„Ressentiment“. Ein Essay von Norbert Niemann

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(c) Judith Bader

Woher kommt es, dass unsere Gesprächskultur zunehmend verroht, sich die öffentlichen Räume immer mehr emotionalisieren und zu kollektiven Empörungsfronten ballen? In seinem aufschlussreichen Essay „Ressentiment“ geht der Autor Norbert Niemann dieser Frage nach.

Mit diesem Beitrag beteiligt sich Norbert Niemann an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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In den letzten Jahren sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und politischen Debatten immer schärfer und unversöhnlicher geworden. Mit den Mitteln der Beleidigung, der Verleumdung, der Behauptung falscher Tatsachen, der Verdrehung von Aussagen und der Verstümmelung von Zusammenhängen, dem Erfinden oder verbissenen Suchen nach skandalträchtigen Informationen versucht man seine Gegner – bzw. diejenigen, die als Feindbilder herhalten sollen – lächerlich zu machen, zu desavouieren ,zu beschmutzen, zu bedrohen. Ob das Populisten und Populistinnen, Querdenker und Querdenkerinnen, Präsidenten, Präsidentinnen oder Oppositionsführende sind, ob es sich um Migration, Klimawandel, Pandemie oder Waffenlieferungen handelt, ob es um Fragen von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Nationalismus, Fundamentalismus geht: Überall ist die Tendenz zur vergifteten Atmosphäre der Intoleranz und Verachtung gestiegen, ständig entstehen neue Verschwörungsphantasmagorien, neue gesellschaftlichen Spaltungen mit neuen Sündenböcken.

Was ist das? Woher kommt das?

Das Phänomen einer fortschreitenden Verrohung unserer Gesprächskultur ist bereits seit längerem unter allgemeiner Beobachtung. Auch ich beobachte es schon lange und bin – wie vermutlich viele Menschen – immer wieder aufs Neue fassungslos über die Auswüchse. Inzwischen sind auch verschiedene Erklärungsmodelle im Umlauf.

Eine Erklärung lautet: Angesichts der vielen Katastrophen der vergangenen Jahre – Extremwetter durch Klimawandel, Covid-19, Ukraine-Krieg – habe das Moralisieren überhandgenommen und die rationale Diskussion verdrängt. Das Verhältnis von Moral und Politik ist allerdings Basisdiskurs alles Politischen und ein Zweig der Philosophie, der Moralphilosophie nämlich – also etwas ganz und gar nicht Kommunikationszerstörendes, sondern etwas, worüber sich trefflich reden und streiten ließe.

Eine weitere, zutreffendere Erklärung für diese Verrohung sieht die Gründe in den Veränderungen unserer Gesprächskultur durch die Digitalisierung, das Internet, durch die sozialen Blasen, die durch den Aufenthalt in den Sozialen Medien entstehen. Gleichgesinnte bilden gewissermaßen virtuelle Stammtische, an denen sie sich samt ihrem Welt- und Feindbild aufgehoben fühlen. Auf diese Weise vom Rest des öffentlichen Diskurses abgekoppelt, aber untereinander eng vernetzt, gerinnen sie gleichsam zu Meinungs- und Hassklumpen. Umgeben von einer dicken Blasenhaut, dringt kein Gegenargument, kein fremder Gedanke mehr zu ihnen durch.  Diese Verhaltensmuster, so die These, haben sich mit der Zeit auf die allgemeine kulturelle Praxis des Miteinanders übertragen.

Der Vorgang selbst ist nicht neu, durch das World Wide Web jedoch sozusagen viral gegangen. Soziale Medien befördern und potenzieren das, was Elias Canetti in seinem Buch Masse und Macht als Massenidentitätsbildung beschrieben hat. Das Kollektiv wird zum Körper des haltlos gewordenen Ichs und ersetzt es:

Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an. Um dieser Gleichheit willen wird man zur Masse. Was immer davon ablenken könnte, wird übersehen.

Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ein Arm, so wie eine Tatsache eine Tatsache, eine Wahrheit eine Wahrheit ist, ließe sich Canettis Gedankengang fortspinnen. Die Tautologie – also die Definition desselben durch dasselbe – ist nach Roland Barthes ein wesentliches Merkmal solcher stammtischartiger, heutzutage blasenförmiger Kollektivgeistbildung. In Mythen des Alltags schreibt er:

Man flüchtet sich in die Tautologie wie in die Angst, den Zorn oder die Traurigkeit, wenn einem die Erklärungen ausgehen. Das akzidentelle Ausbleiben der Sprache identifiziert sich auf magische Weise mit dem, was man als einen natürlichen Widerstand des Objekts ausgibt. In der Tautologie liegt ein doppelter Mord: man tötet das Rationale, weil es einem Widerstand leistet, und man tötet die Sprache, weil sie einen verrät.

