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„Kunst und Gesinnung“. Ein Essay von Norbert Niemann

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(c) Judith Bader

Gibt es überhaupt so etwas wie Sichtbarkeit von Gesinnung im Ästhetischen? Anknüpfend an die zeitgeschichtliche Entwicklung von künstlerischen Provokationen appelliert der Autor Norbert Niemann an die Unabschließbarkeit von Fragestellungen im öffentlichen Raum, um den diskursiven Austausch in einer demokratischen Gesellschaft auch weiterhin zu gewährleisten.

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Als junger Mann begeisterte ich mich sehr für die Lyrik Gottfried Benns. Vor allem die Morgue-Gedichte von 1912 hatten es mir angetan. Ihr radikal schonungsloser Realismus, ihr drastischer Stoff – es geht um das Sezieren von Leichen – ihre Absage an alles Glättende und Verklärende in Form und Sprache erschienen mir als Pendant zur Ästhetik von Punk und No Future. „Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster zwischen die Zähne geklemmt.“ Als Sänger und Gitarrist einer Wave-Band war das genau meine Wellenlänge.

Dann las ich Benns Bekenntnisse zum Nationalsozialismus, die Rede Der neue Staat und die Intellektuellen und Züchtung von 1933, den Offenen Brief von Klaus Mann als Antwort. Wer sich in dieser Stunde nicht zu ihnen, den vor den Nazis Geflohenen bekenne, werde für immer nicht mehr zu ihnen gehören, schrieb er.  

Ich war irritiert. Wie Klaus Mann hatte ich in Benn eine Art Vorbild gesehen. Wie konnte dieser abrupte Absturz ins Nationalsozialistische geschehen? Hätte ich an der Ästhetik seiner Gedichte erkennen müssen, dass sie die Gesinnung bereits in sich tragen? Lag es an mir, meinem Urteilsvermögen, dass ich es nicht tat? Gibt es überhaupt so etwas wie Sichtbarkeit von Gesinnung im Ästhetischen? Und welche Rolle spielen Weltanschauungen bei der Beurteilung eines Kunstwerks grundsätzlich?

Solche Fragen haben seither mein Nachdenken begleitet, und es gab immer wieder Anlass sie erneut aufzurufen – ob bei Botho Strauß' Anschwellendem Bocksgesang von 1993 mit seiner Beschwörung von „Volk“ und „Blutgesetz“, bei Martin Walsers Wort von der „Moralkeule Ausschwitz“ in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 oder bei Peter Handkes proserbischen Äußerungen im Jugoslawienkrieg. In jüngster Zeit stellten sich mir in Zusammenhang mit den Debatten um Monika Marons Fremdenfeindlichkeit, Uwe Tellkamps Nähe zum Pegida- und AfD-Weltbild, Kathrin Schmidts Nähe zu Querdenker-Positionen oder um die rechtsextreme Bildsprache des Malers Neo Rauch diese Fragen wieder – vermehrt um Fragen zu einem neuen Phänomen: dem der Cancel Culture. Cancel Culture meint eine neue Praxis des Framing: Wer mit öffentlichen Äußerungen unter Gesinnungsverdacht gerät, muss damit rechnen, dass seine Person und alles, womit er künftig an die Öffentlichkeit geht, von diesen Verdächtigungen und Vorwürfen gleichsam umrahmt wird. Der öffentliche Raum wird zum Pranger.

Als ich als junger Wave-Rebell unterwegs war, war es Usus, mit politisch inkorrekten Provokationen den damaligen Zeitgeist aufzumischen. David Bowies Flirt mit Nazi-Ästhetik, die Sex Pistols mit ihren Hakenkreuz-T-Shirts, Herbert Achternbusch mit Filmtiteln wie Der Komantsche oder Der Neger Erwin, Rainald Goetz, der in Klagenfurt Jawoll Heil Hitler da reihen wir uns ein, Kulturverteidigung voll geil voll wichtig liest und sich dazu die Stirn aufschlitzt, die Band DAF, die tanz den Mussolini, tanz den Adolf Hitler, und jetzt den Jesus Christus singt – ich deutete derlei als Widerstandsgesten gegen eine Atmosphäre verlogener Toleranz und kollektiver Verdrängung im Westen und der alten Bundesrepublik. Und so war es auch gemeint.

