Mundartforschung: Das Bairische als Literatursprache

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Die 134. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern widmet sich dem Schwerpunktthema Dialekt. Im folgenden Beitrag betrachtet Ludwig Zehetner das Bairische als Literatursprache. Zehetner ist Mundartforscher, Schriftsteller und Professor für Dialektologie in Regensburg.

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Mundartliche Literatur erfährt stiefmütterliche Behandlung. In Anthologien sucht man meist vergeblich nach Beispielen; Fehlanzeige insbesondere bei solchen aus dem ostoberdeutschen Sprach- und Kulturraum, der Altbayern und fast ganz Österreich sowie Südtirol umfasst.

Jüngst sind drei Bücher erschienen, die diese Lücke füllen. 2018 veröffentlichte Klaus Wolf seine Bayerische Literaturgeschichte. Das Bairische Poeticum von Peter Kaspar liefert dazu einen repräsentativen Querschnitt durch Versdichtungen aus zwölf Jahrhunderten, während der Band Vastehst me, herausgegeben von Eva Bauernfeind u.a., nur die letzten 40 Jahre abdeckt.

Außenstehende unterliegen häufig dem Irrtum, das bairische Bayern bestünde nur aus Ober- und Niederbayern; die Regionen Oberpfalz, Böhmerwald, Egerland werden meist ignoriert. Die nördlich der Donau beheimateten nordbairischen Dialekte nimmt man kaum wahr, und wenn, dann als bespöttelte Kuriosität. Charakteristika sind die fehlende Vokalisierung (vüll Göld – nicht vui/väi Gäid) sowie die „gestürzten Diphthonge" äi, ou (läiwa Bou – nicht liawa Bua).

Den Anfang der deutschsprachigen Dichtung stellt ein bairischer Text dar, der „Wessobrunner Hymnus", entstanden um 814: „[...] Dô dâr niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, / enti dô uuas der eino almahtîco cot." Solche alt- hochdeutschen Texte aus dem frühen Mittelalter weisen manche Besonderheiten auf, die bis ins heutige Bairisch überdauert haben, so etwa die fehlende Differenzierung der Verschlusslaute (b/p, d/t, g/k: „der almahtîco cot", „der allmächtige Gott") oder Wörter wie „enteo" (vgl. ent, herent, drent) sowie die doppelte Verneinung („niuuiht ni", „nichts nicht").

Sehr bekannt sind die Verse „Du bist mîn, ich bin dîn, [...]", ein mittelhochdeutsches Liebesgedicht aus dem Kloster Tegernsee. Ein Glanzstück des frühen donauländischen Minnesangs liegt vor mit dem Falkenlied des Kürenbergers: "Ich zôch mir einen valken". Darin heißt es: „Er fuort an sînem fuoze / sîdene riemen" — mit den Diphthongen uo, wie im heutigen Bairisch (Fuaß bzw. Fouß, Ream). Das bedeutendste hochmittelalterliche Epos, das Nibelungenlied, entstand im Donauraum, und auch der große Minnesänger Walther von der Vogelweide war Baier.

Zwei Kernstücke der altbayerischen Literatur haben sich über viele Jahrzehnte hin bewährt. Zum einen ist dies Franz von Kobells Novelle Der Brandner-Kasper (1871), die mehrfach für Bühne und Film bearbeitet wurde, zum anderen Heilige Nacht, eine Weihnachtslegende in Versen von Ludwig Thoma (1917). Beide Werke zählen bis heute zum literarischen Kanon.

Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt die „neue" deutsche Mundartlyrik mit Emerenz Meiers Wödaschwüln. Das balladenartige Gedicht ist fern von jeglicher Heimattümelei, gibt inhaltlich und sprachlich ungeschönt die Realität wieder. Solch naturalistischer Zugriff wird erst ein halbes Jahrhundert nach Meier fortgeführt. Die Gedichte des Wieners H. C. Artmann med ana schwoazzn dintn (1958) gehen einen entscheidenden Schritt weiter: Der Autor praktiziert radikale Kleinschreibung und wendet eine experimentelle Vexierschreibung an, mit welcher es ihm gelingt, den Klang des Vorstadtwienerischen stimmig und überzeugend abzubilden. Diesem Vorbild folgt 1973 dann Eugen Oker (d. i. Fritz Gebhardt) mit seinen Gedichten im oberpfälzischen Dialekt unter dem Titel so wos schüins mou ma soucha.

