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05.12.2025, 11:30 Uhr
Thomas Lang
Spektakula

Ein Abend zu Ehren des italienischen Dichters Giovanni Boccaccio im Literaturhaus München

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alle Bilder: © Literaturportal Bayern

Vor 650 Jahren ist der Florentiner Dichter Giovanni Boccaccio gestorben. Bis heute berühmt ist er vor allem wegen seiner Novellensammlung Decameron. Die Romanistin Franziska Meier legt zum Jubiläum eine neueste wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigende Biografie des Dichters vor und zeigt: Boccaccio und seine Zeit von Krieg, Pandemie, Klimawandel und Bankenkrach hat viel mit unserer zu tun. All das brachte ein Abend im Literaturhaus München, am 3.12.25, nun zusammen.

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Auf der Bühne vor der heute bananengrün schimmernden Theatinerkirche fehlt ein Stuhl. Der wird bald gebracht, und so können alle vier den Abend gestaltenden Menschen dort (an drei Tischen) Platz nehmen. Tanja Graf, die Leiterin des Literaturhauses München, führt in den Abend ein, der anschließend der Romanistin und Boccaccio-Biografin Franziska Meier, Luis Ruby, der mit Boccaccios Decamerone einen der Klassiker der Weltliteratur neu übersetzt hat, Horst Lauinger, Leiter des Manesse-Verlags, der die Neuübersetzung veranstaltet hat, und Schauspieler Stefan Wilkening, der die ins Deutsche übertragenen Texte vorträgt, gehört.

Die vier finden gut an drei Tischen Platz, ein fehlendes Wasserglas wird wie der Stuhl schnell und pragmatisch bereitgestellt. Meier erzählt zunächst davon, wie sie als Jugendliche das Decameron im Bücherregal der Eltern entdeckt und darin geschmökert habe. Luis Ruby dagegen, der für seine Übersetzungen u. a. den Bayerischen Kunstförderpreis (2008) erhielt, verdankt seine Kenntnis des italienischen Klassikers zunächst dem Lehrplan für die bayerischen Schulen, auf dem Boccaccios „Falkennovelle“ stand.

Meier betont, dass Boccaccio sehr viel mehr sei als das Decameron. Auf Deutsch liegen außer diesem großen Werk zurzeit noch Die Klage der Madonna Fiammetta, ebenfalls bei Manesse, und ein Band mit Sonetten Auf einer Wiese, rings um eine Quelle, Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz, vor. Die Professorin schildert kurz Boccaccios Weg eines literarischen Autodidakten, der statt – wie Petrarca –  Cicero lieber Apuleius gelesen habe, einen antiken Autor aus Nordafrika, der eben kein klassisches Latein schrieb. Sie betont, dass viel von Boccaccios Lektüren in sein Werk eingeflossen sei. Intertextualität erweist sich als ein keineswegs modernes literarisches Verfahren. Salopp gesagt: Texte machen schon immer Texte.

Boccaccio-Biografin Franziska Meier

Die Lesungen des Schauspielers Wilkening sind schwelgerisch und stellen das Prangende, die ungebrochene Freude an der Phrase und am Necken der Leserschaft so deutlich aus, dass man sich fragt, ob etwas mehr Nüchternheit dem Text letztlich nicht mehr Raum gelassen hätte. Jedenfalls versteht Wilkening es, die narrative Bewegung gestisch in etwas leicht Nachvollziehbares umzusetzen.

Die zehn Tage von Florenz

Ohne Kenntnis der gesamten Texte, ist der Zuhörende leicht geneigt, sich auf einzelne Sätze zu fokussieren, die für sich genommen Schönheit oder Klugheit oder beides beinhalten. In Fall der Lesung aus der flammenden Madonna: „meine freie Seele ging an dem Tag verloren“ – als sie nämlich in Liebe zu einem Jüngling entbrannte.