In den späten Neunzigern gerät die politisch inkorrekte Provokation jedoch in eine nächste Phase. Äußerungen wie die von Michel Houellebecq, in denen er nach dem Erscheinen von Elementarteilchen behauptet, er sei nicht nur in der Romanfiktion, sondern tatsächlich dafür, dass Menschen ab einem bestimmten Alter getötet werden sollten, oder Aussagen wie die der sogenannten Pop-Literaten um Christian Kracht, dass sie sich, wäre jetzt Herbst 1914 und nicht Frühling 1999, die ersten wären, die sich freiwillig für den Krieg meldeten, finden in einer veränderten öffentlichen Landschaft statt. Die Rede ist von der Ökonomie der Aufmerksamkeit, die der Soziologe Georg Franck 1998 in seinem gleichnamigen Buch zum ersten Mal beobachtet und beschreibt. Öffentliche Aufmerksamkeit ist nach Franck zum Marktplatz und so zur knappen Ressource geworden, um die mit allen Mitteln gekämpft werden muss, um erfolgreich verkaufen zu können. Nicht mehr die Inhalte von Botschaften sind von nun an wichtig, sondern ihre Durchschlagskraft, ihr Erregungspotential. Emotionalisieren lautet die Devise, und nachdem sie zunächst in der Reklame als Werbestrategie erfolgreich umgesetzt wurde – der Slogan „Geiz ist geil“ aus den Nullerjahren ist dafür ein Beispiel –, beginnen auch Populistinnen und Populisten sowie Künstlerinnen und Künstler auf sie zu setzen.

Gibt es demnach eine direkte zeitgeschichtliche Entwicklung von den Provokationen Houellebecqs und Krachts zu den rechtsextremen Konfrontationen der Identitären Bewegung? Rührt der Umschlag der öffentlichen Kritik in eine Cancel Culture daher, dass die Strategien der Aufmerksamkeitsökonomie ausgehebelt werden sollen, wo Händlerinnen und Händler mit Verdacht auf böse Ware auf dem Marktplatz Öffentlichkeit auftauchen? Versucht man sie mit vergleichbar emotionalisierenden Mitteln von dort zu verjagen? Und kippt mit den Sozialen Medien und ihren Parallelöffentlichkeiten schließlich die moralische Empörung endgültig in die Diffamierung?

Die Irritation, die mich seit meinem Gottfried Benn-Schlüsselerlebnis durchs Leben begleitet, ist heute von einem doppelten Unbehagen und einem doppelten Misstrauen geprägt. Die neue Frage heißt: Wer spielt hier eigentlich welches Spiel? Provoziert diese Autorin, dieser Künstler, diese Intellektuelle aus künstlerischen oder aus Marketing-Gründen. Oder meint sie oder er es ernst? Welche Ziele verfolgt die jeweilige Öffentlichkeit? Journalistische? Kommerzielle? Ideologische? Wird hier gar ein gemeinsames Spiel gespielt, das sich für beide Seiten rechnet? Oder heizen sie sich nur gegenseitig an, stacheln sie sich auf zu immer extremeren Positionen, immer krasseren Aussagen? Ist dieses Spiel überhaupt noch zu durchschauen angesichts von Fake News und Bots? Wie sieht es heute aus mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und ihrer medialen Präsentation und Repräsentation?

Ohne Zweifel hat sich unsere Öffentlichkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten drastisch verändert. So sehr, dass Jürgen Habermas sich genötigt sah, sein Buch Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und deliberative Politik zu schreiben, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Nach einer seiner Thesen liegt die Schuld für den Verlust an Vertrauenswürdigkeit und Bedeutung der „Alten Medien“ nicht bei den neuen sozialen Medien, sondern darin, dass die Alten die Neuen nachzuahmen versuchen. Mit dieser Nachahmung verknüpft sind auch die ökonomischen und neoliberalen Aspekte der neuen Aufmerksamkeitsindustrie. Zeigt sich hier ein Zusammenhang zwischen Kapitalinteressen und dem Entstehen antidemokratischer, rassistischer, sexistischer, antisemitischer Kräfte? Bewahrheitet sich womöglich erneut, was Max Horkheimer mit dem berühmten Satz umrissen hat: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“? Und stellen sich „die Alten“ – die überregionalen Zeitungen, die öffentlich-rechtlichen Sender – diesem neuen Strukturwandel in angemessener Form? Gibt es dort Selbstkritik, die jedenfalls zu meiner Vorstellung von gelingender Öffentlichkeit gehört, sind sie zur Selbstkritik noch fähig?

