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Stipendien für Literatur und Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis der Landeshauptstadt München vergeben

Die Landeshauptstadt München zeichnet (Nachwuchs-)Autorinnen und Autoren für vielversprechende literarische Projekte aus. Die diesjährigen Literaturstipendien erhalten: Bernhard Heckler für sein Romanprojekt „Der Jenny Effekt“, Annegret Liepold für ihr Prosaprojekt „Sand“, Slata Roschal für ihr Lyrikprojekt „Ich schreite en passant und tue deutsch“, Björn Stephan für sein Romanprojekt „Heimweh“ und Dana von Suffrin für ihr Romanprojekt „Angst“. Die zwei Stipendien für Übersetzungsprojekte erhalten Dr. Inga Meincke für ihre Übersetzung von William Heinesens Roman Noatun (aus dem Dänischen) und Luis Ruby für seine Übersetzung von Isaac Rosas Roman Lugar seguro (aus dem Spanischen). Die beiden Stipendien im Bereich Kinder- und Jugendbuch gehen an Mirjam Raymond für ihr Kinderbuchprojekt „Mein verbuggtes Leben – oder Superhelden flennen nicht“ und Kornelia Szatko für ihr Jugendbuchprojekt „Insel der Langsamen“. Dominik Wendland erhält das Stipendium für Illustration für sein Projekt „IMMER ALLES ANDERS“.

Die alle zwei Jahre vergebenen zehn Stipendien sind mit jeweils 8.000 Euro dotiert. Zusätzlich wird der Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis für Autorinnen und Autoren unter 30 Jahren in Höhe von 3.000 Euro in diesem Jahr an Sophia Merwald für ihr Romanprojekt „Sperrgut“ vergeben. Dies beschloss am 23. August der als Feriensenat tagende Verwaltungs- und Personalausschuss jeweils auf Empfehlung einer Jury.

 

Die Jurybegründungen:

Bernhard Heckler: „Der Jenny Effekt“

Bernhard Hecklers Romanprojekt „Der Jenny Effekt“ ist eine humorvolle und hintersinnige Erzählung über eine Gruppe von Außenseitern, die eine Wrestling-Show auf das Oktoberfest bringen wollen. Geschildert wird dieses Abenteuer in bestechendem Tonfall: rasant, rhythmisch, mit klug gesetzten Pointen und viel Wortwitz. Für Bernhard Hecklers Figuren geht es ums Ganze, es gibt viel zu verlieren, und immer wieder blitzt hinter dem Mut der Abenteurer Verzweiflung hervor. In diesem Roman lauert hinter dem Humor die Trauer, und in einem höchst kunstvollen Unterfangen gelingt es dem Autor, beides in der Schwebe zu halten und spürbar zu machen. Eine besondere Bedeutung kommt da der Erzählsituation zu: Wird hier etwa erzählt, um den Tod auf Distanz zu halten? Die raffinierte Romankonstruktion wird fast unsichtbar hinter dem Zwingenden und Dringlichen der Erzählung und ist doch Voraussetzung für ihr beeindruckendes Gelingen.

Bernhard Heckler, geboren 1991, arbeitet als freier Journalist u.a. für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. Er war Stipendiat der Heimann-Stiftung und der Bayerischen Akademie des Schreibens. Sein Debütroman Das Liebesleben der Pinguine erschien 2021.

 

Annegret Liepold: „Sand“

Annegret Liepolds Romanprojekt „Sand“ folgt zwei Frauen in eine nicht allzu ferne, zumindest sehr gut vorstellbare Zukunft. Das Handy kennt die eigenen Einkäufe endgültig besser als man selbst, und die Natur hat sich unübersehbar ihren Platz in den Städten zurückerobert: Ein unerklärbares Naturphänomen weht unablässig Sand in die Zivilisation. Es ist eine beeindruckende literarische Szenerie, die Annegret Liepold erschafft. Mit wenigen Strichen lässt sie eine ganze Welt entstehen, die gleichzeitig vertraut und fremd erscheint. Aktuelle Themen – der Klimawandel, die Krise des Kapitalismus – werden hier der Zeit enthoben und universell erzählt: Sie bestimmen unausweichlich die Existenz der Protagonistinnen. Anhand dieser vermeintlichen Gegensätze setzt Annegret Liepold den Text unter Spannung. Dabei zeichnet sich nicht nur das Romanprojekt im Ganzen durch besondere Originalität aus, auch sprachlich bewegt sich die Autorin jenseits ausgetretener Pfade. Die Bilder, die sie für die von ihr geschaffene Welt findet, sind ungewöhnlich sprachmächtig und treten in spannungsvolle Beziehung mit einem klaren, starken Erzählton.

