Observationsverhör mit Roman Ehrlich (4)

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Filmstill aus "7. Literarischer Salon auf Schloss Edelstetten - Roman Ehrlich" (c) Literaturschloss Edelstetten

Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.

Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.

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 „Ich bin ja doch wieder nur ich und mach dann doch wieder nur das, was ich halt mache“

Gespräch mit Observationsgruppe (III) am 5. Mai 2021

 

Wir haben uns natürlich auch die letzten beiden Interviews angeschaut und es wurde schon ziemlich viel über die Texte selbst gesprochen, viel über Inspiration, viel über Vorbilder. Ein Themenfeld, das aber noch gar nicht so wirklich angesprochen wurde, war die Resonanz auf Deine Texte. Und dem würde ich mich jetzt gerne beim ersten Fragenblock widmen. Du hast letzten Freitag im Seminar auch eine Aussage gemacht, die mir ziemlich stark in Erinnerung geblieben ist: „Die Geschichte, die wirklich endet, muss erst noch erzählt werden.“ Zuweilen ist aber gerade das auch etwas, was in den Rezensionen an Deinen Romanen kritisiert wird: dass sich die einzelnen Puzzleteile am Ende nicht zu einem Ganzen fügen, dass es oftmals keinen wirklichen Abschluss gibt. Was machen solche Kritiken mit Dir, bzw. beschäftigst Du Dich überhaupt mit Kritiken und Rezensionen?

Ja, ich lese die schon. Wenn ein Buch erscheint, ist es ja oft so, dass das erstmal unmittelbar die erste Öffentlichkeit ist, die man abgreifen kann, sozusagen. Also wo man Resonanz erfährt, wo man dann lesen kann, was andere denken, die das Buch gelesen haben. Bei den Veranstaltungen, bei Lesungen und Gesprächen, da gibt es das auch zu einem gewissen Grad, aber da ist es schon auch häufig wieder ein Senden oder zumindest ist man dann irgendwie in einem anderen Stadium der Nervosität, denn man sitzt dann auf einer Bühne und liest, spricht, ist auch in der Pflicht, Gedanken zu verfertigen und auf Fragen zu reagieren – so wie jetzt gerade ja auch – und hat dann gar nicht die innere Ruhe, das auch wirklich rein [schmunzelt] freudig aufzunehmen, was sich da jemand anderes dazu gedacht hat, zu der eigenen Arbeit. Der Vorteil bei solchen Live-Sachen, bei Auftritten, ist natürlich, dass im Regelfall die Aussagen, die über das Buch getroffen werden, positiv sind. Denn selten kommt es vor, dass man mit jemandem eine Veranstaltung hat und diejenigen dann erstmal ganz kritisch einsteigen und sagen: „Ja, das habe ich nicht verstanden, das fand ich blöd, das Buch ist irgendwie Quatsch, das vorher war besser“. Das würden die dann doch eher in ihre Rezensionen schreiben und das finde ich schon auch sehr interessant, also mich dann zuhause hinzusetzen und das zu lesen, zu schauen, was haben die rausgeholt, was haben sie selber mit dazugegeben, was von der Anlage in dem Buch hat sich tatsächlich so transportiert, dass es besprochen werden konnte. Und das ist natürlich auch ganz oft frustrierend, wenn ich mir denke: „Ja okay, der oder die hat jetzt wieder nur das gelesen, was sie gerade selber irgendwie interessant fanden oder besprechen wollten; oder hat sich jetzt da irgendwie dieses Buch genommen, was dann ein Repräsentant für etwas war, was die immer schon genervt hat“, so eine Art von Gegenwartsliteratur, in der nicht mehr so groß erzählt wird wie früher. Oder wo es dann auch darum geht um die Komposition, um das Ende. Wobei ich das einfach akzeptieren muss, wie die Leute, die meine Bücher lesen, das akzeptieren müssen, dass es da so zugeht. Also, ich bin davon dann auch nicht umzustimmen, wenn ich dann eine Rezension lese, denke ich mir nicht: „Ah okay, das nächste Mal gibt es dann noch irgendwie einen Twist und dann... heiraten die Gärtner“. Für mich geht das einfach nicht, das darf nicht sein. Ich fühle mich, wenn ich Bücher lese, in denen das so ist, auch verhöhnt. Ich empfinde das dann als Beleidigung meiner eigenen Intelligenz. Wenn mir jemand irgendwie weismachen will, dass alles, was mir jetzt gerade erzählt wurde – dass man da ganz einfach ein Schleifchen drum machen kann und dann ist es fertig, dann ist irgendwie auch alles gut. Genauso, wie ich auch schon immer dachte, früher, als ich noch sehr viele amerikanische Actionfilme geschaut habe als Kind und als kleiner Junge: „Bei all dem, was denen gerade widerfahren ist, müssen die doch irrsinnig traumatisiert sein“, aber am Ende reicht es dann, irgendwie, dass quasi die Kleinfamilie zusammengeführt wird und der Rest passt schon. Also die müssen dann gar nicht Jahrzehnte lang in Therapie gehen, weil sie nicht mehr schlafen können nach all dem, was sie gesehen haben. Sondern das wird dann einfach suggeriert, dass das okay ist. Diese Illusion, die würde ich ungern selber aufbauen.

