Info
10.01.2020, 15:37 Uhr
Klaus Hübner
Text & Debatte
images/lpbblogs/8.-7674596000001Z.jpg

Klaus Hübner über den Gedichtzyklus „Vor aller Zeit" von Ludwig Steinherr

Spiegel bayerischer Literatur und Kultur, fundiert und unterhaltsam, Essays, Prosatexte und Gedichte von prominenten und unbekannten Autoren: Das ist die Zeitschrift Literatur in Bayern. In der 137. Ausgabe stellt der Publizist Klaus Hübner „Vor aller Zeit" von Ludwig Steinherr vor.

*

Großer Gott, wir loben Dich darf man zu den eindrucksvollsten Kirchenliedern des Abendlandes rechnen. Drei Wörter aus dem Liedtext machte der emeritierte Romanistikprofessor und wunderbare Erzähler Johannes Hösle zum Titel des ersten Teils seiner Erinnerungen: Vor aller Zeit. Genauso hat Ludwig Steinherr seine einundzwanzig Gedichte zur Ankunft eines Kindes genannt. Erstmals erschienen sind sie 2003 in der Edition Toni Pongratz in Hauzenberg; seit Kurzem liegen sie in einer »nur wenig veränderten Neuauflage« beim Allitera Verlag vor, wo auch zahlreiche andere Gedichtbände des Autors erschienen sind.

Der 1962 in München geborene Ludwig Steinherr, der als Philosophie-Dozent tätig ist, seit 1985 Lyrikbände veröffentlicht und vielfach preisgekrönt wurde, erweist sich mit diesem schmalen Gedichtzyklus als ein mit vielen Wassern gewaschener Meister seines Metiers. Irgendwann wird man seinen Gedichten die Spuren einer enormen Belesenheit von der Bibel über Dante und John Donne bis zu Paul Celan und Jospeh Brodsky nachweisen.

Aber fast noch mehr zu rühmen ist etwas Elementareres als das Wissen um poetische Traditionen: das Sujet der Gedichte. Ludwig Steinherr bedichtet hier den Zauber, den Glanz und das Geheimnis, die das Werden eines neuen Erdenbürgers begleiten – und seine intensiven Verse evozieren auf oftmals ganz zarte, anrührende Art und Weise das Beglückende und Wunderbare, das diesem Geschehen anhaftet.

»Noch ist deine / Existenz unfassbar«: Mit diesen Zeilen beginnt ein Kranz von Texten, der die meistens mit dem Gemisch aus großer Freude und banger Erwartung verknüpften Schwangerschaftsmonate zum Thema hat – bis das Kind endlich »Im Leben« ist, wie es im Epilog heißt, der folgendermaßen endet:

Hoffnung
weit über alle
Märchen hinaus:

Das stärker
am Ende
die Liebe –
Nun hab ich
mehr auf sie gesetzt
als nur mein
Leben

Dazwischen viele bemerkenswerte poetische Reflexionen, etwa darüber, was all die leuchtenden und all die verzweifelten Tage, die die werdenden Eltern ohne das Kind gelebt haben, in dessen Augen sein werden – nichts wirklich Wichtiges wohl, zum Glück. Oder darüber, wie selbst dem wortmächtigsten Dichter sein Allerkostbarstes, die Sprache nämlich, schal wird angesichts der Zeichen aus dem Mutterleib. Nichts wird mehr sein, wie es war – und noch weiß man nicht, wie es werden wird. Ein Kind ist per se ein Versprechen auf Zukunft.

Ludwig Steinherrs Gedichte aber feiern weniger die Zukunft selbst als vielmehr den unvorhersehbaren, einzigartigen Eigensinn des Kindes, der diese Zukunft bestimmen und gestalten wird. Nicht in die allerbeste Welt wächst das Kind hinein – nein, es steht ihm notgedrungen nur unsere zur Verfügung. Was es dort wohl Brauchbares antreffen wird?

Stimmen, Laute zum Beispiel, wie der Titel des fünften Gedichts lautet:

Jeder Satz den wir
sprechen
gleichgültig, beim Abendessen –

Für dich ein Raunen
orphisches Unwort
geheimnisvolle
Offenbarung –

Alles geht dich an
hat Bedeutung –

Erst nach und nach
wirst du dich
wie wir uns nach
einem Konzert
einem langen Flug
einer Umarmung
zögernd
einfinden
in die Welt
des Banalen

Der Dichter befasst sich auch mit der relativen Hilflosigkeit des Vaters kurz vor und während der Geburt, einer Klinikgeburt mit Kaiserschnitt übrigens, und hier darf man sich natürlich fragen, ob ein heutiger Fließband-Chirurg als »Zauberkünstler / mit flinken / behandschuhten Händen / blitzenden Instrumenten« nicht zu unkritisch gesehen wird.

Gleichviel – andere Sprachbilder, nachdenklich und zart und wundersam, versöhnen den Leser rasch wieder. Im Taumel frischen Vaterglücks mag es ja generell nicht immer ganz leicht fallen, die Kitschgrenze nicht zu überschreiten. Ludwig Steinherr überschreitet sie nicht. Auch deswegen darf man sein ganz unspektakulär daherkommendes Gedichtbändchen empfehlen – als geradezu ideales Geschenk für werdende Eltern mit ein wenig Sinn für die Poesie des Daseins.


Ludwig Steinherr: Vor aller Zeit. Einundzwanzig Gedichte zur Ankunft eines Kindes. Allitera Verlag, München 2019. 39. S.