Info
03.11.2017, 16:30 Uhr
Norbert Niemann
Text & Debatte
images/lpbblogs/autorblog/klein/Niemann_kl.jpg
© Judith Bader

Der Schriftsteller Norbert Niemann über Donald Trump – und Literatur in Zeiten taumelnder Wirklichkeit

https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbblogs/autorblog/2017/klein/das-freie-wort_500.jpg
„Das freie Wort“ ist im Allitera Verlag erschienen.

Wir leben in postfaktischen Zeiten − lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? In der Anthologie Das freie Wort, erschienen im Allitera Verlag, hat Herausgeber Johano Strasser Beiträge u.a. von Gert Heidenreich, Dagmar Leupold, Julian Nida-Rümelin, Georg Picot, Fridolin Schley, Gesine Schwan, Thomas von Steinaecker und Wolfgang Thierse zusammengetragen, die sich mit dieser Thematik befassen. In dem Buch setzen Schriftsteller und Intellektuelle dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen. Sie erheben die Stimme für mehr Demokratie in Deutschland und Europa – und gegen die simplen und oft menschenverachtenden Konzepte der rechten Populisten. Der folgende Beitrag stammt von dem Schriftsteller Norbert Niemann.

*

 

Du bist fake news

Um es vorweg zu sagen: Ich habe keine Erklärung parat für das, was mich – wie so viele andere Menschen auch – derzeit beinahe täglich in Fassungslosigkeit stürzt. Ich vertrete auch keine Meinung, die man liken oder disliken könnte. Kaum eine Nachrichtensendung, bei der mir nicht plötzlich das Realitätsbild verrutscht und ich mich frage: Bin ich in irgendeiner dystopischen Phantasie gelandet? Was machen die da? Wie reden die? Was für eine Wirklichkeit wird da durch Worte und Bilder geschaffen? Wie konnte es so weit kommen?

Ich ahne es, aber kann es noch nicht fassen, das macht ja meine Fassungslosigkeit aus. Andererseits kreist mein Denken im Grunde ständig um das, was mich so fassungslos macht. Vielmehr, es schwirrt. Es ist ein ganzer Schwarm von Gedanken, der aufgescheucht kreuz und quer in alle Richtungen stiebt und die Enge meines Kopfes ausfüllt, gegen die Begrenzungen des Schädels prallt und zurückgeschleudert wird in den Tumult, der strenggenommen immer der Begleiter meines Lebens als Schriftsteller gewesen ist. Meines Lebens überhaupt. Weil ich nie ganz fassen kann, was mich als Wirklichkeit umgibt, was mein Dasein auf der Achse fortschreitender Zeit und Veränderung beeinflusst und bestimmt und ausmacht. Weil mir nie eine fertige Sprache zur Verfügung steht, die auszudrücken in der Lage ist, was gerade geschieht. Ich immer erst durch Nachdenken und Schreiben, durch Lesen, also durch Auseinandersetzung mit dem Nachdenken und Schreiben anderer, und – was über das Denken hinausgeht – durch Erzählen, die Möglichkeitsform der Fiktion, mich – vielleicht, hoffentlich – Erkenntnissen und Erfahrungen formulierend annähere, die das Wirkliche auf ihre hinter den Wort- und Bilderschleiern verborgenen Zusammenhänge durchdringen können.

Fiktion unter Verdacht

Doch gerade jetzt, in diesem Zustand einer Fassungslosigkeit, die den gewohnten Taumel meiner Weltwahrnehmung in einem so hohen Maß überschreitet, dass mir die durch jahrzehntelange Übung vertrauten Prozesse der Sprachfindung fürs erste nicht weiterzuhelfen scheinen, ist mir der Sprung ins Fiktionale fürs erste verwehrt, gerät mir selbst die Fiktion unter Verdacht. Als stünde plötzlich das Geschichtenerzählen als Form, die offen bekannte Erfindung von Wirklichkeit als (um ein Walter Benjamin-Wort zu gebrauchen) „Armatur“ des Menschen gegen die Zumutungen einer vorgetäuschten Realität zur Disposition. Als wäre die Fassungslosigkeit zu groß, um Sprache zu werden. Als könnte Literatur derzeit nur so tun, als wäre sie Literatur, nur erfüllen, was jemand anders, jedenfalls nicht sie selbst, beschlossen hat, dass sie zu sein habe, oder was jemand anders, nicht sie selbst, glaubt, dass wieder andere glauben, es sei Literatur. Als gehörte die Behauptung ihrer Existenz ebenfalls schon ins Reich der fake news.

