Eine Fluchtgeschichte (6): aufgeschrieben von der Schriftstellerin Lena Gorelik
Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Doris Dörrie oder Dagmar Leupold. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11.2015 im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus der Geschichte von Ahmad Shahab Khedher, aufgeschrieben von der Schriftstellerin Lena Gorelik.
*
Deutschland ist zuhause
Da, wo die Geschichte von Ahmad Shahab Khedher beginnt, ist es heiß, sandig und bergig, die Hitze drückt, und seit einigen Jahren drückt auch die politische Situation. Die Menschen, die dort leben, glauben an Gott, und außerdem glauben sie an Familie, Zusammenhalt und die Notwendigkeit, fürs Überleben zu kämpfen. Seine Geschichte beginnt in einem irakischen Dorf. 3500 Häuser, die unter Saddam Husseins Regime zusammengelegt wurden, davor handelte es sich um noch ein kleineres Dorf. Zwischen den 3500 Häusern wuchs Ahmad Shahab Khedher auf, der Zweitälteste, ein Bruder, zwei Schwestern, eine große Familie, er spielte mit den anderen im Sand, und später ging er zur Schule, sechs Jahre alt. Ein Kind.
Wenn aber Ahmad Shahab Khedher von seiner Kindheit erzählt, so leuchten seine Augen nicht auf, so wie man es gerne aufschreiben würde, weil man sich gerne diesem Gedanken hingibt, dass Kindheitserinnerungen die Augen zum Leuchten bringen, auch wenn die Kindheit eine andere war, als man sie hierzulande kennt. Wenn Ahmad Shahab Khedher von seiner Kindheit erzählt, so tut er es in knappen Sätzen, als sagte er damit: Zu erzählen gibt es da nicht viel.
Sein Vater war Ingenieur, und auf die Frage nach dem Beruf seiner Mutter gibt er als Antwort: „Sie ist Analphabetin.“ Er selbst habe alles Mögliche gearbeitet: Einzelhandel, Einkauf, Verkauf, landwirtschaftliche Arbeit. „Alles Mögliche habe ich in meinem Leben gemacht“, wiederholt er, das ist sein Lebensmantra. Immer weiter machen, immer weiter gehen, nie stehen bleiben, auch das hat ihn hierher gebracht.
Hierher: Ahmad Shahab Khedher erzählt seine Geschichte im Büro des Münchner Beratungs- und Behandlungszentrums für Flüchtlinge und Folteropfer Refugio, einem Ort, an dem er sich seit einigen Monaten einmal die Woche aufhält. 'Aufhält' ist ein Euphemismus, er kommt hierher, um zu sprechen, um seine Geschichte aufzuarbeiten, vielleicht um zu verstehen, vielleicht um damit leben zu können. Vielleicht um besser schlafen zu können. Er sieht adrett aus: blaues Hemd, gebügelt. Hose, gebügelt. Lederschuhe, geputzt. Bart, gestutzt. Ein adretter junger Mann, der ruhig und unaufgeregt erzählt und manchmal schüchtern, aber unglaublich freundlich lacht. 'Hierher' ist in seinem Fall natürlich auch Deutschland oder München oder Dachau, wo er seit einigen Jahren lebt. Warum Deutschland, eine Frage, die sich leichter stellen lässt als die andere, die auf der Zunge liegt: Warum nicht mehr Irak? Warum nicht mehr dieses 3500-Häuser-Dorf? „Deutschland ist das zweite Land nach dem Irak, das wir mögen“, erklärt Ahmad Shahab Khedher. Da ist kein Lächeln und keine Koketterie, das ist die simple, ehrliche Ein-Satz-Wahrheit.
Ahmad Shahab Khedher entschuldigt sich, bevor er seinen Leidensweg, der ihn hierher gebracht hat, zu erzählen beginnt: „Ich bin zwar illegal nach Deutschland gekommen, aber gleich an dem Tag, an dem ich den Asylantrag gestellt habe, habe ich mich entschuldigt und gesagt: Es tut mir leid, dass ich illegal eingereist bin.“ Ahmad Shahab Khedher entschuldigt sich mehrmals, während er seine Geschichte erzählt, und jedes Mal möchte man ihn unterbrechen, ihm die Hand auf die Schulter legen, nein, das musst du nicht. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.
