Info
27.01.2016, 09:32 Uhr
Redaktion
Gespräche
images/lpbblogs/redaktion/2016/gross/gorelik_lena_lpb.jpg
© Gerald von Foris

Interview mit Lena Gorelik über ihren Roman „Null bis unendlich“ – Teil I

In ihrem neuen Roman Null bis unendlich (Rowohlt, 2015) erzählt Lena Gorelik von drei außergewöhnlichen Menschen, von Freundschaft, Liebe und Abschied. Wir trafen die Autorin in München und haben ihr ein paar Fragen zu Zahlen, Beziehungen und gesellschaftlichen Konventionen gestellt.

*

Null bis unendlich

Fünfzehn Jahre lang hat Nils nichts von Sanela gehört. Damals waren beide vierzehn, Nils multiplizierte vierstellige Zahlen im Kopf, Sanela kam aus Jugoslawien und hatte im Krieg ihre Eltern verloren. Zwischen den beiden Außenseitern begann eine enge Freundschaft, vielleicht wäre es sogar mehr geworden. Aber nachdem sie zusammen ausgerissen waren und versucht hatten, in Bosnien das Grab von Sanelas Vater zu finden, eine so vergebliche wie gefährliche Reise, kam das abrupte Ende zwischen Nils und dem wilden Mädchen, das immer aus allem ausbrechen wollte. Nun erhält Nils plötzlich einen Brief von Sanela, einen Brief wie früher, scheinbar zufällig. Und weiß beim ersten Treffen, wie sehr sie ihm all die Jahre gefehlt hat. Sanela hat einen kleinen Sohn, der Niels-Tito heißt, der wie Nils  die Zahlen liebt und sich sofort mit diesem versteht wie mit keinem sonst. Zu dritt holen sie die Reise nach und werden bald zu so etwas wie einer Familie. Aber Sanela macht es Nils immer noch nicht leicht. Ihr Brief war kein Zufall, denn sie ist sehr krank ...

 

Literaturportal Bayern: Der Titel des Buches Null bis unendlich vereint mathematisch gesehen eine leere Menge mit einem Grenzwert. Wie trifft das auch auf die Geschichte zu, die im Roman erzählt wird, und auf die beiden Protagonisten Sanela und Nils?

Lena Gorelik: Für mich waren beide Zahlen mehr ein Gefühl. Aber auch die mathematische Dimension passt sehr gut. Die Null steht für die Leere, eine Leere, die sich auch durch das Buch zieht und beide Figuren ihr Leben lang zu füllen versuchen. Bei Sanela ist das noch stärker als bei Nils: Sie hält die Leere kaum aus. Sie hat immer das Gefühl, da fehlt etwas, da muss noch mehr kommen, und kann das nicht in Worte fassen. Sanela bleibt dadurch ständig auf der Suche nach Grenzerfahrungen, um diese „Null“ auszufüllen, und bemerkt genau da ihre Endlichkeit, ihre eigene Begrenztheit. Man muss sagen, die beiden (oder die drei – mit Niels-Tito) scheitern letztendlich an Sanela und an sich selbst. Sie scheitern gewissermaßen an der Null.

Das Unendliche dagegen ist für mich gleichzeitig das, was die drei sind, und das, was sie nie erreichen. Sie sind unendlich in ihrer Weite des Denkens und auch in ihrer Konzeptlosigkeit von Liebe oder von Familie. Sie brauchen diese Begriffe nicht. In diesem Unendlichen können sie sie selbst sein und sind frei von gesellschaftlichen Konventionen.

Viele von uns glauben, frei von gesellschaftlichen Konventionen zu sein, oder streben danach. Die drei sind es aber tatsächlich, weil sie die Konventionen gar nicht spüren. Das klingt zwar erstmal großartig, aber trotzdem scheitern sie gnadenlos und erreichen das Glück, das man glaubt, in der Unendlichkeit zu finden, nie.

Wo sie sich gerade befinden – bei null, bei unendlich oder in der Mitte – das vermischt sich stark oder es ändert sich schlagartig. Es gibt Momente, in denen sie im Unendlichen schweben, und dann tut Sanela irgendetwas, durch das sie wieder herausfallen. Sie haben nie eine Mitte, die man von außen wohl als „gesund“ bezeichnen würde. Ich wage aber zu bezweifeln, dass diese Mitte gesund ist bzw. dass die drei diese Mitte brauchen. Ich denke sogar, dass sie an der Mitte noch schneller zu Grunde gehen würden.