 

Wenn wir dann auch auf die Live-Veranstaltungen oder die Lesungen, die Du angesprochen hast, schauen – gab es da mal eine Reaktion oder vielleicht auch bei den Rezensionen einen Text oder einen Satz, der Dir ganz besonders in Erinnerung geblieben ist? Positiv wie negativ?

[Pause] Nee, also es ist nichts dabei, was ich jetzt spontan zitieren könnte. Es gibt so ein paar Sachen, die einen dann eben länger beschäftigen. Also zum Beispiel, wenn irgendwie Sätze fallen wie – ich glaube, einmal hieß es, die Sätze sind Stör..., ich krieg es jetzt gar nicht genau hin, Störfaktoren? Dann denkt man darüber nach: Okay, ist das jetzt so eine Formulierung, die das tatsächlich total gut trifft, was man selber intendiert hat, ohne es vielleicht bewusst zu... wissen? Oder was man wollte, ohne es selber ausformulieren zu können und dann sagt einem hinterher jemand, was man da gemacht hat, sozusagen. Das wäre ungemein spannend. Es gibt ja auch so eine Art Besprechungsprosa in der Literaturkritik, wo dann versucht wird, möglichst Sätze zu finden, die auch dann hinten auf Bücher draufgedruckt werden können, die dann auch die Individualität oder die Texterfassungsidiosynkrasien der Besprechenden abbilden sollen. Aber eben manchmal kommt es vor, dass solche Worte und Sätze aus diesen Besprechungen dann – bei Herta Müller heißt es mal – „Irrläufer im Kopf“ werden. Also weil man die dann vielleicht noch nicht so ganz versteht oder eben, wie gesagt, das Gefühl hat, die beschreiben etwas, was man vorher vielleicht nur empfunden oder so halb bewusst intendiert hat.

 

Wenn wir dann noch eine Stufe weiter gehen: Hast Du manchmal auch das Gefühl, dass Du Dich in einen Vergleich setzst zu anderen Autorinnen und Autoren? Bei dem Du schaust: „Okay, kommt das da vielleicht besser an, wo gibt es da Ähnlichkeiten zu meinen Werken und warum ist dann die Reaktion eine andere?” Oder findet so ein Vergleich im Nachhinein dann eigentlich nicht in der Tiefe statt?

