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11.07.2022, 09:10 Uhr
Kay Wolfinger
Text & Debatte

Einige Thesen zur Literaturlandschaft Allgäu

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

DigiLABS, der „Digitale Literaturatlas von Bayerisch-Schwaben”, hat seit 5. Juli 2022 einen weiteren Landkreis hinzugewonnen: das Oberallgäu. Das bundesweit einmalige Digitalisierungsprojekt kartiert die Literaturlandschaft Bayerisch-Schwabens. Das Angebot richtet sich an eine vielfältige Zielgruppe: wissenschaftlich Forschende, literarisch Interessierte oder Personen, die auf eine kulturtouristische Reise gehen möchten. DigiLABS ist bereits seit 27. Februar 2020 online. Damals wurde in einem ersten Schritt die Literatur des Ostallgäus ins Visier genommen. Nun wurde die des Oberallgäus im Literaturhaus Allgäu in Immenstadt feierlich vor geladenem Publikum vorgestellt. Neben der Dichterlesung von Toni Wintergerst und der musikalischen Umrahmung durch Blanz & Hecking hielt der Germanist Dr. Kay Wolfinger (LMU München) einen Vortrag über das Allgäu als literarische Provinz.  

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

sehr herzlich begrüße auch ich Sie im Literaturhaus Allgäu und freue mich sehr, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Mein besonderer Dank gilt natürlich dem Arbeitsteam um Herrn Professor Klaus Wolf, Frau Rosmarie Mair M.A., zuständige Mitarbeiterin von DigiLABS, und Herrn Dr. Peter Czoik vom Literaturportal Bayern, mit denen schon im Vorfeld die Zusammenarbeit ausgezeichnet war.

Ich werde Ihnen heute Einblicke geben in das literarische Arbeitsfeld der Literaturvermittlung, der Literaturkoordination, der Planung von Literaturveranstaltungen im Allgäu und für das Allgäu. Eine Rückschau auf die letzten Jahre: 2018 fand in Sonthofen eine Tagung zur Allgäuer Literaturgeschichte statt, deren umfangreicher Forschungsband 2021 als erste Sondierung eines Feldes veröffentlicht wurde. 2019 gründete sich in Kempten die Deutsche Sebald Gesellschaft, die seither über das Allgäu hinaus international wirkt und beispielsweise 2020 den ersten W.-G.-Sebald-Literaturpreis an die Schriftstellerin Esther Kinsky vergab.

Das Allgäu und die Literatur – Die momentane Situation

Die Ausgangslage ist folgende: Die Arbeit als Literaturvermittler bei dem von mir entworfenen Festival „Sonthofen liest“ und hinsichtlich zahlreicher Lesungen und Veranstaltungsmoderationen mit Größen aus der Gegenwartsliteratur im Literaturhaus Allgäu lässt gewissermaßen aus dem Nähkästchen plaudern. Wir befinden uns also in folgender Situation: Wir haben glücklicherweise eine von Städten oder Gemeinden geförderte Struktur, die immerhin mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Allgäu ein Literaturprogramm entwirft, dessen Einzelveranstaltungen so auch in einem Literaturhaus in München oder Berlin denkbar wären.

Sie haben die wunderschöne Region des Allgäus, in die viele Autorinnen und Autoren gerne kommen, und Sie haben die Allgäuer Bevölkerung, und hier beginnt die Arbeit; denn es ist keineswegs so, dass uns bei den Namen, die für den Deutschen Buchpreis im Gespräch sind oder die den höchsten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, bekommen haben, die Allgäuer automatisch die Bude einrennen und die Veranstaltungen von sich aus ausverkauft sind. Nein, es ist von den Literaturkoordinatoren hier im Allgäu ein ständiges Bemühen, das Publikum zu erreichen, und da im Allgäu zwar das Equipment vorhanden ist, bspw. im Literaturhaus große Lesungen zu veranstalten, fehlt auf der anderen Seite die Struktur eines Netzwerkes aus Multiplikatoren und Interessenten, die wie selbstverständlich die Neuigkeiten zu Lesungen neben Flyern und Plakaten weitertragen. Durch eine allmählich voranschreitende Professionalisierung machen wir Fortschritte, aber natürlich nur sehr langsam. Nicht zuletzt erweisen sich die Kooperation mit Schulen, mit der Tagespresse und örtlichen Medien, mit anderen Institutionen und politischen Einrichtungen als gewiss mühsam, aber als lohnend und weitreichend. Daher mein Appell: Ermuntern wir die Städte weiterhin, Finanzen und Strukturen bereit zu halten, ermuntern wir die Ehrenamtlichen weiterhin, ihre Arbeit fortzusetzen und noch stärker zu professionalisieren, und ermuntern wir die literaturaffinen Institutionen, mit viel Überzeugungsarbeit in dieses kulturelle Literaturnetzwerk einzusteigen, das für das Allgäu wirklich einzigartig ist.

Ich habe Ihnen hier nun in wenigen Worten die Ausgangslage beschrieben, die wir im Allgäu im Hinblick auf die Literatur bereits geschaffen haben, wo die Probleme hinsichtlich einer Provinzialität aber liegen, und ich habe Ihnen – nur in ersten Anstößen natürlich – gezeigt wie ein Fahrplan aussehen könnte, der die Literatur in Zusammenarbeit mit anderen Künsten zu einem Leuchtturmprojekt des Allgäus machen würde.

