„Jagd“. Von Leonhard F. Seidl

Leonhard F. Seidl (* 1976 in München) lebt als freier Schriftsteller, Journalist und Dozent für Kreatives Schreiben in Fürth. Sein vierter Roman Fronten (Edition Nautilus, 2017) war für mehrere Preise nominiert und wurde 2019 als Theaterstück uraufgeführt. 2020 erschien sein Schelmenroman Der falsche Schah (Volk Verlag). Seidl hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. ein Stipendium der Stiftung Literatur (2019) für seinen Roman Vom Untergang (Edition Nautilus, 2022), das Waldzeit-Stipendium Thoreau 2.2 (2021) und das Hermann-Kesten-Stipendium der Stadt Nürnberg (2021). 2022 war Seidl u.a. Artist in Residence – Nature Writing im grenzüberschreitenden Nationalpark Thayatal/Podyjí. Am 13. November wird ihm der Kulturpreis der Stadt Fürth verliehen.

Mit dem folgenden bislang unveröffentlichten Text beteiligt sich Leonhard F. Seidl an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Wenn ihr in einen Wald voller Speere eintretet
und von ihnen umstellt seid,
vergeßt nicht, daß euer Geist
euer Schutzschild ist …

Ō Sensei Mohrihei Ueshiba

 

Mit dem Bogen in der Hand und dem Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken wanderten sie durch den Wald den Galgenberg hinauf. Der Größere der beiden kannte den Galgenberg, hatte in der Nähe einige Wochen in einem kleinen Häuschen im Schatten der Burg verbracht, und nicht wenige Scheite aus diesem Wald gehackt und verschürt. Hatte in dem Häuschen geweint, gelacht, gewütet und geliebt. In seinem Schmerz hatte er das tägliche Bewusstsein verloren, hatte nicht geschlafen, wenn er müde war, hatte nicht gegessen, wenn ihn hungerte. Er dachte nach, überlegte, bildete Begriffe für das, was geschehen war, wodurch das ursprüngliche Unbewusste verloren ging, Gefühle und Gedanken auftauchten. Damals schoss er den Pfeil mit dem Bogen ab, aber der flog nicht gerade zur Scheibe hin. Wenn er wütete, war er wieder ein Kind und doch kein Kind.

Jetzt waren Elemente des Rauchs, das aus dem Holz, das das Feuer genährt und gebildet hatte, wieder zu einem Element der Bäume geworden, aus denen nicht nur mehr die grünen Triebe, sondern pralle Blätter trieben.

Sie gingen schweigend die teilasphaltierte Straße hinauf. Am moosbefetzten Sandstein vorbei; von der Zeit wie eine bleichfleischrote Wunde aus dem Waldboden freigelegt. Ein blau-orangener Kleiber flitzte vor ihnen auf die Straße, pickte mit dem spitzen Dolchschnabel nach Würmern und Käfern. Vielleicht für seine Jungen, dachte der Größere, für deren Schutz er sogar den Eingang der Nisthöhle verklebt, die sich in morschen Bäumen findet. Wie die Wanderfalken, die sich gern in toten Bäumen verstecken und wie Äste aus ihnen herauswachsen. Das trillernde „Wiüwiüwiü“ verriet ihm, dass es sich um ein Kleiber-Männchen handelte; der einzige Vogel, der einen Baumstamm kopfüber hinablaufen kann.

 

Der Kleinere sah mit seiner Glatze aus wie ein Zen-Mönch, dessen schwarz-rote Tätowierungen heute eine dicke Jacke verbarg. Hinter ihm, talwärts, stand ein Esel eingesperrt hinter einem Gatter; stumm. Der Große hörte, wie im Gehen die Pfeile im Köcher aneinander schabten.

Laub lag auf dem Weg, daneben wuchsen eine Kastanie, Eichen, Löwenzahn. „Mein Löwenzahn“, hatte sie ihn genannt. Wie er sie genannt hatte, wollte er nicht einmal mehr denken, weil ihm schon der Gedanke falsch erschien.