Null und unendlich gehen also stark ineinander über und das war für mich auch sehr wichtig. Es ist eine gute Beschreibung für die beiden. Sie befinden sich oft weit voneinander entfernt, aber wenn sie sich treffen, dann ist das wie eine Explosion. Und dann geht es wieder gegen null und gegen unendlich, nur eben nicht gemeinsam, sondern jeder für sich, in unterschiedliche Richtungen.

LPB: Das Scheitern, das im Buch geschildert wird, ist also kein Scheitern an einer gesellschaftlichen Norm, an einer Vorstellung von einer „normalen“ Familie oder einer „normalen“ Liebesbeziehung. Es ist ein Scheitern aus dem Inneren der Figuren heraus?

LG: Sie scheitern nicht an den Konventionen, denn um diese kümmern sie sich zu keinem Zeitpunkt. Sie scheitern vielmehr am Leben. Ich habe ihnen die ganze Zeit über gewünscht, sie würden es miteinander schaffen, weil ich die Figuren wirklich mag. Ich hätte ihnen gewünscht, dass sie glücklich werden.

Das Leben legt Sanela sehr viele Steine in den Weg – vielleicht auch zu viele. Sie scheitert aber schließlich an sich selbst. Sowohl Nils als auch Sanela scheitern an der Unfähigkeit, mit Gefühlen umzugehen. Sie sind sogar so unfähig, mit ihren Emotionen umzugehen, dass sie noch nicht mal die unkonventionellen Gefühle, die sie füreinander haben, zulassen können. Sie könnten sagen, „Wir fühlen anders als die anderen, aber die Gefühle, die wir haben, lassen wir uns“. Aber auch das schaffen sie nicht. Ich habe überlegt, ob das Buch Ein Versuch an der Liebe heißen sollte.

LPB: Das Begreifen dieser Gefühle oder auch der Unfähigkeit, zu fühlen, ist in Null bis unendlich sehr interessant gestaltet: Zahlen und Logik spielen für eine der Figuren, die paradoxerweise den Namen Nils Liebe trägt, eine wichtige Rolle. Gelingt es ihm, die Gefühle, die da sind, logisch zu begreifen, weil das eben die Art ist, wie er die Welt um sich erfasst? Ist es möglich, Liebe mit Logik zu begreifen?

LG: Nein, ich glaube, das ist nicht möglich. Das sieht man auch an der Entwicklung, die Nils Liebe durchmacht: Er, der sein Leben lang dachte, es ist möglich, Gefühle zu denken, gerät in einen Gefühlsstrudel und ist damit total überfordert.

Das beginnt schon damit, dass er, als er das erste Mal bemerkt, dass Sanela ihr Kind so sehr liebt, Eifersucht spürt. Hier fängt er an zu fühlen. Hier hilft ihm sein Wissen darüber, dass eine Mutter ihr Kind liebt etc., nicht weiter. Er stößt durch seine Beziehung zu Sanela an die Grenze des Denkens und wird ins Gefühl geworfen. Eigentlich wäre das eine sehr schöne Entwicklung, wenn Sanela nicht jemand wäre, die ihn dabei immer wieder umstößt.

LPB: In der Geschichte steckt dadurch viel Tragisches – vielleicht sogar zu viel. Tatsächlich gibt es aber solche Leben, in denen ein Mensch mit sehr vielen Schicksalsschlägen und realer Tragik konfrontiert ist. Sanela lebt so ein „extremes Leben“. War das eine Intention, in der Geschichte zu ergründen, was ein solches Leben aus einer Person und einer Familie macht?

LG: Mir war gar nicht wirklich bewusst, wie viel Sanela erlebt. Für mich entwickelt sich die Geschichte einfach so. Es ergibt sich aus der Entwicklung der Figuren.

Für mich war nur klar, als Sanela Nils Liebe kennenlernt, ist sie einsam. Das heißt, sie kann nicht bei ihren Eltern sein. Als dann feststand, dass die Eltern gestorben sind, musste ich Sanela irgendwie damit umgehen lassen. Als sie aber versucht, damit umzugehen, verzweifelt sie so sehr daran, dass sie  nicht einfach weiterleben und verliebt sein kann. So wuchs die Geschichte.

Ein anderes Beispiel ist der Tod von Clemens, der für sie gar nicht so schlimm ist. Ich fing an über Clemens zu schreiben und dachte, nein, er kann nicht für immer Teil ihres Lebens sein. Ich denke dann nicht, versetz ihr noch einen Schlag und wir schauen mal, was passiert, sondern es entsteht einfach. Es passt zu Sanela, dass es da einen total netten Typen gibt, der stirbt, bevor sie die Entscheidung treffen kann, dass sie mit so einem netten Typen nicht zusammen sein kann.