Von besonderem Interesse sind Mundarttexte, die nicht geschrieben wurden, um eine Stimmung, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, sondern die sich mit dem Bairischen als Sprachsystem befassen. Dies trifft zu auf den gebürtigen Landshuter Hans von Gumppenberg, der mit seinen parodistischen Versen Das Oadelwoaß eine Besonderheit der Lautentwicklung beleuchtet. Bis heute gilt nämlich die Unterscheidung zwischen dem jüngeren Diphthong ei (aus alt- und mittelhochdeutsch î) und dem „alten ei". Daher zählt der Baier „oans, zwoa, drei", weil historisch „eins, zwei, dri/driu" vorliegt, und das Farbadjektiv weiß unterscheidet sich von der Verbform (ich) weiß durch unterschiedlichen Vokal: (a) weißs (Hemad), aber (i) woaß. Die Fülle der mundartlichen Richtungsadverbien demonstriert Joseph Berlinger mit seinem Gedicht A lange Wanderung.

 

Problem Orthographie

Ähnlich wie den Schreibern der althochdeutschen Texte, die sich tastend das lateinische Alphabet zunutze machten, um die deutsche Sprache niederzuschreiben (z.B. „uuas" mit den Buchstaben uu für den Laut w), ergeht es bis heute den Autoren von Mundartliteratur; denn die Orthographie erweist sich als unzureichend für die Wiedergabe dialektaler Lautungen. Erst in jüngerer Zeit hat man es gewagt, die Fesseln der Rechtschreibnorm abzustreifen. Ältere Texte sind übersät mit Apostrophen, die anzeigen sollen, dass hier im Vergleich mit der Schriftsprache ein Laut fehlt. Damit tut man dem Dialekt Gewalt an, der ja ein eigenständiges System darstellt, das von der Hochsprache weitgehend unabhängig ist. Von der „Apostrophitis" hat man sich in den letzten paar Jahrzehnten erfreulicherweise weitgehend befreit. Man schreibt z.B. „i hobs grod gseng", nicht mehr „i’ hab’s g’rad’ g’sehg’n". Verschwunden sind auch Schreibformen wie „dös, Wöda für dees/des, Weda" (dieses Wetter), die in der bairischen Mundartliteratur lange Zeit üblich waren. Das größte Problem stellt die Verschriftung des fürs Bairische charakteristischen Phonems „überhelles a" dar. Meist steht einfach der Buchstabe a, und es bleibt dem Leser überlassen zu wissen, um welchen a-Laut es sich handelt. Bedeutet „mia hamma" nun „wir haben" oder „wir sind"? Ist Ersteres gemeint, steht dunkles a (das sich dem o nähert), bei Letzterem aber das helle a, das dem englischen [æ] ähnelt.

Die literarische Qualität der in den beiden erwähnten Anthologien versammelten Texte ist recht unterschiedlich. Nicht alle erfüllen den Anspruch, als zeitlose Dichtung gewertet zu werden. Dennoch verdienen auch solche Verse Beachtung, geben sie doch Zeugnis von der thematischen und formalen Vielgestaltigkeit der ostoberdeutschen Dialektliteratur. Liebe und Enttäuschung, Heimat und Natur sind Themen, ebenso die Selbstbestätigung als Baier, nostalgische Erinnerung an die frühere Lebenswelt und das einfache Landleben, andererseits Unbehagen an Neuerungen, Kritik an Politik und Gesellschaft. Gut vertreten ist Humoristisches, die genüssliche Ausgestaltung von Aphorismen und witzigen Pointen. Manches wäre zu ergänzen, so etwa die religiöse Thematik.

Peter Kaspars Bairisches Poeticum stellt eine wertvolle Fundgrube dar für alle, die sich auf die bairische, d.h. bayerisch-österreichische Versdichtung einlassen und sich mit ihr vertraut machen wollen. Klaus Wolfs Literaturgeschichte liefert die Darstellung der Zusammenhänge und die wertende Einordnung.

Sekundärliteratur:

Eva Bauernfeind, Helmut Eckl, Kristina Pöschl (Hg.): Vastehst me. Bairische Gedichte aus 40 Jahren, lichtung verlag, Viechtach 2014.

Peter Kaspar (Hg.): Bairisches Poeticum. Mit einem Nachwort von Ludwig Zehetner, edition vulpes, Regensburg 2014.

Klaus Wolf: Bayerische Literaturgeschichte. Von Tassilo bis Gerhard Polt, C. H. Beck, München 2018.

 

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