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17.07.2020, 10:51 Uhr
Klaus Hübner
Text & Debatte
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1970er: Alternative Literatur – was war das denn?

Die 140. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Literatur als Lebensmittel. Darin rezensiert Klaus Hübner eine kürzlich erschienene Anthologie von Autoren und Autorinnen der 1970er Jahre.

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Spätestens seit Mitte der 1960er-Jahre wurde es unruhig in der zuvor recht konformen, allmählich richtig wohlhabenden und insgesamt ein bisschen langweiligen bundesrepublikanischen Gesellschaft. Politische Turbulenzen, Demos, Happenings und ziviler Ungehorsam, Ausprobieren neuer Lebensformen in Kommunen und Wohngemeinschaften, bizarre Modekapriolen, Beat-, Rock- und Popmusik – und überall diese Langhaarigen, die schon wegen ihres Aussehens jeden braven Bürger provozieren mussten. Plötzlich gab es eine „alternative“ Presse – und eine „alternative“ Literatur. Was war das eigentlich?

Ein halbes Jahrhundert später versuchen 28 Akteure von damals, sich dieser Frage zu stellen, indem sie sich – subjektiv und möglichst konkret – an jene wilden Jahre erinnern und ihre sehr unterschiedlichen Lebenswege reflektieren. Einige von ihnen wird man nicht mehr kennen, andere spielen seit den 1970er-Jahren im literarischen Leben mit: Frank Göhre etwa, Ralf Thenior, Jürgen Theobaldy, Manfred Bosch, Peter Salomon oder Barbara Maria Kloos, übrigens die einzige Frau unter den Beiträgern. Sie hat einige Studienjahre in München verbracht. Andere sind enger mit Bayern verbunden.

„Ich entdeckte, welches klangliche und sprachliche Potential im Dialekt steckt“, schreibt der 1944 geborene Fitzgerald Kusz, der seinen Weg zum 1975 entstandenen und 34 Jahre lang am Nürnberger Theater gespielten Erfolgsstück Schweig, Bub! skizziert. „Dabei kam mir zugute, was ich vom Pop gelernt hatte: das Zitieren von Sprache in allen Erscheinungsformen. Alltag wird so, in einen anderen Zusammenhang gestellt, zur Kunst“.

Der aus Niederbayern stammende Manfred Ach, dem in München die „verwöhnten Burschis und Mädis aus den Villengegenden“ schrecklich auf die Nerven gingen, studierte meistens im Wirtshaus Atzinger, „wo die ROTZEG (Rote Zelle Germanistik) mit den Forstwissenschaftlern um die Wette soff“. Mit Gedichtbänden wie Beste Empfehlungen oder Percussion versuchte er um 1970, die Revolte in Sprache umzusetzen und die Trennung von Poesie und Politik aufzuheben.

Benno Käsmayr berichtet, wie es zur Gründung der Szene-Zeitschrift UND und des bis heute wichtigen Maro Verlags kam. Dort erschien auch das erste Buch seines Jugendfreundes Tiny StrickerTrip Generation wurde ein Riesenerfolg, weit über die Alternativszene hinaus. Unruhige Vita 1967ff. betitelt Stricker seinen eigenen Beitrag, in dem er den Entstehungskontext des Romans erläutert und in dem es programmatisch heißt: „Die Welt veränderte sich rasant und ebenso die Bezugsgrößen“.

Seit 1969 seien immer mehr seiner Texte in Zeitschriften wie den horen oder dem pult, im Metzger oder in Spontan publiziert worden, berichtet der 1950 in Fürth geborene Gerd Scherm, der – wie viele andere Alternativ-Autoren – herausstellt, dass das Ulcus Molle Info, das Josef Wintjes in Bottrop betrieb, das unverzichtbare „Zentrum des alternativen Literatur-Netzwerks“ gewesen ist.

Wer sich – ob noch oder wieder – für die wilden Jahre der alternativen Literatur in Westdeutschland interessiert, muss diese Anthologie kennen. Die Herausgeber haben bereits einen zweiten Band angekündigt, und man darf gespannt sein, wer sich daran beteiligen wird. Der Ingolstädter Autor Carl-Ludwig Reichert jedenfalls sollte nicht fehlen.

Sekundärliteratur:

Engel, Engel; Emig, Günther Emig (Hg.): Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiographie „alternativer“ Autoren aus den 1970ern und danach. Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten 2020, 485 S.

 

Externe Links:

Zur Literatur in Bayern

Die untergründigen Jahre bei Günther Emigs Literatur-Betrieb