Das, was Barthes als  „natürlichen Widerstand des Objekts“ bezeichnet ist genau das, was zu hinterfragen wäre und dem man eine Sprache zu geben hätte. Stattdessen verschanzt man sich hinter der Autorität eines Nicht-Hinterfragbaren. Roland Barthes: „So antworten Eltern, die mit ihrem Latein am Ende sind, ihrem fragenden Kind: Das ist so, weil es so ist.“

Wenn auf der Ebene gesellschaftspolitischer Debatten Argumente durch Tautologien ersetzt werden, übernehmen Ressentiments das Steuer im Diskussionsverlauf. Genauer gesagt, sie hebeln jede Diskussion aus. Wie auch sollte ein Austausch von Standpunkten stattfinden, wenn mindestens eine Seite der Gesprächsteilnehmer einen solchen Austausch prinzipiell und von vornherein zurückweist und abblockt? Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, liegt auf der Hand: Konflikte werden nicht mehr mit sprachlichen Mitteln ausgetragen, sondern entwickeln sich auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Der Duden definiert das Ressentiment als eine „auf Vorurteilen, einem Gefühl der Unterlegenheit, Neid oder Ähnlichem beruhende, gefühlsmäßig oft unbewusste Abneigung.“ Der Eindruck „andauernder Ohnmacht oder des persönlichen Zurückgesetztseins“ spielt dabei eine maßgebliche Rolle.

Für eine wachsende Stimmung der Überforderung, der Ohnmacht, des Zurückgestoßenseins in Teilen der Bevölkerung sprechen Ressentiments gegenüber Politikerinnen und Politikern oder gegenüber der medialen Öffentlichkeit, wie sie sich im Netz verbreiten und bei Demonstrationen auf der Straße zeigen. Von Volksverrätern, von Lügenpresse ist die Rede, Vorstellungen von unsichtbaren geheimen Machenschaften einer Weltdiktatur, einer gesteuerten Berichterstattung brechen sich Bahn. 

Politik und Öffentlichkeit wiederum verurteilen derlei Vorwürfe scharf, bezeichnen sie als irrational und wahnhaft und weisen deren verschwörerische Absichten und antidemokratischen Charakter nach. So sehr es sich dabei tatsächlich um destabilisierende Strategien handelt, so absurd und bedrohlich die propagierten Inhalte auch sind: Als Symptome eines gesellschaftlichen Zustands sollten sie ernstgenommen werden. In Streit um Asterix von Albert Uderzo und René Goscinny entsendet Julius Cäsar den Legionär Tullius Destructivus ins gallische Dorf, um Zwietracht zu säen und so den Widerstand gegen die römischen Invasoren zu brechen. Kaum ist Destructivus dort angekommen, färben sich die Sprechblasen sämtlicher Bewohnerinnen und Bewohner grün.

Hat also das Entstehen ressentimentgeladener Kommunikation – und dies wäre ein dritter Erklärungsansatz – vielleicht etwas mit den herrschenden Strukturen und Formaten unserer Öffentlichkeit zu tun?

Seit langem lässt sich eine immer stärkere Emotionalisierung der medialen Berichterstattung beobachten. In den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens etwa ist man dazu übergegangen, Informationsformate mit Beiträgen zu kombinieren, die darauf abzielen, unsere Anteilnahme und unsere Empathie für die von Not und Elend Betroffenen zu mobilisieren. Interviews vermitteln die dafür notwendige Aura von Authentizität.

Beispiel Ukraine-Krieg: Zunächst senden etwa Tagesthemen oder heute-journal bebilderte Zusammenfassungen zum Stand der militärischen Kämpfe. Danach Beiträge, in denen verzweifelte, verängstigte, traumatisierte, hasserfüllte Menschen interviewt werden. Im Anschluss kommen Expertinnen und Experten (etwa pensionierte Generäle und/oder aufgewühlte Politiker, Politikerinnen) zu Wort. Schließlich loben tief bewegte Moderatoren oder Moderatorinnen ihre Gesprächsgegenüber für ihr Mitgefühl und die richtigen Schlüsse, die sie daraus ziehen.