Bleibt mir noch die Frage nach der Ästhetik, danach ob es Gesinnungskunst gibt und woran man sie erkennt. Im Fall von Nazi-Kunst, aber auch von Kunstwerken aus anderen totalitären Zusammenhängen scheint sie eindeutig bejaht werden zu können. Die monumentalen Skulpturen Arno Brekers oder Joseph Thoraks, Wera Muchinas Arbeiter und Kolchosebäuerin im Stil des sozialistischen Realismus Stalinscher Prägung, aufgestellt auf der Pariser Weltausstellung 1937, dienen Propagandazwecken. Das ist an ihrer Riesenhaftigkeit und der Idealisierung der Figuren klar abzulesen. Aber sind da noch andere Indizien? Eine bahnbrechend neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen faschistischer Gesinnung und Ästhetik entwickelte Klaus Theweleit in Männerphantasien und Orpheus am Machtpol in den Siebziger und Achtziger Jahren. Seither wissen wir, dass das rechtsradikale Weltbild sich durchaus auch in den stofflichen Paradigmen von Romanen verriet: Phantasmagorien von mörderischen Flintenweibern, nicht ausgelebten homoerotischen Soldatenfreundschaften zum Beispiel.

Doch Paradigmen und Phantasmagorien verändern oder verschieben sich mit fortlaufender Zeit. Im Nachhinein sind sie viel leichter zu erkennen. Und auch die Kunstschaffenden können sich verändern. Kurt Tucholsky und Heinrich Mann haben in ihrer Jugend nationalistisch reaktionäre Ansichten, schlagen aber bald eine demokratische und sozialistische  Richtung. Bei Thomas Mann tritt der Gesinnungswandel erst spät, lange nachdem er 1918 seine unsäglich revanchistischen und gehässigen Betrachtungen eines Unpolitischen veröffentlicht hat. Der französische Schriftsteller Louis-Ferdinand Celine schreibt 1932 den grandiosen Roman Reise ans Ende der Nacht, in dem er mit großer Einfühlung das Leben der Pariser Unterschicht schildert. Ein paar Jahre später offenbart er sich als glühender Antisemit und Nazi-Anhänger. Dostojewski wird zum Ende seines Lebens auch Antisemit und panslawistischer Nationalist, wie in seinem Tagebuch eines Schriftstellers nachzulesen ist. Ernst Jünger hingegen pflegt zeitlebens seine Ideologie des Soldatenkriegertums, verachtet aber die Nazis.

Wie aber halte ich es mit den aktuellen Fällen? Ich versuche mein Urteil offen zu halten, denn ich kann mich täuschen wie alle Menschen. Trotz meines Wissens und obwohl ich mich jahrzehntelang damit auseinandergesetzt habe, bleibe ich skeptisch nicht nur den Künstlerinnen und Künstlern, den Kunstwerken und der Öffentlichkeit, sondern auch mir selbst gegenüber. Auch mir bereitet Neo Rauchs Bildsprache Magenschmerzen, seine Verrätselungsästhetik ist mir suspekt. Schon mit Uwe Tellkamps Der Turm hatte ich wegen seiner formalen Epigonalität und den streckenweise sentimentalen, sogar kitschigen Handlungsverläufen so große Schwierigkeiten, dass ich seither nichts mehr von diesem Schriftsteller lesen mag. Rechtfertigt das den Generalverdacht gehen die beiden? Sind dann all die unzähligen Epigonen und Sentimentalistinnen auf dem Buchmarkt gesinnungsverdächtig? Kathrin Schmidts literarisches Werk dagegen schätze ich außerordentlich. Ist dieses Werk nach ihrem Querdenker-Ausflug jetzt diskreditiert?

Der rechthaberische Gestus, mit dem die Öffentlichkeit in Zeiten der Cancel Culture vermehrt anprangert, bloßstellt und gelegentlich auch verhöhnt, lenkt ab von den inneren Widersprüchen, in die sie geraten ist. Die Unabschließbarkeit von Fragestellungen im öffentlichen Raum gehört zu dessen Grundbedingungen, soll er diskursiven Austausch gewährleisten. Diese Unabschließbarkeit auch strukturell zu befördern durch ein breites Spektrum analytischer und dialektischer Formate, halte ich für dringend geboten, damit offene Fragen eben offen bleiben und weiter diskutiert werden können. Denn dies – und keine emotionalisierenden Gesinnungsgewissheiten – macht eine demokratische Gesellschaft aus.

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