 

Der Glatzkopf hatte sich aufgrund des ungewöhnlich kühlen Maitages die Mütze tief ins Gesicht gezogen, der andere steckte seine Hände in die Hosentaschen. Trotzdem machten sie an der Obstwiese halt, über die sie ins Tal auf die gegenüberliegenden Waldwipfel schauen konnten. Unter einem Apfelbaum grasten Schafe, andere lagen wie aus Porzellan am Abhang. Eine Taube stob aus dem Blätterwald auf. Ein Traktor mit Anhänger tuckerte vorbei, die Jäger grüßten den Fahrer, er und sein Beifahrer grüßten freundlich zurück.

Sie schlichen durch den dichtbewachsenen Eichen- und Buchenwald; kristallene Wassertropfen auf jungen Eschenblättern. Eine Spinnwebe, ein „Teufelshaar“, blieb im Gesicht des Größeren hängen. Er wischte sie weg und wollte von dem Glatzkopf wissen, was das für ein Fell an den Enden seiner Sehne sei. Sie stamme von einem Biber, antwortete der, um die schnalzende Sehne zu dämpfen, und fügte hinzu: Wohl sei ihm dabei als Veganer nicht. Der Große ging nicht weiter darauf ein und fragte, wieviel Kraft man brauche, um die Sehne zu spannen, und der Kamerad antwortete: „35 Pfund.“

 

Sie blieben an der fahlblauen, viereckigen Scheibe stehen, um sich warmzuschießen. Der Glatzkopf zeigte seinem Freund, wie er den Bogen zu halten habe. Die linke Hand auf dem Griff, die Kuhle zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie bei einem Schwert, einem Bokken im Aikido. Wie bei der Technik des Yonkyo. Beim Yonkyo wird der Angreifende mit dem Druck der Kuhle an der Daumenverlängerung des Unterarmes über dessen Schulter kontrolliert und die Energie aus dem Angriff genutzt, um ihn in einer Art Schwertschlag zu Boden zu bringen.  

Bogenschießen, behaupten manche, sagte der Glatzkopf, sei nach wie vor wie eine Angelegenheit auf Leben und Tod in dem Maße, wie es Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst sei; und diese Weise der Auseinandersetzung sei nicht verkümmerter Ersatz, sondern tragender Grund aller nach außen hin gerichteter Auseinandersetzung – etwa mit dem Gegner. In dieser Auseinandersetzung des Schützen mit sich selbst zeige sich also erst das geheime Wesen dieser Kunst.

Der Größere verstand nicht, was der Kamerad damit gemeint hatte, fand aber, dass es sich pathetisch angehört hatte, und fragte auch nicht weiter nach. Stattdessen setzte er die Füße hüftbreit auf den von Nadeln und Laub übersäten Waldboden, senkte die Hüfte ab, nahm einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, steckte ihn auf die Sehne. Dann griff er mit dem Ringfinger an die Sehne und musste an den silbernen Hochzeitsring denken, den seine damals Zukünftige und er bei einem Beduinen gekauft und den er ihr zurückgegeben hatte. Vögel zwitscherten. Vielleicht ist die kaltäugige Drossel darunter, dachte der Größere, die Würmer aufspießt und Schnecken totschlägt. Er versuchte, über ihren Gesang nicht in Sentimentalität zu versinken und darüber das Töten zu vergessen, das der Gesang erst ermöglichte.

Der Bulldog kam zurück. Er legte Mittel- und Zeigefinger unterhalb der Pfeilfedern an. Streckte den linken Arm aus, senkte die Schultern und zog mit dem rechten Arm die Sehne auf. Da ertönte in unmittelbarer Nähe die Motorsäge. Er ließ die Sehne los, sie schnalzte, der Pfeil flog und bohrte sich zu beiderseitigem Erstaunen in die blaue Tafel. Den Bogen hatte er bereits abgesenkt, nachdem der Pfeil abgeschossen worden war. Der Kamerad wies ihn darauf hin, dass er den Flug des Pfeils nicht mehr verfolgt hatte.

