Okkultismus in München und Panizzas Vorstellung des Dämonischen als produktive Geisterpräsenz

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Oskar Panizza: Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit. Skizze einer Weltanschauung, Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich, 1895

Oskar Panizza (1853-1921) war einer der kontroversesten Autoren seiner Generation. Bereits zu seinen Lebzeiten ebenso bewundert wie umkämpft, provozierten Panizzas Schriften über seinen Tod hinaus; die breite öffentliche Anerkennung blieb jedoch aus. 2021 jährt sich der Todestag des bayerischen Provokateurs zum 100. Mal. Der folgende Beitrag wird im Kontext einer von Asst. Prof. Dr. Joela Jacobs und Dr. Nike Thurn kuratierten digitalen Ringvorlesung zu Panizzas 100. Todestag herausgegeben in der Oskar Panizza-Reihe des Literaturportals Bayern.

Birgit Ziener ist Literaturwissenschaftlerin und veröffentlicht gerade ihre Dissertation zu einer zweiten öffentlichen Figur der Münchener Bohème-Jahre: Otto Julius Bierbaum. Sie arbeitet als Autorin, DaF-Lehrerin und politische Bildnerin für Helle Panke - Rosa Luxemburg Stiftung Berlin. Sie schreibt über die Literatur der Jahrhundertwende, über Phantastik und zur Ästhetik des Populären.

Manuel Förderer ist Doktorand der Germanistik und schreibt seine Doktorarbeit über Erzählungen und Romane der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945-1949) als Mitglied der Graduate School Practices of Literature. Er beschäftigt sich vorrangig mit der Literatur des 20. Jahrhunderts, wobei ihn naturästhetische Fragen, literarische Auseinandersetzungen mit Politik und Zeitgeschichte sowie die Literatur der Arbeitswelt besonders interessieren.

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Oskar Panizzas literarisches Schaffen unterliegt oft einer biographischen Lesart, die es auf Indizien für seine spätere psychische Erkrankung hin untersucht. Nicht selten werden das literarische Werk und die kulturkritischen Schriften des Arztes im Hinblick auf seinen eigenen langjährigen Aufenthalt im Sanatorium „Herzoghöhe“ in Bayreuth bis zu seinem Tod am 28. September 1921 auch als vorausahnende oder bereits von seiner Schizophrenie infiltrierte Schreibpraxis interpretiert. Selbstaussagen von ihm wie in Genie und Wahnsinn (1891), das „psychische Leid“ stelle die Bedingung einer künstlerischen Produktion dar, werden rein klinisch gedeutet. Weniger Aufmerksamkeit wird dem Umstand geschenkt, dass Panizza wiederum seine Aufmerksamkeit als Arzt, Philosoph und Schriftsteller auf die schöpferischen Prozesse der Halluzinationen, des Somnambulen, des Wahnsinns oder des Hypnotischen vor dem Hintergrund einer allgemeinen öffentlichen Euphorie für die Geheimwissenschaften des Okkulten und den Spiritismus legte. Die Erforschung des Unsichtbaren der Gedanken, des Zukünftigen und des Toten bildeten zeitgleich zur Entstehung der Wissenschaften der Psychoanalyse einen Erkenntnishorizont zur Materialisierung des Geistigen, in den Panizza sich bewusst einzuschreiben gewillt war.