Naja, das berührt jetzt natürlich schon auch die Bereiche der Eitelkeit, also wo... man sich dann auch selbst [räuspert sich] dabei ertappt, dass man sich dann fragt: „Ah, warum wird das gerade jetzt irgendwie so hoch gelobt, warum ist das jetzt so erfolgreich, ist es denn wirklich gut?“ und dann reinblättert und dann eigentlich schon einen bösen Blick hat und sich denkt: „Ich möchte jetzt hier eigentlich nur finden, was mich befriedigt in meiner Suche, das dann auch... wegwischen zu können“. Das ist natürlich eine sehr traurige Geisteshaltung und da muss man auch aufpassen, dass man sie erkennt, wenn sie auftritt, und dann möglichst umschifft. Aber es ist natürlich schon auch so ein eitler Jahrmarkt irgendwie, diese Literaturwelt. Oder dieser Literaturbetrieb, müsste man da sagen. Also es gibt ja auch unter den Schreibenden immer wieder diese Abgrenzung, dass man sagt, das eine ist die Literatur, das sind die Bücher, oder vielleicht auch irgendwie die Vermittlung der Literatur, Veranstaltungen; und das andere ist dann dieser Betrieb, in den ganz viele Leute eben ihre eigenen Eitelkeiten und ihr eigenes Geltungsbedürfnis hineintragen. Der ja auch so funktioniert, dass Kulte um gewisse Personen gebaut werden. Also seien es Autor*innen, Verlegerpersönlichkeiten oder was auch immer... Agenten, die dann sagen: „Schon wieder ein Spitzentitel an den Mann gebracht“ oder „Schon wieder hier einen Preis bekommen“, wenn sie dann auftreten mit einem Selbstbewusstsein... [Pause] Also das ist irgendwie eine Arena: Manchmal ist es lustig und manchmal ist das auch beängstigend. Und klar, niemand ist gefeit davor oder immun dagegen sich anzuschauen, was die anderen machen, und sich zu fragen, inwiefern der eigene Erfolg oder der Erfolg der anderen tatsächlich mit den Texten zu tun hat. In einer idealen Welt wäre das natürlich vollkommen unerheblich.

 

Ich würde gerne noch auf Malé zu sprechen kommen. Man hat das Buch teilweise auch dem „Genre“ der Climate Fiction zugeordnet. Was hältst Du von dieser Zuordnung?

Also das kam jetzt natürlich schon in verschiedenen Gesprächen ein paarmal auf, seit das Buch veröffentlicht ist. Auch interessanterweise dann die Frage, was ich davon halte. [Pause] Wobei ich mich dann erstmal auch selbst gefragt habe, ob ich da überhaupt eine Haltung dazu habe, denn das ist natürlich eine nachträgliche Einordnung. Ja, das liegt nahe. Also ich hab dieses Buch geschrieben und irgendwie auch dahin verortet, wo es verortet ist... in eine Zeit und quasi ein Szenario darum geschaffen, das ja eindeutig Bezug nimmt auf diesen Diskurs und auf dieses Problem und auf diese Katastrophe, die sich ja bereits ereignet. Und deswegen ist es höchstens fraglich, was diese Climate Fiction dann überhaupt genau sein soll. Also ob das bedeutet, man extrapoliert einen Zustand in die Zukunft und sagt: „So wird es aussehen, wenn jetzt wirklich zwei Grad und so weiter.“ [Pause] Oder ob das längst eigentlich gar nicht mehr so fiktiv ist, was da beschrieben ist. Und dass der Roman so eingeordnet wird, von mir aus. Das bedeutet ja nur, dass es ein verstärktes Bewusstsein gibt für diese Fragen, für diese Probleme und dass es auch immer mehr Literatur gibt, die sich damit befasst. Aber natürlich ist meine Hoffnung, dass es mehr ist als das und dass das Buch mehr ist als eine Climate Fiction. Es geht ja auch um mehr als um dieses Klimaphänomen in dem Buch. Also dafür bin ich auch zu wenig vom Fach und dahingehend zu wenig speziell gebildet. Also eigentlich geht es in dem Buch darum, worüber es, wie ich finde, in der Literatur immer gehen sollte. Die Frage, was diese Leute wollen, die darin vorkommen, und warum. Und ob sie glücklich mit ihrem Leben sind. Oder: Gibt es ein Paradiespotenzial in der Welt, das nur unverwirklicht ist und also noch verwirklicht werden kann, oder ist das bereits verspielt? Für mich sind diese Fragen ein bisschen größer als so eine Kategorisierung. Aber ich hab keine Schmerzen, wenn das dort eingeordnet wird [grinst].

 

Wir haben ja gerade schon von Enden gesprochen und Du meintest ja auch in einer unserer Sitzungen, Du „hasst Enden, wie sonst nichts“. Woran es liegt, hast Du auch schon angeschnitten. Aber wir fragen uns, ob ein Roman mit geschlossener Erzählung für Dich gar nicht in Frage kommen würde?

