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05.08.2015, 15:19 Uhr
Lena Gorelik
Text & Debatte
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© Gerald von Foris

Ein Essay von Lena Gorelik über Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur (2)

 

"Man wird jawohl noch sagen dürfen ..."

von Lena Gorelik

 

Provokation oder Naivität?

Spricht man von deutschen Massenmedien und Antisemitismus, kommt man nicht umhin, die Süddeutsche Zeitung zu erwähnen, die nicht nur mit der Veröffentlichung des Grass-Gedichts für Aufsehen sorgte. Antisemitische Klischees tauchten auch an anderer Stelle auf und zwar in solch eindeutiger und klassischer Weise, dass man sich nicht sicher sein kann, ob man den Urheber für unverschämt provokant oder gnadenlos naiv halten darf.

Man gibt sich Mühe, den zweiten Weg zu gehen und der Naivität Glauben zu schenken, wenn zum Beispiel der Karikaturist Burkhard Mohr nach der Veröffentlichung erklärt, ihm sei gar nicht aufgefallen, dass er "eine antijüdische Hetzzeichung" fabriziert habe. Man gibt sich wirklich Mühe, diesen zweiten Weg zu gehen und der Naivität Glauben zu schenken, der Tatsache Glauben zu schenken, dass dem Karikaturisten einer der größten deutschen Tageszeitungen beim Zeichnen nicht aufgefallen ist, dass er dem (jüdischen) Facebook-Chef Marc Zuckerberg eine ausgeprägte Hakennase zeichnete, wie man sie zuletzt im Stürmer bewundern durfte. Dass die Krakenarme (ja, Marc Zuckerberg, der jüdische Unternehmer, der WhatsApp aufgekauft hat, ist als vielarmige Krake dargestellt), die sofort an Schläfenlocken orthodoxer Juden denken lassen, ein Zufallsprodukt sind, über die sich der Zeichner nicht nur keine Gedanken gemacht hat, sondern die ihm auch beim wiederholten Anschauen der Zeichnung – und davon ist doch auszugehen, dass ein Karikaturist einer der größten deutschen Tageszeitungen seine Zeichnung noch einmal anschaut, die letzten Handgriffe ausführt, bevor er sie für den Druck freigibt – nicht aufgefallen sind. Die fleischigen Lippen, das lockige Haar und das lüsterne Grinsen, das man aus klassischen antisemitischen Zeichnungen kennt, sind dem Zeichner ebenso unbemerkt geblieben. Immerhin fielen sie einem der anderen Redakteure ein paar Stunden später auf, man ließ die Druckmaschinen anhalten und die Zeichnung insofern verändern, dass statt des Gesichts ein leerer Bildschirm erschien. Zu spät war es allerdings für die Fernauflage an jenem Tag gewesen.

Man geht also den Weg, der Naivität Glauben schenken zu wollen, und stolpert spätestens über die Tatsache, dass die Karikatur von leitenden Redakteuren abgenommen worden sein muss, und kann nicht anders, als das Ganze als Spiel anzusehen. Es ist ein Spiel, das kleine Kinder gerne spielen: Wie weit kann ich gehen? Wo ist die Grenze? Und was passiert, wenn ich sie übertrete? Es ist ein Spiel, das die Süddeutsche Zeitung nicht zum ersten Mal spielt: Bereits einige Monate zuvor illustrierte die Zeitung Texte über die Entwicklung des Zionismus mit dem Bild eines gehörnten Monsters von Ernst Kahl, das in der einen Hand eine Gabel, in der anderen ein Messer hält, bereit aufzufressen. Was aufzufressen? Die Welt natürlich. Der dazugehörige Text handelte von allzu günstigen deutschen Waffenlieferungen an Israel. Nach darauf folgenden empörten Reaktionen wurde versichert, man werde "sehr darauf achten, dass sich ein solcher Fehler nicht wiederholt". Es dauerte dann immerhin fast acht Monate, bis der Marc Zuckerberg-Krake in derselben Zeitung erschien.

Man fragt sich, was schlimmer ist: der beabsichtigte oder der unbeabsichtigte Antisemitismus? Der, mit dem man gespielt hat, weil man überprüfen wollte, wo die Grenzen liegen, ob sie sich verschoben haben, in acht Monaten, in den vergangenen Jahren? Oder der, den man selbst nicht bemerkt, weil die Stereotype so sehr zum eigenen Weltverständnis gehören, dass man sie gar nicht mehr in Frage stellt?

Gemisch aus Wut, Angst und Stereotypen

Wenn es darum geht, vermeintliche Tabus zu brechen, endlich mal etwas sagen zu dürfen, was man angeblich nicht mehr sagen durfte, vermischen sich Themen, Argumente und auch Stereotype, bis alles dem einzigen "Man wird doch noch mal sagen dürfen"-Gefühl untergeordnet wird und Phänomene wie Antisemitismus, Homophobie und Islamhass, Frauenfeindlichkeit, Rassenkunde und Eugenik als salonfähig rekonstruiert werden.

