tragische Zuspitzung, und sogar Freunde der Kriminalistik kommen auf ihre Kosten. Zusammen mit der starken Innerlichkeit Ihrer Erzählweise erzeugt das einen Sog. Hand aufs Herz: Sie haben nicht nur Paul Celan auf dem Nachttisch liegen, sondern auch – sagen wir: Stieg Larsson, oder?

Auf jeden Fall beugt sich mein Nachttisch unter viel zu viel Ungelesenem. Zwinkernd  Aber genau, ich gestehe es: Mich interessieren alle Formen der Literatur, also auch die sogenannte Populärliteratur. Wenngleich „Genres“ mich generell erst einmal zurückzucken lassen und ich auch dort nach den Überschreitungen suche. Konkretes Beispiel: das Game of Thrones-Epos von Georg R. R. Martin. Das schafft es, die Spannung über viele tausend Seiten für das Schicksal von ungefähr hundert Personen und ihre Clans gleichzeitig aufrecht zu erhalten. Respekt. Dafür wäre ich als Autorin viel zu ungeduldig.

Der zitierte Kinderball ist ein richtungsweisendes Motiv des Romans: Schon den Anfang ziert ein sehr eindringliches Dylan Thomas-Zitat: The ball I threw while playing in the park has not reached the grounds. Ist es also das Kind, das im Schriftsteller sein Leben lang schreibt, wie Peter Handke einmal sagte?

Ja. Außerdem ist die Kindheit und das, „was zurück in die Kindheit scheint“, für mich ein zentrales Thema als Schriftstellerin.

Paradoxerweise ist zugleich kaum etwas schwieriger, als ‚glaubhaft‘ aus Kinderperspektive zu schreiben. Schnell bekommt die Sprache dann etwas Anbiederndes, Nachträgliches, Falsches. Ihre sprachliche Anverwandlung hat dagegen einen überzeugenden Klang. Wie haben Sie das gemacht?

Das habe ich ganz intuitiv so gemacht. Und ich habe ja selbst zwei Kinder, nicht zu vergessen „das eigene innere Kind“ :)

Klang und Stimmen sind überhaupt entscheidende Kategorien des Romans. Vergangenheit, Gegenwart und die unterschiedlichen Figurenperspektiven verschwimmen zu einem stimmigen Chor, einem Gemenge, in dem alles gleichzeitig da sein kann – wie bei einem Trauma, das das Vergangene nicht vergehen lässt. Das kann verängstigend sein; plötzlich wirken vertraute Stimmen am Telefon wie von weit herkommend. Andere innere Stimmen warnen Augusta im Moment der Gefahr. Und manches wiederholt sich, wie durch Flüsterpost weitergereicht: Auch die Mutter von Augusta musste früh Verlusterfahrungen machen, auch sie hatte einen ‚zweiten‘ Vater, der ihr fremd blieb. Sind Familien Zeitkapseln, in denen sich transgenerationelle Prozesse abspielen? Und ist diese Wundhaftigkeit nicht ein großes Glück gerade für die Literatur?

Unbedingt. Augustas Garten ist ja eher sparsam angelegt, an der Grenze zur Novelle. Aber auch hier spielt diese Frage zumindest schon hinein: Werden Traumata vererbt? Sind wir alle diesbezüglich nicht kleine Kapselträger, um in dem Bild zu bleiben. Dies ist übrigens das zentrale Thema meines nächsten Romans, Das Winkelhaus. Ich persönlich schreibe aus eben dieser, wie Sie sagen, ‚Wundhaftigkeit’ heraus, die die Welt ist, aus dem Mangel. ‚Geschichte’ birgt ja diesen Doppelsinn per se in sich, ist Erzählung und Historie. Ich möchte aber auch unterhalten. „Wir lesen, um zu erfahren, dass wir nicht alleine sind.“ Ein Glück.

Das kleine Mädchen Augusta erlebt am Anfang einen Verlust, einen Abschied, den sie nicht versteht. Daraufhin nimmt sie die Welt oft wie durch eine Scheibe wahr, „die man nicht gleich sieht, aber spürt.“ Diese Entfremdung geht jedoch auch mit einer sich steigernden Fantasie Hand in Hand; vor ihren Augen entstehen ‚herumgeisternde‘ Wesen, Wege werden zu Flüssen ... Manchmal kommt Augusta das Künstliche sogar schöner vor als das Wirkliche,  etwa die Blumen, die sie malt. Die Ästhetisierung erscheint dann wie eine Fluchttür. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Verletzung und Kreativität?

Kinder sind ja erst einmal ganz zweckfrei kreativ. Als Weltverwandlungskünstler sind sie einfach unschlagbar. Und für mich als Erwachsene ist das Schreiben  als bewusst-unbewusster Prozess der Transformation von Erfahrenem tatsächlich auch der Weg, Dinge, Verletzungen zu verarbeiten, sie zu etwas anderem werden zu lassen. Zu etwas, das Sinn und hoffentlich auch Freude stiftet, zumindest mir.

Die schmerzliche Entwicklung zeigt sich auch im Motiv des Weglaufens, ein alter Kindheitstopos. Einmal heißt es:  „Sie war weggelaufen, und nun hatte sie das Weglaufen, so schien es, eingeholt.“ Man kann vor allem fliehen, aber nicht vor dem verletzten Selbst. Wollten Sie damit einen Erfahrungsmoment beschreiben, an dem die Kindheit endet?

Kindheit endet natürlich selten abrupt, und oft sind diese Schlüsselerlebnisse, die dazu herangezogen werden, schöne, weil (er)klärende Fiktion. Der Übergang ist wohl meist eher schleichend. Aber es gibt zumindest immer wieder diese ‚Umschlagsmomente’, und das Schöne am Geschichtenerzählen ist ja, dass diese Abschiede einem dann deutlicher vor Augen treten, als das meistens in der Realität der Fall ist.

„Bald“ – das ist ein Trug- und Zauberwort für Augusta. Die Mutter verspricht ihr, „bald“ zurück nach Hause zu gehen, aber dieses „bald“ kommt nie. An dem einen Wort entfaltet sich so auch der Prozess einer wachsenden Sprachskepsis. Am Anfang fühlt sich das Wort für Augusta noch greifbar an, wie ein „kleiner Stein, rund und fest“. Aber dann lernt sie, dass man Worten nicht einfach vertrauen darf. Als Lyrikerin sind Sie es auch gewöhnt, die konventionelle Sprache zu (ver)formen. Was ist Sprache für Sie, Täuscherin, Komplizin?

Ui, wenn ich wüsste, was Sprache wirklich für mich ist, dann würde ich wohl aufhören zu schreiben. Abgesehen davon, dass sie existentiell ist. Was ja gar nicht nur Trost bedeutet, sondern auch immer wieder Gefährdung.

Bei aller Schwere kippt der Roman nie ins Trübe. Im Gegenteil, er erzählt auch von der erstaunlichen Kraft der Genesung, der Resilienz – und der Kunst, die dabei helfen kann. Das Ende bleibt ebenfalls ambivalent. Warum haben Sie es sich (zum Glück) nicht einfach gemacht – und ein klassisches Happy oder Tragic Ende geschrieben?

Weil ich das Leben liebe, und das ist immer beides: tragisch-glücklich. Dann doch erst recht die Literatur!