Die Klage der Madonna Fiammetta, die in Neapel spielt, wo Boccaccio einige Jahre lebte, sei eine Art welthaltige Nabelschau, erklärt Franziska Meiser. Der Dichter zeige sich darin noch auf dem Weg zu seiner späteren Vollendung. Die Professorin ist besonders angetan davon, dass die Frau, die Boccaccio hier sprechen lässt, bei aller Leidenschaft niemals ihre analytischen Fähigkeiten verliere. Eine Lesung aus ihrer spannend und zugänglich geschriebenen Biografie Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten unterbleibt leider.

Der größere Teil des Abends ist nun dem großen Werk und Vermächtnis für die Welt des frührenaissancistischen Dichters gewidmet. Luis Ruby versucht verständlich zu machen, was er beim Lesen Boccaccios empfindet und wie er versucht hat, die Eigentümlichkeiten seines Decamerone über bald 700 Jahre hinweg in unsere Gegenwart zu transportieren. Er habe dabei auf die Länge des Werks gesetzt, die den Lesern Zeit gebe, sich einzufühlen und zu -denken und so ohne zu viel Entgegenkommen an einzelnen Stellen den Gehalt und die Ästhetik des Werks im Ganzen zu begreifen.

v. l. n. r.: Stefan Wilkening, Franziska Meier, Horst Lauinger, Luis Ruby

Es wird deutlich, dass er als Übersetzer sehr viel Wert darauf gelegt hat, nicht nur den Bedeutungsgehalt, sondern auch und gerade die klanglichen Qualitäten des Textes in unsere Zeit und Sprache zu holen. Den an diesem Abend vorgetragenen Ausschnitten nach zu urteilen, ist ihm das hervorragend gelungen. Man spürt die Spannung in den oft langen, aber nie anstrengenden Satzkonstruktionen. Bei Binnenreimen und anderen Formalien wie „Elfsilbern“ musste der Übersetzer freilich Abstriche machen. Dennoch ist die Neuübertragung des Werks für den Vortrag oder das empfohlene laute Lesen höchst geeignet.

Erotik und Scholastik

Ein bisschen kurz kommen die weltanschaulichen Aspekte von Boccaccios Werk. Schließlich gilt er heute als ein Dichter der Frührenaissance, eher dem in München lebenden Spätscholastiker Wilhelm von Ockham verpflichtet als dem mittelalterlichen Kirchenlehrer Thomas von Aquin. Die oben erwähnten Erfahrungen von Not, Krieg und raschen Veränderungen mögen mit dazu beigetragen haben, dass für ihn und seine Generation der Himmel nicht mehr zugänglich schien. Man wusste auf einmal nicht mehr, was Gott denkt. Das mittelalterliche Weltbild war zerbrochen.

Der Abend ließ sich nicht beschließen, ohne den erotischen Schilderungen, die für den andauernden Ruhm des Dichters sicher nicht ohne Bedeutung waren. Man betont, dass Boccaccio nie die Grenze zum Obszönen überschritten habe. Allerdings ist er recht explizit, wie die abschließende Lesung der 7. Novelle der „Zehn Tage“, so die wörtliche Übersetzung des Buchtitels, beweist. Ohne die Körperteile zu benennen, führt der Dichter den Lesenden doch recht unmissverständlich eine Erektion eines Penis und den folgenden Geschlechtsakt vor Augen. Ein listiger Eremit macht einer naiven jungen Frau vor, sie könne ein gutes Werk tun, indem sie den Teufel (erigierter Penis) zurück in die Hölle (Vagina) schicke, kapituliert aber bald vor dem unstillbaren Wunsch der Frau, die gute Tat zu wiederholen.

Selbst abgesehen von den überholten Geschlechterrollen ist die Schilderung eines derart von sexuellen Wünschen getriebenen Verhaltens (oder das Verhalten selbst) in unserer Gesellschaft der Gegenwart nicht gut vorstellbar. 

Was die Texte des alten Meisters ausmacht, scheint mir ihre Zuneigung zu sein. Denn sie schildern das Allzumenschliche mit Wärme und mildem Spott, wie er uns in unserer Dummheit und Determiniertheit gebührt.