[Pause] Ich glaube nicht. Ich hätte sofort das Bedürfnis, das zu brechen. Ich weiß nicht, ob das im letzten Gespräch war oder im Seminar: Aber ich glaube im Seminar, als es dann kurz um Ironie ging. Ich glaube das wäre ein Anlass dafür, sich dann da auch in diesen Bereich hinzubegeben. Wenn ich merken würde, ich habe jetzt selber angefangen eine solche Erzählung zu machen, die einen Bogen hat. So einen Plot-Point und so ein Ende, dann würde ich auf jeden Fall noch versuchen, das zum Schluss noch irgendwie zu unterlaufen. Zur Hinterfragung oder so. Aber mir würde das schon alleine sprachpraktisch überhaupt nicht einleuchten. Ich glaube, ich würde einfach schon komplett erschlaffen, wenn ich einen Text schreiben müsste, von dem ich wüsste, das ist wie bei einem Ladebalken bei einem Prozess am Computer, und ich bin dann bei zwanzig Prozent und hier ist hundert Prozent und da muss ich quasi nur noch darauf hinarbeiten wie mein eigenen Sekretär. Ich glaube, dann würde ich es eher seinlassen.

 

Ich glaube, das macht Deine Bücher aber auch so spannend. Da scheiden sich natürlich auch die Meinungen, aber viele sind da bestimmt auch ein Fan davon. Du hast uns ja erzählt, dass Deine Bücher für Dich aufeinander aufbauen und beim genauen Lesen Deiner Bücher fällt ja auch eine gewisse Intertextualität auf. Zum Beispiel in Malé taucht im Büro des Professors ein Gemälde auf, was uns in Das kalte Jahr bereits begegnet ist. Könntest Du Dir vorstellen, mal einen ganz anderen Roman zu schreiben? Einen, der womöglich in eine ganz andere Richtung geht oder so gar nicht auf eines der bisherigen Werke aufbaut?

Ja, ich dachte, als ich angefangen habe Malé zu schreiben, dass das dieses Buch ist. Dieses „andere“ Buch. Und dann ist mir währenddessen aufgefallen: Ich bin ja doch wieder nur ich und mach dann doch wieder nur das, was ich halt mache. Und dann dachte ich mir auch, wie gehabt darf ich mir auch diesen Spaß wieder erlauben, die anderen Bücher in crossreferences mit reinzubringen. Das macht mir einfach Freude und das ist, glaube ich, auch einfach etwas, wo ich mir dann vorstelle, dass es gründliche Leser und Leserinnen gibt, die sich dann wirklich so reinfuchsen, dass sie das bemerken. Und das ist mir dann schon allein in der Vorstellung, bevor das überhaupt passiert und bevor diese Bücher veröffentlicht sind, ganz angenehm. [lacht] Obwohl ich dann ja gar nicht dabei bin. Jetzt erfahre ich davon und das freut mich natürlich, aber das reicht mir dann in diesem Moment eigentlich schon als Vorstellung. Es gibt dazu auch einen Dokumentarfilm. Ich hoffe, dass ich jetzt nicht zu weit abschweife. Aber es gibt diesen Film über Menschen, die Filme von Stanley Kubrick, vor allem Shining, angesehen haben und sich da ihre eigenen Theorien gebildet haben, was dieser Film eigentlich sagt oder eigentlich bedeutet. Ich glaube Room 237 heißt dieser Film. Und er besteht auf der visuellen Ebene eigentlich nur aus Ausschnitten aus den Filmen. Und auf der Tonspur hört man dann verschiedenste Cineasten, die erzählen: „Der Film handelt von der Mondlandung, die von Kubrick gefaked wurde, und der durfte das nie öffentlich machen und musste deswegen einen Film machen, der das verarbeitet, dass er daran beteiligt war. Und das sieht man hieran und hieran.” Und irgendwie hat mir das, obwohl das natürlich alles so obskur ist, so gefallen, die Tatsache, dass der Film oder diese Filme genug Offenheit in die Tiefe hinein besitzen, dass sich Leute darin und in ihre eigenen Theorien versteigen können. Und dass sie das als Gebäude benutzen können, in dem sie dann rumstromern und alle möglichen Sachen zusammentragen und sagen können: „Oh, ja diese Tapete und dieser Fußboden... ja eindeutig, das sagt ja das aus.“ Und das habe ich mir eigentlich schon immer gewünscht, dass auch die eigenen Werke irgendwann so ein Potenzial entfalten. Also sie müssen jetzt nicht wie Kubrick-Filme sein, aber dass es zumindest die Option gibt, sich darin ordentlich zu versteigen. Das ist mir ein Anliegen. Und ich glaube, dass das eben auch häufig funktioniert über diese Verweise zwischen den Büchern. Dass es aber mal ein Buch gibt, das komplett anders ist und anders funktioniert, ist auch nicht ausgeschlossen.