München als Zentrum des Okkulten um 1890

Neben Städten wie Berlin, Leipzig oder Wien war München – die Stadt, in der Panizza von 1890 bis 1895 wirkte und präsent war – eines der Zentren des spiritistisch-okkultistischen Netzwerkes, sowohl was die beteiligten Personen anbelangt als auch hinsichtlich verschiedener Institutionen und Zirkel. Spiritistisch-okkultistische Fragestellungen und Themen avancierten um 1900 geradezu zu Modeerscheinungen: Allenthalben wurden spiritistische Séancen abgehalten, bei denen Gegenstände scheinbar wie von Geisterhänden zu schweben begangen (sog. Levitationsphänomene), es wurden Gläser und Tische gerückt, es materialisierten sich geisterhafte Hände oder Gesichter und über menschliche Medien wurde Kontakt zur Geisterwelt aufgenommen. Dabei äußerten sich die anwesenden Geister zumeist durch das Medium selbst, sei es durch ein tatsächliches Sprechen des Mediums oder dadurch, dass dieses scheinbar wie von selbst die ihm diktierten Botschaften aus dem Jenseits aufschrieb. Überhaupt kam dem Medium beziehungsweise dem Mediumismus besondere Aufmerksamkeit zu, die sich auch an dem anhaltenden Interesse für Hypnotismus und Trancezuständen ablesen lässt. Berühmte Medien wie die Italienerin Eusapia Palladino oder Anna Rothe reisten durch Europa und führten ihre Fähigkeiten gleichermaßen im privaten Rahmen, etwa einem bürgerlichen Salon – dem locus classicus spiritistischer Séancen –, oder vor wissenschaftlichen Vereinigungen vor.

Stanislawa P. bei einer der Materialisationssitzungen unter der Leitung des Arztes Freiherr von Schrenck-Notzing, zu denen sie vom 29. Dezember 1912 bis 21. Februar 1913 nach München eingeladen wurde (Albert von Schrenck-Notzing [1862-1929]: Materialisationsphänomen mit Stanislawa P., München 1913, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg i. Br.).

Dabei gilt es im Auge zu behalten, dass neben der (wenig verwunderlich) blühenden Taschenspieler- und Betrügerszene, die ihren ökonomischen Nutzen aus der zeitgenössischen Begeisterung für allerlei Geisterhaftes und Okkultes zu ziehen wusste, ein nicht zu suspendierender Anspruch auf Wissenschaftlichkeit von Seiten führender Persönlichkeiten des spiritistisch-okkultistischen Netzwerkes erhoben wurde. Abseits des fraglos vorhandenen Irrationalismus einiger Spielarten des Spiritismus und Okkultismus (die beide immer im Plural zu lesen sind), artikulierte sich ein Anspruch auf Seelen- und Menschenerkenntnis, der sich nicht gegen, sondern in Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen der Moderne konstituierte. So sollte etwa dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit durch ausgeprägtes Experimentieren und die dadurch hergestellte Nähe zur Methodologie der empirischen Wissenschaften Genüge getan werden. „Ein intelligenter Physiker“, illustrierte Carl du Prel 1899 das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse am Okkulten, „würde in einem Spukhaus eine Fülle von unbekannter Naturwissenschaft antreffen, also neue Probleme finden, und das ist doch für den Naturforscher der allerinteressanteste Gegenstand.“[1] Es ging nicht zuletzt um eine Neubewertung und Neuvermessung des Psychischen entlang noch unerklärter – eben: okkulter – Seelenpotenzen und psychischer Ereignisse. Die so in den Blick geratenden Grenzphänomene besaßen nicht nur für Sensationsgierige große Anziehungskraft, sondern faszinierten auch zugleich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie in zunehmendem Maße Künstler und Künstlerinnen. Unter ihnen: Oskar Panizza, dessen Auseinandersetzung mit dem spiritistisch-okkultistischen Komplex sich sowohl in Lektürespuren in Form von Rezensionen oder werkinternen Bezugnahmen als auch in persönlichen Kontakten niederschlug.