Woher rührt der Verdacht? Mein scheinbar abruptes, in Wahrheit schon längere Zeit wachsendes und mittlerweile ausgewachsenes Misstrauen und Selbstmisstrauen? Und was hat das mit meiner Fassungslosigkeit angesichts der täglichen Meldungen zu tun? Als Bumerang schießen die Fragen in den Kopftumult zurück, wo sie an anderen Fragen und Gedanken zerschellen, bis auf einmal ein nächster neuronaler Impuls vordringlich wird, nämlich dieser:

Ich habe geschrieben, dass mir keine Sprache zur Verfügung steht, die Gegenwart zu erfassen. Dass ich deshalb unermüdlich Sätze bildete, sie aufschrieb. So machte ich mein Denken gleichsam laut, lauter als ein Mund es je könnte, machte es leise, leiser als eine Stimme es je vermöchte. Laut, weil die Gedanken durch Formulierung aus meinem Schädel befreit, über den unmittelbar umgebenden Raum hinausgetragen wurden in einen Sprachraum. Worin sich auch andere aus ihren Schädeln befreite Gedanken und Sätze aufhielten, damit sie in einem Prozess wechselseitiger Anregung und Befruchtung, aber auch der Abwehr und Kollision vielleicht zu so etwas wie einer Verständigung kommen konnten. Leise, weil diese wie treffend auch immer formulierten und geordneten Sätze, Wortgebilde sind, der Prüfung, des Einspruchs, der weitere Vertiefung zugänglich und fähig. Durch andere, durch mich selbst. Schreiben bedeutete mir immer Entäußerung, ein Abrücken von den Beschränkungen des Ichs, um in eine Zwischenzone überzutreten, in der die Überwältigungen medialer Alltagsrealität, ihre Affekt- oder Ideologiegeschosse, die unablässig auf mein Bewusstsein zielen, wenn schon nicht gänzlich abgewehrt, so doch abgepuffert werden konnten.

Sprechakte der Verwerfung

Warum aber muss ich zurzeit gerade darüber so viel nachdenken? Weil ich den Eindruck nicht loswerde, dass es genau diese Zwischen- und Pufferzone der Sprache ist, die gerade der Zerstörung preisgegeben wird? Einer Zerstörung, die sich seit längerem abzeichnet, jetzt flächendeckend zu werden droht? Und wieso erscheint mir die Art und Weise dieser Zerstörung so überaus perfide? Als würden die Voraussetzungen zwischenmenschlicher Verständigung auf den Kopf gestellt! Was bedeutet es, wenn Macht und Öffentlichkeit plötzlich von Gesten der Verwerfung beherrscht werden, die jede Möglichkeit von Austausch von vornherein zunichtemachen?

„You are fake news“ – Donald Trumps Bemerkung zum CNN-Reporter auf seiner ersten Pressekonferenz als „President-elect” steht hier ja nur stellvertretend für einen Sprechakt, der bei den Putins, Erdogans, Rechtspopulisten und, als wären sie von einem Sprachvirus befallen, immer häufiger auch bei als seriös geltenden Politikern, Moderatoren, Journalisten zu beobachten ist. Er transportiert die Haltung: Mit dir rede ich nicht, denn du repräsentiert Täuschung, Lüge, Böswilligkeit und Dummheit. Er sagt darüber hinaus: Die Welt der Medien ist grundsätzlich Fake, deshalb ist es nicht nur moralisch richtig, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, sie zu verdrehen, lächerlich zu machen, sondern auch völlig legitim, sie mit eigenen fake news zu füttern, auf ein paar Lügen mehr oder weniger kommt es schließlich nicht an. Nicht zuletzt sagt er: Ich habe dich ein für allemal durchschaut, darum schere ich mich nicht mehr um dich, sondern agiere von nun an so, wie es allein für mich von Vorteil ist. Nicht nur deine fakes ignoriere ich, sondern dich. Als Person, als Ich, als Mensch. Du bist fake news.

Während der literarische Gestus seit Aufklärung und Moderne darin besteht, sich durch Spracharbeit einem Erkennen anzunähern, das durch welche Gründe auch immer verstellt ist, versucht der rhetorische Gestus seine aus Erkenntnis oder vermeintlicher Erkenntnis gewonnene Überzeugung mittels Sprache durchzusetzen. Mit dem Du-Bist-Fake-News-Gestus aber wird offenkundig ein dritter Typus sprachlichen Handelns in Stellung gebracht. Er besteht aus drei Komponenten: der Verweigerung von Kontaktaufnahme, der Entwürdigung seines Gegenüber durch Verachtung und dem totalen Anspruch auf Deutungshoheit in einer ohnehin als fake entlarvten Öffentlichkeit.

Unendliches Gespräch

Allmählich begreife ich ein wenig mehr von meiner Fassungslosigkeit. Zum einen verstört mich die Perversion einer für offene demokratische Gesellschaften konstitutiven Grundhaltung. Das Bewusstsein, dass wir von Illusionen über die Wirklichkeit beherrscht werden und umstellt sind, das Bestreben, den „Schleier der Maya“ in Frage zu stellen, ist essentielle Vorbedingung für das Zustandekommen jedes Dialogs. Weil wir uns einigen wollen über die Wahrheit der Fakten, führen wir ihn. Und es ist ein Dialog, der nie enden kann und nicht enden darf, sollen nicht Täuschungen, Lügen und Dummheit sich der Realität bemächtigen.