Also nachdem Malé erschienen ist, hatte ich schon kurz das Gefühl: Vielleicht ist jetzt nochmal eine Runde gemacht und jetzt steht die Frage im Raum: Gibt's jetzt einfach die nächste Runde, geht's jetzt genauso weiter oder gibt es jetzt eine andere Dimension in dieser Bewegung. Das – ja – das stellt sich raus. Wahrscheinlich werde ich in einem Jahr meinen vertrauten Lesern etwas geben und die sagen dann: „Das ist ja schon wieder das Gleiche.“ [lacht]

 

Nein, aber es ist auch immer wieder eine Freude, in einem Buch etwas zu entdecken, wobei man sich denkt: „Ah, das habe ich schon mal irgendwo gelesen“, und wie Du sagst, das regt ja auch ganz neue Gedankengänge an.

Ja, ich glaube eben auch, dass diese Irritationen auch sehr produktiv sein können. Und dann geht es mir eben auch selber so, wenn ich etwas lese und merke, dass ich beginne mir selbst zu misstrauen, dass ich nicht mehr weiß, erinnere ich mich jetzt wirklich dran, oder ist das so eine Art Literatur – so ein Rezeptions-Deja-Vu-Effekt, wobei mein Gehirn vielleicht nur kurz vorher den Satz schon gescannt hatte, bevor ich ihn gelesen habe. Und dann denke ich „Hä, nein, war das da?“ oder „Wo war das da?“, „In welchem Zusammenhang war das da?“ oder „Ist das ein anderes Buch?“ und „Welches Buch?“, „Verdammt, es sind so viele!“ usw. Und dann schwärmt man ja so aus, gedanklich, und das ist, glaube ich, ein sehr guter Effekt.

 

In Deinem Roman tauchen ja auch immer wieder zahlreiche und verschiedene Medien auf und spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Da haben wir uns gefragt, ob Du schon mal darüber nachgedacht hast, Deine Texte in andere Medienformen zu übertragen oder übertragen zu lassen? Z.B. Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens als Metafilm. Oder denkst Du, das würde nicht funktionieren?