Die Münchener Zeitschriften Sphinx und Die Gesellschaft und ihre Kreise

Panizza war Mitglied der 1886/87 in München gegründeten Psychologischen Gesellschaft, deren Interessensgebiete die Forschung zu Hypnotismus und Trancezuständen umfasste und den Spiritismus dezidiert miteinschloss. Nachlesen lässt sich dies u.a. in dem Programm der Psychologischen Gesellschaft, erschienen in der Zeitschrift Sphinx, der publizistischen Plattform der Gesellschaft, die sich ihrerseits der „geschichtlichen und experimentalen Begründung der übersinnlichen Weltanschauung“ (so der Untertitel) verpflichtet sah. Gegründet wurde die Gesellschaft, die in der bereits 1882 ins Leben gerufenen Londoner Society for Psychical Research ihr Vorbild hatte, von dem Theosophen und Schriftsteller mit kolonialpolitischem, ökonomischem Spekulationsbewusstsein, Wilhelm Hübbe-Schleiden, und dem bereits erwähnten Spiritisten und Vorreiter der deutschen okkulten Bewegung um 1900, Carl du Prel. Im Umfeld der Gesellschaft wie der Sphinx treten viele weitere populäre Mitglieder beziehungsweise Sympathisanten in Erscheinung: der Mediziner, Psychotherapeut und Hypnotiseur Albert von Schrenck-Notzing, der Kunstkritiker und Konservator an der Münchener Pinakothek Adolf Bayersdorfer, der Physiker Leo Graetz, der Autor vieler populär-okkulter Schriften Gustav Gessmann, die Künstler Albert von Keller und Gabriel von Max, der Schriftsteller Hanns von Gumppenberg, auch Thomas Mann war bei Vorträgen der Psychologischen Gesellschaft zu Gast. Und es gibt Querverbindungen und Austauschbeziehungen nicht zuletzt zu einer das öffentliche Leben in München ebenso maßgeblich bestimmenden Zeitschrift und ihres Kreises: der 1885 von Michael Georg Conrad gegründeten Realistischen Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben: Die Gesellschaft.

Die Titelblätter der beiden Münchener Zeitschriften Sphinx und Die Gesellschaft. Das Organ des okkulten Münchens tritt ab den Jahren 1891/92 in eine Art publizierenden Austausch mit dem Organ des modernen Münchens. Autoren und Protagonisten beider Zeitschriften veröffentlichen in der jeweils anderen.

Carl du Prel veröffentlichte in dem kulturkritischen Organ der Modernen 1891 einen Aufsatz über „Spiritismus und Antispiritismus“ – Michael Georg Conrad, Carl Bleibtreu, Richard Dehmel. Franz Evers, Ludwig Ganghofer, Johannes Schlaf und Peter Hille wiederum veröffentlichten Beiträge und Texte ab 1892 in der Sphinx; und Fidus fügte ihr Kunstdrucke bei. Carl du Prel galt als Autor zahlreicher Artikel und Bücher mit teils hohen Auflagen und leidenschaftlicher Verfechter einer spiritistischen Weltanschauung zwischen 1880 und 1900 sicherlich als der populärste Spiritist. In seinem grundsätzlichen Anti-Materialismus steht er in unmittelbarer Nähe zu Oskar Panizza, der du Prel nicht nur persönlich kannte, sondern auch dessen Schriften rezipierte und rezensierte sowie geheimwissenschaftliche Vortragsabende besuchte. In der Sphinx veröffentlichte Panizza jedoch nie, und auch seine Abhandlung Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit, die 1895 bei Wilhelm Friedrich in Leipzig erschien, nennt du Prels Namen nicht. Dennoch ist diese Streitschrift geprägt durch das gemeinsame Interesse an der Erforschung des Unsichtbaren und der Macht der Gedanken.

Ein Brief von Carl du Prel an eine unbekannte „gnädige Frau“ vom 1. Mai 1894 zeigt, wie populär der Spiritist war. Du Prel bedauert, dass er niemanden zur Hellseher*in ausbilden kann, aber er gibt Literaturhinweise über aktuelle Forschungsergebnisse auf dem Gebiet des „Fernsagen und Fernwirken“ und macht Eigenwerbung, wenn er seine nächsten Publikationen ankündigt. (Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Signatur Du Prel, Carl A I/4).