Was aber macht das mit uns, den Zuschauenden? Sollen wir in eine Totalität der Betroffenheit hineingezogen werden? Reflexion als etwas Nachrangiges begreifen? Zählt ab jetzt vorrangig der Affekt gegen das Böse? Gelten Prüfen, Nachdenken, Abwägen nun als unangemessen, kalt, inhuman? Weil Reflexion der Betroffenheit, der „Flucht in die Tautologie wie in die Angst, den Zorn oder die Traurigkeit“, wie es bei Roland Barthes heißt, im Weg steht? Weil es schließlich jeder und jedem an Empathie mangeln muss, der in einer solchen Situation noch nachdenken kann?

Katapultieren wir uns aber so nicht alle gemeinsam in einen Zustand der Ohnmacht und Überforderung und reagieren darauf mit einer Haltung, die mit dem Ressentiment durchaus einige Verwandtschaft hat? Bundeskanzler Olaf Scholz als Zauderer? Die Unterzeichnenden des Offenen Briefs gegen die Lieferung schwerer Waffen: herzensblind, gar verblendet?

Seit die Emotionalisierung des öffentlichen Raums so stark angewachsen ist, entstehen jenseits von Fakten und Argumenten ständig neue kollektive Empörungsfronten. Und ein großer Teil der seriösen Medien macht mit. Egal auf welcher Seite ihre Protagonistinnen, ihre Protagonisten stehen: Sie wissen sich stets auf der Seite der unverbrüchlichen Gewissheit und lassen keinerlei Abweichung zu.  

Empathie ist ein beliebtes Schlagwort in diesen Zeiten. Empathisch am menschlichen Leid, an der Zerstörung der Natur Anteil zu nehmen, sich für Linderung, Rettung, Beendigung von Not, Krieg und Raubbau an der Natur einzusetzen, mittels Argumenten und auch durch Aktionen, durch unmittelbares persönliches Handeln – das ist zurecht zu einem zentralen Wert der Gegenwart geworden.

Vielleicht jedoch verwechseln wir bei der Empathie etwas, wenn wir sie in erster Linie als emotionale Betroffenheit begreifen? Vielleicht befördert gerade das Primat der Emotion die Zunahme von Spaltprozessen in unserer Gesellschaft? Vielleicht werden unsere Auseinandersetzungen und Debatten deshalb aggressiver und verfallen immer öfter dem Ressentiment? Und vielleicht bemerken wir aus diesem Grund nicht, dass sich im Windschatten unserer Gefühle, unserer emotionsgesteuerten Reaktionen auf den derzeitigen Horror der Menschenwelt, überwunden geglaubte Ideologien und Haltungen neu etablieren? Im Fall des gegenwärtigen Kriegs beispielsweise Nationalismus oder Heroismus.

Demokratien leben von einer Öffentlichkeit, in der ihre Bürgerinnen und Bürger sich austauschen können, miteinander ins Gespräch kommen, sich auseinandersetzen. Demokratien kippen, wenn dieses Miteinandersprechen durch Ressentiments und Demagogie dauerhaft sabotiert wird. Feinde der Demokratie wissen das und agieren entsprechend.

Hannah Arendt hat in ihrer 1959 gehaltenen Lessing-Rede mit dem Titel „Über Wahrheit“ und Verdrängung“ auf den Punkt gebracht, wie das Gespräch unser demokratisches Zusammenleben konstituiert:

Es ist an einen Raum gebunden, in dem es viele Stimmen gibt und wo das Aussprechen dessen, was ‚Wahrheit dünkt‘, sowohl verbindet wie voneinander distanziert, ja diese Distanzen zwischen den Menschen, die zusammen dann die Welt ergeben, recht eigentlich schafft. Jede Wahrheit außerhalb dieses Raumes, ob sie nun den Menschen ein Heil oder ein Unheil bringen mag, ist unmenschlich im wörtlichsten Sinne, aber nicht, weil sie die Menschen gegeneinander aufbringen würde und voneinander entfernen, sondern eher umgekehrt, weil sie zur Folge haben könnte, dass alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so dass aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.

Die Welt aber soll nicht von der Erde verschwinden. Die wachsende Emotionalisierung im öffentlichen Raum ist falsch und gefährlich. Wir sollten uns ihr deutlicher entgegenstellen.