 

Nach dem Einschießen gingen sie den Waldweg entlang, die Motorsäge röhrte im Hintergrund. Sie hielten am gelben Pflock, ein braun-weißer Fuchs aus Hartgummi vor ihnen, konzentrische Kreise auf seinem Körper. List, dachte der Größere, sprach es aber nicht aus, da auch die Motorsäge gerade ruhig war und dachte: „Wie gerne würde ich nicht denken lernen.“ Er zielte und schoss dreimal: dreimal daneben. Er ging zur Seite, machte dem Freund Platz. Da spürte er den ersten Tropfen. Die Sehne des Freundes schnalzt, der Pfeil dringt mit einem harten Knall in den Fuchs ein. Einfach nur sein, denkt der Größere. Wie der Regen, der vom Himmel fällt. Wie die Sterne, die den nächtlichen Himmel erleuchten. Als wäre er selbst der Regen, die Sterne.

Sie gehen weiter, ihre Schuhe schmatzen auf dem matschigen Streifen Weg, den der Bulldog hinterlassen hat. Über das braune Gerinne, das sich in einer Reifenspurt gesammelt hat, steigen sie auf einem darübergelegten Stecken. Und schon gelangen sie zu den schwarzen Ebern, die auf dem Boden flacken, auf die sie von einem Podest aus schießen wollen.  

Dieses Mal nimmt der Glatzkopf seine Mütze ab und schießt zuerst. Er trifft dreimal in den runden Kreis ins „kill“ und einmal sogar in dessen Mitte, ins „inner kill“. Da sieht der Große die weißen Federn des männlichen Wanderfalken, des Terzels, durch das grüne Laubdach leuchten. Zwischen dem dunklen Bartstreif des Falken blitzen die großen Augen weiß auf. Er dreht den Kopf hin und her und schaut herab.

Der Größere senkt den Bogen, sieht zu dem Vogel auf, ihm hinterher, wie er mit seinen weiten Schwingen zwischen Himmel und ihm durch die Luft fliegt. Die Sonne scheint bronzen auf das stoppelfeldbraungelbe Tier und verwandelt seine gekrümmten Fänge zu Gold. Zwei Krähen jagen dem Wanderfalken nach. Er steigt vor dem weißen Himmel auf, wird damit größer und sichtbarer. Er kreist höher, ändert abrupt seinen Kurs und überlistet damit die behäbigen Raben. Die schießen gleich mehrfach an ihm vorbei. „Prrrk, prrrk“, hassen sie gegen den Falken. Wenn ein Wanderfalke gehasst wird, denkt der Größere, macht er große, gleichmäßige Flügelschläge, die geräuschlos durch die Luft federn. Der Wanderfalke wendet und dreht sich in der Sonne. Wie silberne Schwerter blitzen die Unterseiten seiner Flügel. Seine dunklen Augen schimmern und die blanke Haut darunter funkelt wie Salz. 

Der Jäger muss das werden, was er jagt, denkt der Größere. Das, was ist, der gegenwärtige Moment, muss die bebende Stärke des sich in den Baum bohrenden Pfeils haben.

Dann setzt er den Bogen erneut an. Die Kettensäge kreischt, im Unterholz bewegt sich etwas. Zuerst sieht er die Schnauze des Keilers mit den Hauern. Dann den schmaler werdenden Kopf. Dann den fetten, schwarzborstigen Leib. Der Jäger stellt die Beine hüftbreit auf den Boden, senkt die Hüfte ab. Legt langsam den Pfeil auf die Sehne. Lässt den Pfeilschaft in die Sehne klicken. Hebt den Bogen an. Zielt auf den Kopf des Ebers. Zwischen die Augen. Lässt den Pfeil los. Die Sehne schwingt. Und der Pfeil fliegt.