Das ist irgendwie so ein andauerndes Thema. Also, es gab eigentlich für jedes Buch bislang – außer den „Quasi-Sachbüchern“ mit den Fotografen – Gespräche mit Leuten, die das in einen Film übersetzen wollten. Also bei Das kalte Jahr gab es eine Filmemacherin, die wollte sich mit mir treffen, hat gesagt: „Ja, ich seh' das so und so, das und das, das Ende machen wir ganz anders, aber sonst – ich habe alles schon vor Augen, musst nur noch ja sagen.“ Und ich: „Ja, mal sehen.“ Und dann gab es irgendwie niemanden, der das produzieren wollte, und dann ist nie etwas daraus geworden. Und bei den Urwaldgästen gab es auch jemanden, der eine einzelne Erzählung verfilmen wollte. Und dann, bei den Fürchterlichen Tagen gibt es tatsächlich immer noch eine Produktionsfirma, die die Option gekauft hat und die sich darum bemüht, das zu einem Kinofilm zu machen. Da habe ich auch schon den Regisseur getroffen und – also auch da ist man noch auf der Suche nach dem Geld. Von daher kann man da auch noch nichts vermelden. Es könnte sein, dass das noch etwas wird. Aber ich bin bei diesen ganzen Filmsachen dazu übergegangen, erst daran zu glauben, wenn ich zur Premiere eingeladen werde. Denn man wird dann ja auch ein bisschen excited und denkt so „ah ja, okay, cool, das wird jetzt etwas anderes. Jemand versucht es jetzt tatsächlich.“ Von den Fürchterlichen Tagen gibt es auch ein Theaterstück, das in Nürnberg lief. Ich glaube, dass beim Lesen der Bücher ein Effekt eintreten könnte, der ein bisschen irreführend ist. Nämlich, dass man es liest und sich denkt „das ist ja sehr filmisch.“ Und dann denkt, man könne es ja zu einem Film machen. Und dann aber wahrscheinlich in diesem Prozess der Überarbeitung merkt, wenn Literatur filmisch ist, dann ist das eher hinderlich dafür, daraus einen Film zu machen. Denn das ist ja dann quasi schon filmisch. Man muss dann ja extrem viel auf der visuellen Ebene arbeiten, weil in den Büchern viel über Bildbeschreibungen erzählt wird. Und ich glaube, dass das für Leute, die sich tatsächlich daran machen werden, die Drehbücher zu schreiben, dann eine unangenehme Erkenntnis ist. Solche filmischen Texte sind zwar keine Drehanleitung, nehmen das aber schon vorweg, diese visuelle Aufbereitung; viel mehr als ein Text, der ganz stark über Dialoge, Stimmungsbeschreibungen oder innere Monologe funktioniert, wobei man sich als Filmmensch den Rest dazu denken darf. Das stelle ich mir sehr schwer vor.

 

Es wäre also nicht ausgeschlossen, Deine Geschichten mal auf der Kinoleinwand sehen zu können?

Überhaupt nicht! Nein, ich fände das total spannend. Also ich bin natürlich verschieden von all den Figuren in den Büchern, aber ich glaube ich bin auch narzisstisch genug, um mit dem Moritz aus den Fürchterlichen Tagen so identisch zu sein, dass ich das total gerne mal auf der Leinwand sehen würde – ich wäre auch bereit für jeden Quatsch. Ich würde auch Cameo-Auftritte in Kauf nehmen. Was heißt in Kauf nehmen – sofort antreten!

 

Du hast ja am deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert. Erlernt oder studiert man eigentlich kreatives Schreiben oder Schriftstellerei? Gerade in einem Deutschland, das noch so stark diesem alten Geniegedanken verhaftet ist?