Panizzas Streitschrift Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit

Panizzas Untersuchung setzt sich mit den populären Naturwissenschaften, der Philosophie des Neukantianismus und ihrer Auffassung des Subjekts auseinander und fragt nach der Entstehung von Bewusstsein. Panizza kritisiert, dass weder der „metafisische Materialismus“ (nach Carl Vogt, Ludwig Büchner, Jakob Moleschott), demzufolge der Gedanke bloß ein Produkt eines physischen Erregungszustand des Gehirns sei, noch die abgemilderte Theorie des „psicho-fisische[n] Parallelismus“, demnach einem Bewusstseinsinhalt immer auch ein physischer Erregungszustand, eine Muskelextraktion des Gehirns entspräche, tatsächlich eine Aussage treffen könne über die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Gedankens von physikalischen Vorgängen des Gehirns. 

Der Materialismus schafft nach Panizza vermeintlich eine Eindeutigkeit und neue Gewissheit über die Wirkungsweise und Grundlage der menschlichen Psyche, weil er „den transzendentalen Kopf vom fisischen Rumpf löste“.[2] Er entledigt sich dabei gleichzeitig des Problems der Frage, wie ein Gedanke überhaupt aus Materie entstehen könne. Das „Mikroskopiren, Schädelmessen, Gehirne-Wiegen und experimentelle Psichologie-Treiben“[3] überdeckt nach Panizza die Frage nach der Voraussetzung eines denkenden Subjekts, löst sie aber nicht. 

Dem Materialismus gegenüber stellt Panizza in seiner Analyse wiederum den Spiritualismus beziehungsweise jenen „spiritualistischen Kram“,[4] der zuvor dem Siegeszug des Materialismus zum Opfer gefallen war. Primat hat für den Spiritualisten das Geistige: Das Psychische ist bei Konstituierung des Transzendentalen dem Materiell-Physischen vorgelagert. Indem sich Panizza auf das Unsichtbare des Geistigen und der Illusion konzentriert, fokussiert er als Psychiater vor allem Phänomene wie Zwangsgedanken, Halluzinationen, Inspirationen oder spontane Einfälle. Sie sind für ihn irreduzible individuelle Ereignisse, die sich nicht kausal verallgemeinernd auf einen materiellen Ursprungsort reduzieren lassen. Gleichzeitig hat die Halluzination keine Bindung an die Außenwelt. Sie entspringt nicht einer äußeren Anschauung, sondern ist geknüpft an eine rein individuelle Erlebnis- und Erfahrungssphäre. Die produktive Kraft der Geisterwelt, der das (halluzinatorische) weltenschaffende Ich dabei folgt, nennt Panizza den inneren Dämon oder das Dämonische. Die Figur des Dämons trägt zum einen eine Reminiszenz an das sokratische Prinzip des daimonion (einer Art göttlichen inneren Stimme der Vorsicht) in sich, die Panizza selbst benennt – sie nimmt aber auch Ideen des Spiritismus und des Okkulten auf.

Nicht nur die Freiheit des Denkens steht für den gelernten Psychiater und Philosophen im Zentrum der Einforderungen individueller Rechte eines Schriftstellers, eines Inhaftierten oder Insassen einer psychiatrischen Heilungsanstalt, sondern auch die Mitteilung dieser Gedanken. Das Unsichtbare des Dämons, aus dem heraus sich die wahre Illusion, die freie Rede, die ungezügelte Fantasie materialisieren kann, ist dem Prozess der Kontaktaufnahme der Geisterwelt, der Verlebendigung des Gespenstigen parallel entworfen. Dies ist die „literarische Relevanz des Spiritismus“:[5] Panizza spricht der Dämonie eine individuelle Vorstellungskraft und den Halluzinationen der Einbildungskraft eine schöpferische Funktion zu, die Wirklichkeit erzeugt. Im genialisch gedachten produktiven Schreibprozess, im Entstehen eines Gedankens oder eines Textes vollzieht sich eine erfolgreiche Geisterbeschwörung und es gelingt „das Hereinragen einer üblicherweise unsichtbaren Wirklichkeit in eine sichtbare“.[6]

Das Originalmanuskript von Oskar Panizzas Manifest Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Skizze einer Weltanschauung hat sich vollständig erhalten. Zu sehen ist der Kapitelbeginn „Das Dämonische“ (Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Signatur L 1126).