Wie Hannah Arendt in ihrer Lessing-Rede sagte: „Nicht nur die Einsicht, dass es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, dass es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“ Die You-Are-Fake-News-Geste hingegen tarnt sich in einer Art feindlichen Übernahme als Geste der Aufgeklärtheit, um eben dieses unendliche Gespräch zu sabotieren und ihre Interessen rücksichtslos durchzusetzen. Aber kann in dem Fall von Sabotage überhaupt noch die Rede sein? Setzt sie nicht ein Bewusstsein voraus für das, was sabotiert werden soll? Während hier nur krude Ignoranz am Werk ist?

Zum anderen bestürzt mich eine Entwicklung, die sich im Begriff „feindliche Übernahme“ bereits andeutet, die seit langem in alle Teilbereiche der Gesellschaft eingedrungen ist, sich dort breitmacht und nun auch ganz unmittelbar die politische Herrschaft erfasst. – „Du weißt ja, Trump ist kein Zufall“, schrieb mir kürzlich ein befreundeter Kollege, und ich dachte sofort: Natürlich weiß ich das. Doch genaugenommen ahne ich es nur, wenn auch ganz deutlich. Warum um alle Welt wäre Trump denn bitteschön kein Zufall?

You are fake news – mit der in diesem Satz wortgewordenen Geste springt die Haltung der Marktideologie auf die politische Praxis über. Es ist die Dynamik der sogenannten „schöpferischen Zerstörung“, die, zum Kernprinzip gesamtgesellschaftlicher Organisation erhoben, die repräsentativen und kritischen Instanzen eben dieser Gesellschaft kassiert und so zur endgültigen Herrschaft strebt. Marktlogik reduziert den Menschen zum Konsumenten, die zwischenmenschlichen Beziehungen auf Konkurrenz. Schert sich nicht um gewachsene soziale und kulturelle Strukturen von Regionen, ganzen Weltgegenden, wenn es um Profitmaximierung geht – von der beruflichen Existenz kleiner Leute ganz zu schweigen. Zwingt mit ihrem alleinigen Argument, nämlich die Wirtschaft anzukurbeln, die Menschen unter Arbeitsbedingungen der Selbstoptimierung und Selbstausbeutung, unter Einheitsbedürfnisse, die entlang von Umsatzprognosen beliefert werden. Beansprucht die totale Deutungshoheit nach der Devise: Wahr, gut und rechtens ist, was sich durchsetzt. Jede Perspektive außerhalb der ökonomischen wird ausgeblendet, jedes andere Interesse übergangen. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis auch die Menschen, jeder Einzelne von uns, übergangen wird.

Sklavenlogik

Der Philosoph Achille Mbembe vergleicht in seiner Kritik der schwarzen Vernunft die Praktiken der globalisierten Ökonomie mit den „Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens“. Die „kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung“ greifen auf sämtliche Strukturen unseres Zusammenlebens über. Wie Sklaven seien Menschen des 21. Jahrhunderts zunehmend dazu verurteilt, „ihren Körper und ihr Denken von außen funktionieren zu sehen und in Zuschauer von etwas verwandelt zu sein, das ihre eigene Existenz war und nicht war“. Mit anderen Worten: Der schwarze, leere Körper, die Nicht-Identität des „Negers“ wird universell, das Gesicht des Menschen verschwindet hinter den Profilen der Trendforschung. Wir werden zum Produkt, das für seine eigene Produktion schuftet und zahlt. Aus dem Blickwinkel des Business erscheint alles jenseits der Projektionen der Profitmaschinerie als nachrangig und fällt nicht ins Gewicht.

Es ist die Ignoranz, Verachtung und Gewissenlosigkeit der Marktlogik, die sich in der ökonomischen Globalisierung seit Jahrzehnten austobt und nun offenbar auch die Herrschaftslogik befällt. Lässt es sich vielleicht so sagen: Der You-Are-Fake-News-Gestus droht die „Fakeisierung“ unserer Existenz in eine politische Realität zu überführen, in der die Lebenswirklichkeiten Einzelner keine Rolle mehr spielen? Weggewischt werden wie eine Falschmeldung von gestern? Ist die globale schöpferische Zerstörung durch die Marktideologie im Begriff, in eine globale geopolitische Verstörung überzugehen? Mit allen Konsequenzen?

Für mich als Schriftsteller jedenfalls wird es darum gehen müssen, den Raum der Fiktion als Möglichkeitsraum wiederzufinden, zu verteidigen und sichtbar zu machen – als den einzig realen Ort der Verständigung.

 

Verwandte Inhalte
Institutionen
Institutionen
Journal
Mehr