Gleiches gilt auch für ihre Krankheit. Alles entsteht aus dem heraus, was mich beschäftigt. Die Idee mit der Krankheit war zum Beispiel durch meine Beschäftigung mit Arbeit und Struktur, dem Tagebuch von Wolfgang Herrndorf, inspiriert. Das Buch habe ich dreimal gelesen.

Sanela entwickelt sich im Schreibprozess weiter und ich entwickle mich im Schreibprozess weiter und so kommt noch ein Schicksalsschlag hinzu. Das ist nichts, was ich plane, und es war auch nicht die Intention, ein besonders extremes Leben zu zeigen. Ich habe diese Entscheidung nicht getroffen, sondern der Figur ist einfach viel zugestoßen.

Die Idee, Sanela zu schildern, war da, und Sanela hat eben das Talent,  Unglück an sich zu ziehen – und dafür kann ich als Autorin nichts.

LPB: Stichwort „Autorin“: Auch das Schreiben selbst spielt in Null bis unendlich eine Rolle – es läuft immer mit. Sanela selbst schreibt Gedichte und auch Nils Liebe ist ein Schreibender. Er schreibt journalistische Texte. Hat das Schreiben eine Bedeutung für die Geschichte zwischen den beiden?

LG: Es spielt insofern eine Rolle, als beide stark über Worte und Sprache funktionieren. Es ging mir darum, zu zeigen, dass sie eine Art der Kommunikation haben, die sich – wie ihr Umgang mit Liebe und Familie – von der üblichen Art unterscheidet.

Beide wählen ihre Worte sehr genau. Sie können gut miteinander schweigen, was die meisten Menschen nicht können. Sie sagen sich nur das, was wichtig ist. Sie sagen sich nicht mal „Guten Morgen“, nicht weil sie nicht höflich sind, sondern weil sie es nicht nötig haben. Sie sprechen durchs Schweigen, und wenn sie etwas sagen, dann ist das gnadenlos ehrlich. Jeder Satz trifft, jeder Satz stimmt. Jeder Satz hat eine Bedeutung – und manchmal gehört auch das Schreiben dazu.

Ein wichtiger Moment ist für mich zum Beispiel ihr Wiedersehen auf der Podiumsdiskussion zu Susan Sontag, wo sie wie in der Schule Zettel austauschen und die Veranstaltung sehr genau analysieren: Sie haben sich zwanzig Jahre nicht gesehen, und alles, was sie zueinander sagen können, wird einerseits schriftlich festgehalten, und es dreht sich zudem thematisch gar nicht um sie. Den Rest des Abends schweigen sie. Dann sagt Sanela einen Satz, und dieser erste Satz handelt vom ihrem Kind. Allein diese drei Kommunikationsmomente sagen schon sehr viel über den Beziehungskomplex aus.

LPB: Gleichzeitig gibt es auch eine Art von Kommunikation, die sehr hart ist – wie Schläge, wie Verletzungen. Ist das etwas Besonderes  zwischen den beiden oder ist es auf eine allgemeine Funktion von Sprache zurückzuführen?

LG: Wenn jemand mit Worten umgehen kann, dann können so mehr Verletzungen oder sogar Vergewaltigungen entstehen als auf rein körperliche Weise. Das ist ein starker Satz, aber ich glaube, dass es tatsächlich so ist. In einer Beziehung kann man mit einem Satz weit mehr verletzen als mit einer Ohrfeige.

Worte sind Waffen. Deshalb glaube ich, dass wir in vielen unserer Beziehungen – seien es Partnerschaften, Freundschaften oder die Beziehungen zu unseren Eltern oder unseren Kindern – alle einen Weg des Ungesagten gehen. Ganz viele Beziehungen funktionieren auch deswegen, weil man durchatmet und nichts sagt.

Sanela und Nils Liebe entscheiden sich aber, den Weg der kompletten Ehrlichkeit zu gehen – und das ist ein Experiment. Es gibt keinen Moment, in dem sie nicht ehrlich zueinander sind. Ich wollte sehen, was aus so einem Experiment wird. Wäre Sanela fähig, ihren Gefühlen gegenüber genauso ehrlich zu sein wie gegenüber Nils Liebe, würde es vielleicht sogar gelingen. Aber sobald sie etwas fühlt, fängt sie an, um sich zu schlagen. Dann hat sie so viel Angst, etwas zu empfinden, dass sie zu sich selbst nicht ehrlich ist. Ich glaube schon, dass sie für Nils Liebe etwas empfindet, aber sie lässt es nicht gänzlich zu. Deswegen scheitert das Experiment.

Mehr über das Experiment und Sanela und Nils Liebe erfahren Sie im zweiten Teil des Gesprächs mit Lena Gorelik.

Verwandte Inhalte
Städteporträts
Städteporträts
Mehr