Befreiung der Geister – Freiheit des Geistes

Diese Materialisierung aus dem Nichts, dieses Hervorrufen des Unsichtbaren, oder des Ungedachten und Ungesagten, erhält in Panizzas Poetik zwei Dimensionen: eine individual-entwicklungsgeschichtliche und eine geschichtsphilosophische. 

Schon ein Jahr vor der Untersuchung über den Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit erfuhr 1894 das Unsichtbare, das durch den Dämon zur Sprache gebracht werden kann, in Panizzas Erzählung Die gelbe Kröte (1894) eine subjektpsychologische Interpretation. Wenn sich der Erzähler die Frage stellt: „Und ist denn ein so großer Unterschied zwischen einem halluzinirten Dampfer und einem veritablen Dampfer?“,[7] wird auch hier dem Illusorischen der Realität zwar nicht der Vorzug, aber doch eine gleichberechtigte Existenz zugesprochen. Die Halluzination wird in Panizzas Erzählung zum „rächende[n] Gespenst“[8] einer verdrängten Kindheitserfahrung. Dieses Träumen wie auch ihre Poetisierung ermöglichen das Zur-Sprachebringen und den Ausdruck „unserer eigenen unsichtbaren Seele“,[9] wie es in der Erzählung heißt. Die gelbe Kröte ist keine Erzählung über eine psychische Erkrankung, sondern über die Verdrängungsleistungen der Psyche und kompensatorischen Funktionen der Sprache. Einen Einbruch erlebt die Erzählerfigur durch die Halluzination eines gelben Schiffes, das zugleich Kröte wird. Die Halluzinationen des Erzählers werden mit verdrängten Kindheitserinnerungen verschränkt, so dass – den psychoanalytischen Überlegungen Freuds sehr ähnlich –, dem Träumen ein exponierter Zugang zur Psyche des Ich und zum Es zugesprochen wird. Bezeichnenderweise greift Panizza an jener Stelle der Erzählung, in der sich die Metamorphose des Schiffes zur gelben Kröte ankündigt, auf ein Vokabular zurück, das gleichermaßen bei Spiritisten wie du Prel sowie im übergeordneten (und historisch älteren) Diskurs über den Mediumismus Verwendung fand. Panizza schreibt: „Wenn wir von einer Summe gleicher Geräusche affizirt und von einer Menge stets sich wiederholender optischer Eindrüke erregt werden, so dauert es einige Zeit, dann werden die äußeren Sinne stumpf, und es hebt sich aus unserem Innern eine Art ‚Kristallsehen‘, eine autochthone Macht, eine dritte Bewegung, die wir nicht mehr komandiren können“.[10] Sowohl die Rede von einer „dritten Bewegung“, die sich gleichsam aus dem Unterbewusstsein erhebt, als auch der Rekurs auf das „Kristallsehen“, womit der in der Tradition der Mystik gut etablierte Blick in die Kristallkugel gemeint ist, stellen einen Bezug zum spiritistisch-okkultistischen Diskurs her – auch in Séancen um 1900 kamen noch Kristallkugeln oder, eine einfachere Ausführung, Wassergläser zum Einsatz, aus denen die visionären Bilder aufstiegen, wenn das mediumistische Bewusstsein in jenen bestimmten Zustand getreten war, den man „nicht mehr komandiren“ kann und so zum Produzenten – salopp formuliert – einer Vielzahl von gelben Kröten wird.