Also ich glaube, dass dieses Institut… [Pause] Da gibt es fast so viele Projektionen, was das ist oder sein kann, wie es das auf die Schriftstellerei oder das Schreiben gibt. Ich glaube, wenn man da studiert, merkt man recht bald, dass es irgendeinen institutionellen Rahmen braucht, um das zu machen, was ja tatsächlich eigentlich nicht lehrbar ist bzw. im Privaten alleine stattfindet. Und mir schien es immer so, als ich dort studiert habe, dass der Ansatz war zu versuchen, eine Situation zu schaffen, in der die Leute, die da studieren, sich selbst sehr gründlich die Frage stellen können, ob sie das denn wirklich machen wollen. Und ob sie sich denn tatsächlich vorstellen können, diesen Weg zu beschreiten und sich so sehr auf dieses Schreiben zu konzentrieren, dass sie es professionalisieren, und was das bedeuten würde. Also was würde es bedeuten, dass man das tatsächlich beruflich macht. Oder, dass man es professionell macht. Oder, dass man nicht nur für sich selbst, für die Schublade, für die Freunde, für den Poetry Slam alle zwei Monate Texte produziert. Und, dass das auch sehr ernüchternd, sehr desillusionierend sein kann – also da ist auch sehr wenig Magisches daran. Und zusätzlich gibt es auch den Effekt, dass man mit ganz vielen Leuten zusammen ist, die schreiben, die sich ihre Fragen stellen das Schreiben betreffend, die darüber sprechen wollen, die über ihre Texte sprechen wollen. Man liest ganz viele Texte und spricht über Texte und das hat natürlich schon etwas Literarisches. [Pause] Aber was dann nicht passiert, zumindest nicht in der Zeit, in der ich dort war, ist, dass einem das Schreiben beigebracht wird. Sondern es ist tatsächlich eher so, dass unterschwellig jemand mitläuft. Wer ausreichend Talent mitbringt, kann hier in einem „Safe Space“ ausprobieren, wie das wäre, zu veröffentlichen. Dass man ausprobieren kann, wie das mit dem Schreiben und der Öffentlichkeit wäre. Und dann aber ungesagt mitläuft und suggeriert wird: Wer ausreichend Talent mitbringt, wird diesen Schritt ohnehin machen. Also der wird auch einen Verlag oder jemanden finden, der sich als Agent betätigt. Aber ich glaube, das überhaupt als Ziel ausgeben zu wollen, das erkennen viele auch erst während dieses Studiums. Dass sie sich vorher dachten: „Okay, man sagt mir oft, ich kann ganz gut schreiben“ oder „Ich hab früher immer Gedichte geschrieben; ich probiere mal, mich da zu bewerben für das Studium“ und dann erkennen, dass es schon so eine ausgebaute Infrastruktur gibt – vor allem in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum – die so eine Art konzentrisches Kreissystem ist, wo es immer wieder Torwächter gibt. Also man bewirbt sich dann mit Texten am Literaturinstitut, dann wird man dort angenommen, dann bewirbt man sich mit Texten beim Literaturkurs in Klagenfurt. Dann wird man da genommen werden, oder beim Open Mike oder ähnlichem. Und immer gibt es Leute, die diesen Instanzen, diesen Institutionen vorstehen und die dann wieder ein Zeugnis ausstellen. „Aus so und so vielen hundert Bewerbern ausgewählt” und dann geht man damit zur nächsten Tür und dann sagt der nächste Mensch: „Naja, gut, finden wir auch, weiter.” Und im Kern ist gewissermaßen eine Publikation bei einem Verlag, auf die hingearbeitet wird. Und so gibt es wirklich ein institutionelles Konstrukt, was sich da über Jahre etabliert hat, in dem in unterschiedlichen Bereichen dieser Kreise manche Leute ihre Runden drehen. Und dann nicht immer in den nächsten Bereich vorrücken und sich natürlich auch immer mehr Frust aufbaut. Und ich glaube, dass das Literaturinstitut davon eine Art Nachbau ist. Da sind diese Prozesse zu beobachten oder zu lernen, ohne das sie explizit in Seminaren behandelt werden. Das ist immer so ein bisschen schwierig, das zu beschreiben. Einfacher wäre zu sagen: „Ja, ich habe da gelernt, weniger Adjektive zu benutzen oder ich habe da gelernt, dass man nicht ein Buch anfangen darf mit... weiß nicht was, Formsatz...“, aber solche Dinge sind da tatsächlich erstaunlich unterrepräsentiert. Und das wäre ja auch Quatsch, da es so viele unterschiedliche Schreibweisen gibt, wie Leute, die dort studieren.

 

Du würdest also sagen, dass man mit dem Talent reingeht und sich dann sozusagen die Prozesse aneignet, wie die ganze Welt funktioniert in der Schriftstellerei, wie man dort von A nach B kommt oder sich hocharbeiten kann?

Ja, dass das dann viel stärker bewusst wird. Das diese Bewusstwerdung da forciert. Mir selbst und ich glaube auch vielen anderen ging es so, dass sie mit einer relativen Naivität dort reingekommen sind. Und dann gibt es mal eine Veranstaltung, bei der ein Lektor von Verlag X kommt und von seiner Arbeit erzählt, so wie Sophie Priester [Roman Ehrlichs momentane Lektorin zum Zeitpunkt des Interviews] am Freitag ins Seminar kommen wird. Die Suggestion ist dann natürlich: Erkenne, wie der Laden läuft, und dann kriegst du vielleicht deinen Text unter. Und darüber haben sich, glaube ich, die meisten vorher gar nicht so viele Gedanken gemacht. Oder sie sind schon abgeklärt genug, dass sie sich denken: „Wenn ich da bin, dann krieg ich die Adresse von dem und dann läuft das irgendwann schon.” Aber es gibt natürlich an den Literaturinstituten in Leipzig, Hildesheim, Biel oder Wien viel mehr Absolvent*innen, als die Verlage überhaupt für zeitgenössische Literatur in ihr Programm aufnehmen könnten. Deswegen wird man da auch schon früh darin instruiert, dass es diese verschiedenen Ebenen der Schleusenwärter gibt.