Dieses Gemisch aus Wut, Angst und Stereotypen, in dem sie ungefiltert und teils ungeteilt voneinander landen, äußert sich zum Beispiel in Phänomenen wie jenen, die sich als neue "Montagsdemonstrationen" oder "Montags-Mahnwachen für den Frieden" bezeichnen: Jeder, der unzufrieden ist, seien es linke Altstalinisten oder rechte Reichsbürger, die die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen, seien es Verschwörungstheoretiker oder Neonazis, versammelt sich, um gegen alles und jeden zu demonstrieren, ein bisschen gegen das Kapital, ein bisschen gegen die USA, ein bisschen gegen die "jüdische Weltverschwörung", ein bisschen gegen die CIA, ein bisschen gegen alles. Angeheizt werden die "Montagsdemonstranten" von Ken Jebsen, ehemaliger Radiomoderator beim RBB, 2011 wegen des Vorwurfs der Holocaust-Verharmlosung in die Schlagzeilen geraten und vom RBB kurz darauf entlassen, der auf YouTube über 50000 Abonnenten hat. "Wir sind das Volk", "Für Frieden mit Russland" oder "Gegen die Todespolitik der Federal Reserve Bank" steht auf den Plakaten der Demonstranten, und was sie eint, ist nicht eine politische Idee, sondern eine diffuse Angst, eine Unzufriedenheit, möglicherweise auch ein Unverständnis der immer komplexer werdenden Weltpolitik.

Es sind genau diese Ängste, an die die vielen rechtsradikalen und populistischen Parteien bei den Europawahlen erfolgreich anknüpften. Diffuse Ängste aber, das hat die Geschichte schon häufig gezeigt, brauchen, um dem Ausgeliefertsein dieser zu entfliehen, einen Sündenbock, an dem sie sich entladen können. "Andere", Menschen, die anders aussehen, denken, leben oder beten, eignen sich am besten als ein solcher Sündenbock. Juden bekanntermaßen auch und vielleicht sogar besonders. Man schließt sich solchen Bewegungen nicht an, weil einen die (zumeist nicht vorhandenen) politischen Ziele interessieren, man schließt sich an, weil einen Entwicklungen und Vorgänge in der Gesellschaft ängstigen. Und man doch nur mal seine Meinung sagen möchte. Und wenn dann einer der Organisatoren der sogenannten Montagsdemonstrationen in einem Interview erklärt, an allen Kriegen der vergangenen Jahre sei ausschließlich die US-Notenbank Federal Reserve schuld, und den Satz nachschiebt, bei der FED handele es sich um eine Privatbank, was in rechtsradikalen Kreisen encodiert bedeutet, dass das jüdische Finanzkapital die Ursache allen Übels in der Welt ist, so darf diese Tatsache nicht überraschen.

Dieselbe Schlussfolgerung aus den diffusen Ängsten hatte sich teilweise auch durch die Occupy-Bewegung gezogen. Der Hass auf das Kapital stellt selbstverständlich auch die Frage nach der Herkunft ebendieses Kapitals. Und das Kapital liegt ja bekanntermaßen, wo denn auch sonst, bei den Juden. Weshalb man auf den Plakaten der Occupy-Demonstranten in New York Slogans wie die folgenden fand: "Google: Jewish Billionaires", "Humanity vs. the Rothschilds" oder "Its Yom Kippur – banks should atone". Und die Occupy-Bewegung in Deutschland wurde von Teilen der antiisraelischen und antiamerikanischen Infokrieger- und Truther-Szene mitbestimmt.

Im Internet, auf Schulhöfen, in Fanbussen

Am 29. Mai 2010 gewann Lena Meyer-Landrut den Eurovision Song Contest in Oslo. Sobald bekannt wurde, dass aus Israel keine Punkte für die deutsche Sängerin abgefallen waren (im Übrigen hatte der israelische Beitrag von deutscher Seite auch keine Punkte erhalten), tauchten bei Twitter, in Blogs und Internetforen böse und eindeutig antisemitische Kommentare auf, die nahelegten, dass "die Juden" endlich mal über den Holocaust hinwegkommen sollten. Das Internet, insbesondere soziale Netzwerke wie Facebook, trägt immer mehr zur Verbreitung von antisemitischen Ressentiments und offenen Bekenntnissen wie zum Beispiel "Nur ein toter Jude ist ein guter Jude" bei.

Dass sich "Schimpfwörter" wie "Du Jude!", das auf derselben Stufe wie "Du Opfer!" steht, immer stärker auf Schulhöfen etablieren, ist nicht zuletzt auch dem Umgang so mancher Idole der betreffenden Jugendlichen mit dem Thema Judentum zu verdanken. An erster Stelle zu nennen ist da der immer wieder in die Schlagzeilen wiederkehrende Rapper Bushido, der unter anderem als Profilbild bei Twitter eine stilisierte Landkarte gewählt hatte, die das Staatsgebiet Israels in den palästinensischen Farben mit dem Schriftzug "Free Palestine", somit den Nahen Osten ohne Israel zeigte.