Drei Jahre später eröffnete sich im Abschnitt Über das Unsichtbare in Panizzas Schrift Dialoge im Geiste Huttens (1897) eine geschichtsphilosophische Dimension des poetischen Sprachspuks: Die Leiden der Unterdrückung und der Gewalt an Menschen in der Vergangenheit, die nicht zur Sprache gekommen sind, sind für Panizza ebenfalls unsichtbar und zugleich anwesend, wenn ein Dichter spricht. Unsichtbar heißt in der politischen Schrift, die Leiden sind gesellschaftlich nicht gerächt worden, doch sie füllen das zur Sprache gekommene Unsichtbare an. Das Unsichtbare, das das dichterische Ich im Glauben an seinen Dämon zur Sprache bringt, trägt die unausgesprochenen Leiden vergangener Generationen mit sich und die still erduldeten Qualen sind der Ansporn des Dämons:

Wenn ich nicht an das Unsichtbare glaubte – an einem ursächlichen Zusammenhang des rein Psichischen, des Nicht-Verlautbar-Werdenden, des Hinuntergeschlukten mit der fisischen Welt des Schlagens und Geschlagen-Werdens, des Ringens und Kämpfens, wenn ich nicht wüßte, daß das was wir in den letzten zehn Jahren heimlich gelitten haben, irgend wo aufgeschrieben ist, und in irgend einer Form umgemodelt in dieser sichtbaren Welt wieder als Kampf und Rache zum Vorschein komt, dann hielte ich das Leben nicht mehr für lebenswert und müßte verzweifeln an Deutschland.[11]

Diese Passage beschwört förmlich die Wirkmacht des Unsichtbaren als dem Geisterreich nicht manifestierter Ideen, Hoffnungen, Wünsche, alles mit deutlich politischer Grundierung – was sich bei einem Spiritisten wie du Prel so nicht finden würde. Es ist dieses Unsichtbare, das sich des Menschen – so er nur eine bestimmte Disposition mitbringt – als eines „Werkzeugs“[12] bedient; eine Vorstellung, die anschließt an Panizzas Idee des Dämons. Der Dämon, der ein, wie es heißt, aus dem „Transzendentalen mit Notwendigkeit gewonnener Faktor“ ist, erfüllt gleichermaßen eine grenzsichernde Funktion gegen die Zumutungen der äußeren Welt des „Schlagens und Geschlagenwerdens“ und sprengt zugleich permanent Grenzen, die diese äußere Welt dem Individuum auferlegt. Der Dämon ist jene Triebfeder des Handelns, aus der das Handeln selbst seine Legitimation erhält und die nie selbst in Erscheinung tritt – ein Geist, der nur in Form der durch ihn gezeugten Geister greifbar wird. Ganz so, wie es Max Stirner, dem Panizza seine Illusionismus-Schrift widmet, in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844/45) formuliert hatte: „Die Werke […] des Geistes sind aber nichts anderes als – Geister“.[13] In dieser – und nur in dieser – Hinsicht war Panizza tatsächlich Spiritist.

 

[1] Prel, Carl du: Der Tod, das Jenseits, das Leben im Jenseits. 3.Aufl. Leipzig 1910, S. 76.

[2] Panizza, Oskar: Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit. Leipzig 1895, S. 9.

[3] Ebd., S. 5.

[4] Ebd., S. 9.

[5] Brittnacher, Hans Richard: Gespenster aus Dänemark. Okkultismus und Spiritismus in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Innerhofer, Roland / Schönsee, Rebecca (Hg.): Strahlen sehen. Zu einer Ästhetik des Emanativen. Wien 2015, S. 52-71, hier S. 57.

[6] Ebd.

[7] Panizza, Oskar: Die gelbe Kröte. In: Ders.: „Ein bisschen Gefängnis und ein bisschen Irrenhaus“. Ein Lesebuch. Hg. v. Michael Bauer und Christine Gerstacker. München 2019, S. 239–248, hier S. 246.

[8] Ebd., S. 247.

[9] Ebd.

[10] Ebd., S. 242.

[11] Panizza, Oskar: Dialoge im Geiste Huttens. Mit einem Vorwort von Heiner Müller, Panizzajana von Bernd Mattheus und Beiträgen im Geiste Panizzas von Karl Günther Hufnagel und Peter Erlach. München 1979, S. 73f.

[12] Panizza, Dialoge im Geiste Huttens, S. 61.

[13] Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Göttingen 2020, S. 21.

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