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06.12.2022, 11:36 Uhr
Kunstministerium
Text & Debatte
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© Katrin Heim

Förderstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Leonhard F. Seidl

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Gruppenfoto der Stipendiat*innen und Stipendiaten mit Kunstminister Markus Blume (8. v. r.) © Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.

Leonhard F. Seidl, geboren 1976, ist Schriftsteller, Journalist, Herausgeber und Dozent für Kreatives Schreiben. Sein vierter Roman Fronten (Edition Nautilus, 2017) war für mehrere Preise nominiert und wurde 2019 als Theaterstück uraufgeführt. Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. ein Stipendium der Stiftung Literatur (2019) für seinen Roman Vom Untergang (Edition Nautilus, 2022), das Waldzeit-Stipendium Thoreau 2.2 (2021) und das Hermann-Kesten-Stipendium der Stadt Nürnberg (2021). 2022 war Seidl u.a. Artist in Residence – Nature Writing im grenzüberschreitenden Nationalpark Thayatal/Podyjí. Im Herbst wird Leonhard F. Seidl der Kulturpreis der Stadt Fürth verliehen. Seidl hat mehrere Anthologien und Kurzgeschichtenbände veröffentlicht, daneben Kommentare, Kurzgeschichten und Essays in deutschen und internationalen Literaturzeitschriften und Zeitungen, u.a. in der taz, den Niederösterreichischen Nachrichten und der SZ. Er lebt in Fürth und ist Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), Regionalgruppe Mittelfranken.

Auszug aus Das Tal (Romanvorhaben)

... Ein weiterer Weg in die Gipsmühle schleicht sich von der Stadt Rothenburg hinter der griechischen Taverne Rhodos den gewundenen Geröllweg hinunter, die schmale Medersteige, durch den Wald mit Ahorn, Linden, Eschen und wenigen Nadelbäumen, neben dem das Wasser bei Schneeschmelze und Regen in einem vermoosten Steinkanal talwärts fließt. Manchmal steigt es auch darüber und malt gewellte Schlammbilder auf den Weg, reißt Kies und Steine und selten auch Efeu mit sich, der hier die Bäume hinaufklettert: sie aussaugt, umwirft, beraubt, erwürgt, erstickt. Alles widerlegbare Mythen, die bis in die Antike zurückreichen: So sah der griechische Philosoph Theophrastos den Efeu als Parasiten, der mit seinen Wurzeln, Strohhalmen gleich, dem Baum lebensnotwendiges Wasser und Nährstoffe entzieht.

Verlässt man die Medersteige und steigt über die befestigte Erdtreppe hinunter, so folgt man weiter dem Wasser, das sich selbst aus den Nachbardörfern Gebsattel, Vorbach, Ziegelhütte und den Wiesen und Feldern seinen Weg nach unten sucht. Durch das Karsttor unter der Steige strömt es über die zusammengepressten und dadurch verhärteten Schichten des Kalkschlamms ins Unterland. Aus Millionen Jahre altem Leben geformte Hänge, Rücken, Brust und Eingeweide des Tales. Und weiter in den schmalen Mühlbach und die Tauber. Der Mühlbach verschwindet in einem gemauerten Halbkreis in der Dunkelheit. An seinem Eingang wacht manchmal eine fette Erdkröte, die mit ihren spitzen Hornwarzen und weißen Flecken an einen Drachen erinnert.

Zwischen dem Mühlbach und der aus Muschelkalkstein gebauten Scheune, mit Resten von Sandstein aus der Region Nürnberg, die moosige Dachschindeln bedecken und an der bis zu grünschwammige, rostrote Zahnräder rasten, verläuft ein pockennarbiger Weg zur Gipsmühle, auf dem man leicht stolpert. Die Steine der Scheune schlugen Arbeiter aus einem der heute aufgelassenen Steinbrüche im Tal, von denen ich einen noch erkunden werde, obwohl es mir verboten ist.

Mit ein wenig Glück kreuzt ein orangebauchiges Kleibermännchen mit blauem Rücken den Weg und mit einem Insekt im Schnabel durch ein Loch im Verputz zwischen den Steinen der Scheune hindurch, um seine Jungen zu füttern. Seine Nisthöhle hat der „Handwerker“ im Inneren mit Lehm verkleidet. ...