Sandra Hoffmann ist: DRAUSSEN (50). Und sammelt auf, was es da gibt, um Bilder zu machen im Kopf

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Alle Bilder (c) Sandra Hoffmann

Sandra Hoffmann schreibt Romane, Erzählungen und heimlich Gedichte. Sie unterrichtet kreatives und literarisches Schreiben u.a. am Literaturhaus München und an Universitäten. Außerdem schreibt sie für das Radio und für Zeitungen. Sie lebt in München und Niederbayern, wo sie derzeit viel Zeit in der Natur verbringt. Für ihr literarisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet; zuletzt erhielt sie für den Roman Paula das Literaturstipendium des Freistaats Bayern und den Hans-Fallada-Preis. 2019 erschien mit Das Leben spielt hier ihr erstes Jugendbuch. Für ein derzeit entstehendes Romanprojekt bekam sie 2020 das Münchner Arbeitsstipendium.

Über einen längeren Zeitraum schreibt Sandra Hoffmann für das Literaturportal Bayern eine Kolumne: DRAUSSEN. Ein Album. Darin schildert sie, was sie auf dem Land und seiner Natur erlebt, ob sie nun Rehe und Fasane beobachtet oder zum Essen aufsammelt, was sie vor sich auf dem Boden findet. Vor allem aber geht es um das Gehen selbst und die Gedankengänge dabei, um ein Flanieren zwischen Bäumen, das Blaue vom Himmel über den Wipfeln. Die Kolumne pausierte und wird ab heute wieder fortgesetzt.

Die Corona-Zeit ist eine Zeit der Einschränkungen, oft der Einsamkeit. Aber an ihr können sich auch die Sinne schärfen. Der besondere Geschmack schrundigen Gemüses, die bangende Pflege eines Quittenbaums. Das ist nichts Geringes. In einer Gegenwart, die uns die Folgen des langen menschlichen Raubbaus an der Natur immer drastischer vor Augen führt, sind darin wesentliche gesellschaftspolitische Fragen angelegt. Die Literatur verfolgt sie seit einiger Zeit mit einer auffallenden Renaissance des Nature Writing, bei Sandra Hoffmann in Form einer Schule der Wahrnehmung: Da DRAUSSEN gibt es etwas zu sehen, zu spüren, zu holen und zu schützen.

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50

Man ist ja nicht immer alleine. Zum Glück.

Deshalb ist man auch nicht immer alleine draußen.

Alleine draußen sein ist aber etwas vollkommen anderes, als zu zweit draußen sein oder mit einer Gruppe von Menschen draußen zu sein.

Gestern war ich anlässlich eines Geburtstages mit einer ziemlichen Anzahl von anderen Leuten auf dem Berg. Was schön war. Wir haben geredet und gelacht. Wir gingen eine gute Stunde den Berg hinauf zu einem Gasthaus und eine nicht ganze Stunde wieder hinab. Wir waren draußen. Wir waren an der frischen Luft, wir haben den Föhn gespürt, der ziemlich aus den Alpen heraus ins Chiemgau hinein blies, wir haben ihn am Himmel gesehen. Wir haben den Himmel gesehen, Farben.

Haben wir?
Da fangen die Fragen an.

Was sehe ich, wenn ich zu zweit, zu dritt, zu viert, zu dreißigst durch den Wald gehe, auf den Berg gehe, was höre ich, was nehme ich wahr?

Und was sehe ich, wenn ich alleine gehe, und alleine mein Auge aus mir hinausblickt, was höre ich, wenn mein Ohr in den Wald, die Wiese hinaus hört, wenn da sonst niemand ist, was rieche ich, wenn meine Nase nicht Mensch einatmet? Und vor allem, wie verändert sich meine Wahrnehmung, wenn ich nur mit mir selbst da bin, wo ich gerade bin? Draußen.

Ich habe gestern eine interessante Beobachtung gemacht. Beim Aufstieg auf den Berg habe ich mich fast die ganze Zeit unterhalten, und klar, rechts und links säumte der Wald den Weg bergauf, irgendwann die Wiese, und klar, ich sah ein paar Pilze, ich sah einen Bach, ich sah auch den einen oder anderen umgestürzten Baum, ich sah, ich erinnere mich genau, ich sah, weil ich irgendwann einmal kurz innehielt, der warme Föhnwind senkte sich plötzlich durch eine Schneise auf den Weg hinab, da legte ich den Kopf in den Nacken und da sah ich auch den Himmel, Föhnhimmel, gefiederte Wolken im Flug.

Auf dem Rückweg aber dachte ich plötzlich, was hast du denn wirklich gesehen, was war auf diesem Weg anders als auf den Wegen, die Du sonst durch den Wald unterwegs bist, wo warst Du heute? Wirst Du es erzählen können, wem auch immer: am besten Dir selbst?

Und also schaute ich. Obwohl ich mich unterhielt, schaute ich. Ich schaute in den Wald hinein, ich schaute in den Himmel hinauf, ich blieb für Momente stehen, weil ich die kleine Hütte zwischen den Bäumen fotografieren wollte, weil ich sie sofort besetzte in der Fantasie. Ich blieb stehen. Weil ich plötzlich Binsengewächse sah, die den Wald hinaufwuchsen in so einem frischen Laubfroschgrün, auffällig für diese Jahreszeit. Ich sah den Herbst nicht nur in den Farben der Bäume, sondern auch in der Zerzaustheit, Zerfressenheit, im Zerfall von Blattwerk, Blattgrün. Ich sah. Ich nahm wahr.

Es geht also, dachte ich. Ich kann in Gesellschaft draußen sein und etwas sehen. Vielleicht nichts hören, weil wer von den Tieren außer dem Eichelhäher meldet sich noch, wenn sich dreißig Leute durch den Wald hindurch reden.

Ich behaupte aber: Ich kann nur dann etwas sehen, wenn ich weiß: Ich will das. Ich will draußen sein, wenn ich draußen bin, und aufsammeln, was es da gibt, mitnehmen, zu Bildern machen im Kopf, wahrnehmen, und sei es auch mal nur mit meinen Augen.

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Alle Folgen der Kolumne finden Sie HIER.

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