 

Wir haben jetzt noch eine abschließende Frage, und zwar würden wir gern wissen, ob Du Dir wünschst, dass Dein Aufenthalt in Irsee ein von Corona befreiter wäre, oder findest Du es eigentlich gerade ganz spannend, diese Dorfgemeinschaft unter den aktuellen speziellen Bedingungen zu erleben?

Definitiv ersteres. Vollkommen fraglos. Das wäre so viel toller... Es ist jetzt nicht so, dass es wahnsinnig viele öffentliche Einrichtungen gibt, aber es gäbe hier unten, wo ich wohne, einen Bäcker, in dem die alten Künstler, die sich hier angesiedelt haben, einen Stammtisch machen. Der findet nicht statt natürlich. Dann gibt es ein Gasthaus, wo man sich hinsetzen und Bier trinken könnte und dann vielleicht auch auf diese Weise sehr viel natürlicher und ungezwungener mit Leuten in Kontakt kommen könnte. Diese ganze Distanznahme bewirkt natürlich, dass jemand wie ich, der neu in so einen kleinen Kosmos kommt, ausschließlich Kontakte hat, die vorher verabredet werden. Und dann macht man eine Verabredung mit jemandem, den man nicht kennt, trifft sich mit ihm oder ihr, um auch ein bisschen darüber zu sprechen, wer die Personen überhaupt sind. Diejenigen treffen mich aber bereits als „den Schriftsteller”. Erstens gibt es also schon das Klischee, gegen das man antreten muss, und zweitens gibt es einen komischen Auftrag, der sowieso von Grund auf dubios ist: Wer schreibt, wer einen Block dabei hat, ist verdächtig, das ist einfach so. Und da hat man zunächst eine Vertrauensbasis aufzubauen, auf der man sich ganz normal unterhalten kann. Das ist wahnsinnig schwierig. Die Leute sind total nett hier, auch offen, auch mitteilsam, aber das wäre wirklich so viel einfacher ohne diese blöde Pandemie. Sie erschwert es schon sehr stark.

 

Also sozusagen nicht so authentische Begegnungen, wie sie sein könnten?

Ja, das mit dem Authentischen ist es natürlich auch. Jeder bringt ja seine eigenen Inszenierungen mit. Wenn ich so manchen Leuten begegnen würde, wenn es keine Pandemie wäre, dann würden sie wahrscheinlich auch in mir jemanden sehen, an dem sie ihre [zögert] Selbstinszenierung ausagieren könnten. Also davon wird man nicht befreit. Aber ich würde mir die Begegnungen halbwegs organisch, natürlicher oder weniger abgemacht wünschen. Also man hat das alles im Terminkalender stehen. Ich weiß jetzt zum Beispiel: Morgen um 15 Uhr treffe ich Person X, der hier lebt und Autor und Journalist ist, und frage ihn dann, wie er recherchiert hat für das Buch, das von diesem Kloster hier handelt. Das ist schon interessant, aber es wäre schon viel angenehmer, wenn sich so etwas ergeben könnte, wenn es soziale Konzentrationspunkte gäbe, wo man weiß, man muss einfach dorthin gehen. Das Schöne an dem Dorf ist ja eigentlich, dass man weiß, wo man hingehen muss, um Leute zu treffen. Und genau das, diesen Ort, gibt es jetzt nicht. Vorgestern habe ich eine Schicht in der Ortsbücherei gemacht, hinter dem Verleihtresen. Weil es der einzige Ort ist, der gerade als sozialer Raum geöffnet ist. Da haben sich die Frauen von der Bücherei bereiterklärt, mich kurz einzulernen, und dann habe ich mit ihnen zusammen Bücher ausgeliehen, zurückgenommen und desinfiziert. Das fand ich dann doch ganz schön.

 

Das Gespräch führten Anja Brandl, Dennis Fischer, Natascha Herr, Lara Humrich, Yuwei Liu und Sarah Werning.