Zu erwähnen sei hier, dass Bushido, der als Vorbild vor allem auch für muslimische Jugendliche gilt, 2011 noch mit einem Bambi für "gelungene Integration" ausgezeichnet wurde. Dass Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sogleich dazu Stellung bezog und Bushido vorwarf, Hass zu säen, und dass Bushidos einzige Antwort auf die entfachte Empörungswelle der Tweet "Bambi zu verkaufen" war, dürfte zu seiner Popularität und seinem Coolness-Grad auf Schulhöfen durchaus beigetragen haben.

In den vergangenen Jahren hat eine umfassende Verbreitung vom RechtsRock außerhalb der rechtsextremen Szene, insbesondere auf Schulhöfen, zu einer Bekanntmachung bestimmter Stereotype, Codes, Zeichensprachen und Chiffren beigetragen, die zuvor nur im einschlägigen Milieu bekannt waren. Jugendliche neigen dazu, diese zu übernehmen, ohne sie infrage zu stellen und auch ohne sich selbst einer rechtsextremen Orientierung zuzuordnen. Antisemitische Inhalte tauchen aber auch bei Musikgruppen auf, die nicht per se dem rechten Milieu zugerechnet werden können. Als Beispiel hierfür sei die Dark-Metal-Band Inquisition zu nennen, unter deren Musikstücken sich beispielsweise auch das Lied Crush the Jewish Prophet findet.

Antisemitische Vorstellungen finden selbstverständlich auch durch Bücher den Weg in die Köpfe von Jugendlichen und Schülern, die die Argumentationen und Denkstrukturen des Gelesenen häufig einfach übernehmen. So beispielsweise aus dem Jugendroman Palästina – Träume zwischen den Fronten der Italienerin Randy Ghazy, der den Nahost-Konflikt einseitig aus palästinensischer Sicht darstellt und darin mit antisemitischen Stereotypen wie der Ritualmordlegende und der Vorstellung von der jüdischen Rachsucht spielt. Nun hat eine Schriftstellerin selbstverständlich das Recht, jeden Konflikt dieser Welt einseitig darzustellen; vorsichtig sein sollten hingegen die zahlreichen Bildungsportale, die diesen Roman für Jugendliche ab 12 Jahren, die sich für den Nahost-Konflikt interessieren, als Lektüre empfehlen.

Auch in Teilen der Fußballkultur scheinen Antisemitismus und Rassismus zum Alltag zu gehören und von Fans kaum infrage gestellt zu werden. Sätze wie "Juden gehören in die Gaskammer", "Auschwitz ist wieder da" und "Synagogen müssen brennen" sind bei Wettkämpfen in der Regionalliga zu hören; der Journalist Florian Schubert beschreibt, wie er bei einer Fahrt zu einem Auswärtsspiel der deutschen Nationalmannschaft bereits im Bus die Frage gehört habe: "Wer hebt die Hand zum Deutschen Gruß?", und dass "Schimpfwörter" wie "Kanake" und "Neger" zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörten.

Fazit

Theodor W. Adorno sagte einst, der Antisemitismus sei eine Wahnidee, ein "Gerücht über die Juden". Antisemitismus ist ein Gefühl und ein Problem, das sich niemals erledigt haben wird, weil er zum europäischen Kulturerbe gehört. Weil es ein Gefühl ist, das aufsteigen und sich beruhigen kann, wie Gefühle das eben an sich haben. Weil das Gefühl nur in Ausnahmefällen mit tatsächlichen Ereignissen oder real gekannten Menschen zu tun hat, sondern vielmehr mit dem, was Ereignisse und Menschen in einem auslösen. Antisemiten müssen und werden in einer liberalen Gesellschaft, in einer meinungsfreien Demokratie geduldet werden müssen, wie Homophobe und Chauvinisten auch.

Auf der anderen Seite wird man ihnen begegnen müssen. Man kann ihnen mit Gegenargumenten begegnen, man kann ihnen begegnen, indem man sie und antisemitische Sprechcodes und Tendenzen entlarvt. Man kann ihnen begegnen, indem man sie bloßstellt. Und den Spieß umdreht. Wie zum Beispiel der jüdische Komiker Oliver Polak, der unter dem Credo "Ich darf das, ich bin Jude" durch Deutschland tourt und Hallen füllt mit Sprüchen wie "Sie schauen so verwundert, hier, da links. Sie fragen sich vermutlich: Ist ja komisch. Juden dürfen wieder auftreten? In Deutschland? Wusste ich noch gar nicht. Da haben Sie sich gedacht: Gehe ich mal schnell hin und schaue mir einen an. Bevor es zu spät ist!"

 

 Zum ersten Teil des Essays

(Zuerst erschienen bei der Bundeszentrale für politische Bildung.)