Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (46). Und findet ihren brachen Balkon, auf dem Insekten leben, irgendwie fantastisch

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.

Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln. Die Kolumne pausierte und wird ab heute wieder fortgesetzt.

Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.

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46

Ich bin zurück in der Stadt. Und immer, wenn ich nach den Wochen im Hochsommer, auf dem Land wegfahre, verspüre ich so eine Wehmut. Die Farben des Sommers sind denen des frühen Herbstes gewichen, Blattränder wellen sich, Eicheln fallen vom Baum, das Eichhörnchen ist plötzlich wieder da und sammelt sich durch die Nüsse, die Astern beginnen zu blühen, das Basilikum, das klassische, welkt, weil die Nächte zu kühl werden, nur das stabile dunkelblätterige mit den roten Blüten mag auch den Herbst noch. Die letzten Tomaten reifen, die Birnen fallen vom Baum.

In der Stadt spüre ich den kommenden Herbst noch stärker.

Der Stadtbalkon ist längst abgeräumt, alles, nein fast alles ist aufs Land umgezogen im frühen Sommer, damit nichts kaputtgeht in der Hitze.

Nur zwei Pflanzen sind dageblieben, weil sie immer dableiben, weil ich weiß, sie schaffen es auch durch einen trockenen Sommer, kommen jedes Jahr wieder, blühen, sind stark, ohne mein Zutun. Oder fast.

Und auch in diesem Jahr, auch nach diesem so trockenen heißen Sommer stehen auf dem Balkon der Rucola und die Minze, und sie blühen. Seit drei Jahren geht das so.

Ich weiß manchmal nicht, warum ich ihnen das immer zumute, dass sie dableiben, dass sie fast vergessen auf dem Balkon stehen, und es aushalten müssen, dass sie nur Wasser bekommen, wenn es regnet.

Und dann weiß ich es doch wieder: Ich komme auf den Balkon und die Minze sieht zwar nicht mehr besonders minzig aus, und der Rucola hat nicht mehr besonders viele Blätter, dafür haben aber beide enorm viele Blüten. Und weil sie ziemlich struppig ausschauen, alte Triebe, viele Samen, und eben die vielen Blüten, reagiert mein Gärtnerinnenherz, das natürlich auf Schönheit und Ertrag aus ist, sofort: Die Samenkapseln und Blüten müssen weg, denke ich, damit die Pflanzen von unten wieder Kraft sammeln und sich stärken können. Und ich fange schon an, am Rucola zu arbeiten, als ich höre, sehe und höre, wie eine Biene aufsummt und dann noch eine, und schließlich bemerke, dass an jeder der beiden Rucolapflanzen und an der Minze wenigstens zwei Bienen, also insgesamt sechs Bienen Nektar sammeln.

Und irgendwie macht es da Klick in meinem Kopf, also, in diesem Moment weiß ich, warum es gut ist, dass diese Pflanzen da den Sommer auf dem Balkon verbringen, und ich höre sofort auf, mich in dieses Leben einzumischen. Weil ich das irgendwie fantastisch finde, wie der eher brache Balkon dennoch so eine Insel in der Münchner Stadtluft sein kann, auf der Insekten leben und ihre Nahrung finden können.

Und also setze ich mich auf den Stuhl und schaue ihnen einfach nur noch demütig zu.

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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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