Plädoyer für die literarische Provinz

Das Provinzielle ist dem modernen Menschen abhanden gekommen. Umso empfehlenswerter ist ein Ausflug dorthin. Der moderne Mensch bewegt sich auf die Masse zu und geht in der Masse auf. Aufgrund dieser Lage ist die Literatur das Provinzielle, und in dieser Provinz liegt die Chance: die Literatur bedient ein ganz bestimmtes Interesse an Sinn einer nicht aussterbenden Minderheit. Und wenn diese Literatur dann auch noch von einer tatsächlichen Provinz wie dem Allgäu ihren Ursprung nimmt, schafft sie sich dort eigene Resonanzräume, in der sie gehört werden kann. Die literarische Provinz ist geboren, und ich möchte gemeinsam mit allen Mitstreitern in vielen Veranstaltungs- und Forschungsprojekten die Geschichte der Allgäuer Literatur weiter aufarbeiten und stärken, weil dies ein Refugium ist und ein blinder Fleck, dem sich noch niemand zugewendet hat, obwohl gerade darin ein Alleinstellungsmerkmal des Allgäus liegt, das genutzt werden kann, um zu zeigen, dass die literarische Provinz Allgäu tatsächlich eine Kulturlandschaft von europäischem Ausmaß ist.

Präsentation von DigiLABS im Literaturhaus AllgäuImmenstadt, 5. Juli 2022. V.l.n.r.: Toni Wintergerst (Autor); Rosmarie Mair M.A., Prof. Dr. Klaus Wolf (beide Universität Augsburg); Dr. Peter Czoik (Bayerische Staatsbibliothek) | © Thomas Niehörster

In der Literatur, die im Allgäu und vom Allgäu ausgehend entstand, finden wir diese abseitigen Themen, die fernab der Masse liegen; die Auseinandersetzung damit beweist dann, dass das Allgäu auch literarisch mit anderen Literaturregionen ohne weiteres konkurrieren kann, wenn man sein literarisches Potential denn erst entdecken und fördern würde. Dazu dienlich sind all die Literaturveranstaltungen, Festivals, Schreibkurse, Literaturvorträge und Rezitationen; dann nimmt die Literatur die einzigartige Stelle in Brüderschaft mit Brauchtum, Musik, bildender Kunst oder Theater ein. Echte Literaturförderung im Allgäu, hoffentlich gefördert auch von bayerischer Ebene und vom Bezirk Schwaben, wäre ein Meilenstein hinsichtlich der Bewahrung unserer Tradition, der Erschließung neuer Welten und der Förderung von Tourismus, Marketing und Ausbau der Zukunftsfähigkeit des Allgäus, das dann wahrlich den Titel Kulturlandschaft verdient.

Neben all dem bisher für die Literatur Erreichten von Allgäuer Kultureinrichtungen, Volkshochschulen, Privatleuten und Initiativen muss dieser Weg weiter fortgesetzt werden. Aus dem Allgäu stammende Literaten wie Günter Herburger, Gerhard Köpf oder W.G. Sebald mahnen uns, dies niemals zu vergessen! Und Namen wie Gertrud von le Fort oder Arthur Maximilian Miller warten immer noch auf eine Wiederentdeckung!

Drei Thesen zur Zukunft der Literatur in der Provinz und in der Gesellschaft

  1. Das Bedürfnis nach Erzählungen und die Faszination für Literatur werden in Zukunft noch stärker werden angesichts des erodierenden Sinnpotentials der Gesellschaft und der zunehmenden Aufmerksamkeitszerstreuung durch Technologien.
  2. Das Allgäu hat reichhaltiges literarisches Potential und eine reiche literarische Vergangenheit, die man als Standortvorteil erst einmal grundlegend entdecken müsste.
  3. Dass das Allgäu eine literarische Provinz ist, birgt auch ganz entschiedene Vorteile, denn gerade dadurch ergeben sich Alleinstellungsmerkmale und Aufmerksamkeitskonzentrationen, die man in der Metropole so nicht hat.

Und ich erinnere auch noch an den Schriftsteller Arno Schmidt, der zurückgezogen in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide ein einzigartiges literarisches Werk geschaffen hat. Auch dies wäre vom Allgäu aus möglich, und wir würden noch mehr für die Kultur zustande bringen, wenn sich die Kräfte zentral bündeln ließen. Umso schöner, dass wir mit DigiLABS nun im Literaturportal Bayern systematisch kartographiert werden.

Ich habe Ihnen nun ein klein wenig aus den eigenen Erfahrungen mit der konkreten Literaturarbeit berichtet und dann immer wieder auf meine abstrakte Vorstellung der literarischen Provinz angespielt. Lassen Sie es mich so sagen: Machen wir das kulturelle Allgäu im Zusammenspiel aller Partner der Künste zu einem Ort, der beweist, dass er trotz oder wegen seiner Idylle auch für die Kultur ein einzigartiges Refugium ist. Denn eine unübersichtlich werdende Welt braucht die literarische Provinz und die nicht an die Norm angepasste Idee mehr als je zuvor.