Die Geschichte, die ihn nach Deutschland brachte, kann und muss er vielleicht in einem Satz zusammenfassen, weil alles andere zu nah, zu tief geht und bestimmt auch an Stellen führt, an die er nie wieder zurückkehren möchte. Also sagt er nur: „Meine Probleme sind sehr schwer zur Sprache zu bringen, ich kann sie nicht aussprechen. Ich bin dann 2009 ganz alleine nach Deutschland gekommen. Über illegale Wege, mit einem LKW.“
Nach dem LKW darf man ihn fragen, auch wenn die Antworten da ebenfalls kurz bleiben, erst kam er in die Türkei, dann in vier, fünf Tagen nach Deutschland, so genau weiß er das nicht mehr. Ein Taxi hat ihn zu dem LKW gebracht, „und die haben mir gezeigt, wie ich unten in den Lastwagen klettere, und bis ich in Deutschland angekommen bin, bin ich da drin geblieben.“ Immer spricht er von „die“, wenn er von den Schleppern erzählt, nie beschreibt er sie, gibt ihre Anzahl an oder äußert sich über deren Herkunft. „Die haben mir so Kekse gegeben, und nur wenn der Hunger sehr groß wurde, habe ich Kekse gegessen. Einen Tag davor sollte ich auch nichts essen, damit ich nicht auf die Toilette musste.“ Einen Nachttopf hatte er bei sich und eine Flasche Wasser, sonst nichts. Keine Tasche, keine Klamotten, kein Telefon, keine Erinnerungsfotos, nichts. Eine Wasserflasche und ein Nachttopf.
Eine Fluchtgeschichte (6): aufgeschrieben von der Schriftstellerin Lena Gorelik>
Im Vorfeld des Literaturfests München hat eine Reihe von Münchner Autorinnen und Autoren Flüchtlinge kennengelernt und gemeinsam mit ihnen ihre Fluchtgeschichten aufgeschrieben. Die Hoffnung im Gepäck hieß in der zweiten Festivalwoche die darauf aufbauende Veranstaltungsreihe des forum:autoren, und es ist zugleich der Titel einer Anthologie, die auf Anregung von REFUGIO München im Allitera Verlag erschienen ist. Darin finden sich Texte u.a. von Albert Ostermaier, Tilman Spengler, Friedrich Ani, Doris Dörrie oder Dagmar Leupold. Die entstandenen Porträts, Reportagen, Interviews und Berichte wurden vom 23. bis 27.11.2015 im Lyrik Kabinett vorgestellt, meist auch mit Beteiligung der Geflüchteten. Wir publizieren einen Auszug aus der Geschichte von Ahmad Shahab Khedher, aufgeschrieben von der Schriftstellerin Lena Gorelik.
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Deutschland ist zuhause
Da, wo die Geschichte von Ahmad Shahab Khedher beginnt, ist es heiß, sandig und bergig, die Hitze drückt, und seit einigen Jahren drückt auch die politische Situation. Die Menschen, die dort leben, glauben an Gott, und außerdem glauben sie an Familie, Zusammenhalt und die Notwendigkeit, fürs Überleben zu kämpfen. Seine Geschichte beginnt in einem irakischen Dorf. 3500 Häuser, die unter Saddam Husseins Regime zusammengelegt wurden, davor handelte es sich um noch ein kleineres Dorf. Zwischen den 3500 Häusern wuchs Ahmad Shahab Khedher auf, der Zweitälteste, ein Bruder, zwei Schwestern, eine große Familie, er spielte mit den anderen im Sand, und später ging er zur Schule, sechs Jahre alt. Ein Kind.
Wenn aber Ahmad Shahab Khedher von seiner Kindheit erzählt, so leuchten seine Augen nicht auf, so wie man es gerne aufschreiben würde, weil man sich gerne diesem Gedanken hingibt, dass Kindheitserinnerungen die Augen zum Leuchten bringen, auch wenn die Kindheit eine andere war, als man sie hierzulande kennt. Wenn Ahmad Shahab Khedher von seiner Kindheit erzählt, so tut er es in knappen Sätzen, als sagte er damit: Zu erzählen gibt es da nicht viel.
Sein Vater war Ingenieur, und auf die Frage nach dem Beruf seiner Mutter gibt er als Antwort: „Sie ist Analphabetin.“ Er selbst habe alles Mögliche gearbeitet: Einzelhandel, Einkauf, Verkauf, landwirtschaftliche Arbeit. „Alles Mögliche habe ich in meinem Leben gemacht“, wiederholt er, das ist sein Lebensmantra. Immer weiter machen, immer weiter gehen, nie stehen bleiben, auch das hat ihn hierher gebracht.
Hierher: Ahmad Shahab Khedher erzählt seine Geschichte im Büro des Münchner Beratungs- und Behandlungszentrums für Flüchtlinge und Folteropfer Refugio, einem Ort, an dem er sich seit einigen Monaten einmal die Woche aufhält. 'Aufhält' ist ein Euphemismus, er kommt hierher, um zu sprechen, um seine Geschichte aufzuarbeiten, vielleicht um zu verstehen, vielleicht um damit leben zu können. Vielleicht um besser schlafen zu können. Er sieht adrett aus: blaues Hemd, gebügelt. Hose, gebügelt. Lederschuhe, geputzt. Bart, gestutzt. Ein adretter junger Mann, der ruhig und unaufgeregt erzählt und manchmal schüchtern, aber unglaublich freundlich lacht. 'Hierher' ist in seinem Fall natürlich auch Deutschland oder München oder Dachau, wo er seit einigen Jahren lebt. Warum Deutschland, eine Frage, die sich leichter stellen lässt als die andere, die auf der Zunge liegt: Warum nicht mehr Irak? Warum nicht mehr dieses 3500-Häuser-Dorf? „Deutschland ist das zweite Land nach dem Irak, das wir mögen“, erklärt Ahmad Shahab Khedher. Da ist kein Lächeln und keine Koketterie, das ist die simple, ehrliche Ein-Satz-Wahrheit.
Ahmad Shahab Khedher entschuldigt sich, bevor er seinen Leidensweg, der ihn hierher gebracht hat, zu erzählen beginnt: „Ich bin zwar illegal nach Deutschland gekommen, aber gleich an dem Tag, an dem ich den Asylantrag gestellt habe, habe ich mich entschuldigt und gesagt: Es tut mir leid, dass ich illegal eingereist bin.“ Ahmad Shahab Khedher entschuldigt sich mehrmals, während er seine Geschichte erzählt, und jedes Mal möchte man ihn unterbrechen, ihm die Hand auf die Schulter legen, nein, das musst du nicht. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.
Die Geschichte, die ihn nach Deutschland brachte, kann und muss er vielleicht in einem Satz zusammenfassen, weil alles andere zu nah, zu tief geht und bestimmt auch an Stellen führt, an die er nie wieder zurückkehren möchte. Also sagt er nur: „Meine Probleme sind sehr schwer zur Sprache zu bringen, ich kann sie nicht aussprechen. Ich bin dann 2009 ganz alleine nach Deutschland gekommen. Über illegale Wege, mit einem LKW.“
Nach dem LKW darf man ihn fragen, auch wenn die Antworten da ebenfalls kurz bleiben, erst kam er in die Türkei, dann in vier, fünf Tagen nach Deutschland, so genau weiß er das nicht mehr. Ein Taxi hat ihn zu dem LKW gebracht, „und die haben mir gezeigt, wie ich unten in den Lastwagen klettere, und bis ich in Deutschland angekommen bin, bin ich da drin geblieben.“ Immer spricht er von „die“, wenn er von den Schleppern erzählt, nie beschreibt er sie, gibt ihre Anzahl an oder äußert sich über deren Herkunft. „Die haben mir so Kekse gegeben, und nur wenn der Hunger sehr groß wurde, habe ich Kekse gegessen. Einen Tag davor sollte ich auch nichts essen, damit ich nicht auf die Toilette musste.“ Einen Nachttopf hatte er bei sich und eine Flasche Wasser, sonst nichts. Keine Tasche, keine Klamotten, kein Telefon, keine Erinnerungsfotos, nichts. Eine Wasserflasche und ein Nachttopf.