Annegret Liepold, geboren 1990, war u.a. Finalistin des Open Mike und Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens. 2019 erhielt sie den Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis der Stadt München.

 

Slata Roschal: „Ich schreite en passant und tue deutsch“

Wie schon im 2022 erschienenen Roman 153 Formen des Nichtseins betreibt Slata Roschal auch in ihrem Lyrikprojekt „Ich schreite en passant und tue deutsch“ eine Art Bricolage und zieht dabei, thematisch und stilistisch, sehr unterschiedliche Register: Zitate aus Werbung und Nachrichten, mythologische Motive und juristische Textschnipsel verschmelzen in den lakonisch grundierten Gedichten mit lyrisch Intoniertem zu knappen Vignetten von großer poetischer und subversiver Kraft. Es ist ein Lyrikprojekt, das weit ausgreift und sich mit aktuellen Themen – Migration, Integration, Zugehörigkeit – auseinandersetzt, ohne je propagandistisch, ideologisch oder simpel zu werden. Auch Eltern- und Autorschaft werden poetisch gespiegelt und poetologisch reflektiert. Auf Informationsüberflutung, Einflüsterungen ideologischer Natur, Werbung und bürokratische Zumutungen reagiert das lyrische Ich in Slata Roschals drittem Gedichtband mit Desintegration und Fragmentierung. Das führt keineswegs zu elegischen Klagen – im Gegenteil: Die Gedichte sind im Alltag verortet, konkret, sinnlich und aufmüpfig und durch spielerisch-ironische Collagen in einem wilden Stilmix aus Worthülsen, kodifizierten, stereotypischen Redewendungen und Hochsprache häufig komisch. Der große Eigensinn in Form- und Sprachgestaltung wirkt nie übertrieben, zwanghaft virtuos oder originell, sondern steht stets im Dienst eines Erkenntnisgewinns, einer Korrektur eingefahrener Wahrnehmungsroutinen. Im Exposé zum Projekt verlangt die Autorin, dass auf der Suche nach „übergangenen Orten“ die Kartierung der Welt nicht Google Maps überlassen werden sollte: Im Gedichtband Ich gehe en passant und tue deutsch löst sie diesen Anspruch ein.

Slata Roschal wurde 1992 in St. Petersburg geboren. Übersiedlung nach Deutschland im Kindesalter. Studium der Germanistik, Slavistik und Komparatistik, Promotion an der LMU München 2021. Literarisches Debüt 2021 mit dem Gedichtband „Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere“. 2022 erschien der viel beachtete und mehrfach ausgezeichnete Roman 153 Formen des Nichtseins.

 

Björn Stephan: „Heimweh“

Björn Stephans Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Heimweh“ befasst sich mit einem in der Literatur noch kaum behandelten Thema, nämlich der Rückkehr aus dem Westen in einen in der ehemaligen DDR gelegenen Heimatort. Dieser ist längst nicht mehr der Ort der Kindheit und Erinnerung; die nicht näher benannte Stadt ist seit Jahrzehnten verwaist und überaltert, die meisten Häuser liegen brach. Die Rückkehrer sind vier Frauen und drei Männer in ihren 30ern, die sich seit ihrer Kindheit kennen. Von ihren Erlebnissen, ihren Versuchen, die Elternhäuser zu renovieren und den nicht unproblematischen Beziehungen untereinander wird multiperspektivisch erzählt. Und schnell wird deutlich, dass trotz aller Bemühungen, die alten Wunden zu schließen, die Narben der Geschichte bleiben: Ein unglücklicher Arbeitsunfall – einer der Protagonisten, Simon Mestlin, verletzt sich bei Reparaturarbeiten – führt zu einer Annäherung der zunächst durch die Rückkehr einander entfremdeten Freunde und zum Wiedersehen mit einer früheren Nachbarin. Man könnte sagen: Die „neue“ Wunde ist heilend. Stephans Prosa zeichnet sich durch eine große Sinnlichkeit und Präzision aus; die intensiven poetischen Bilder, die er für die verlassenen Landschaften und Siedlungen findet – einmal ist die Rede von „welken Tagen ohne Licht“ –, stehen auch für die psychisch-mentale Verfasstheit der Rückkehrer. Sie ist von tiefer Ambivalenz gekennzeichnet, der Begriff „Heimweh“ gewinnt hier eine neue Tiefenschärfe: als Schmerz über das Verlorene und Skepsis gegenüber dem Wiedergewonnenen. Die genaue und ausführliche Beschreibung von Simons Anstrengungen, das großelterliche Haus wieder instand zu setzen, lässt sich durchaus symbolisch, als ein größeres Vorhaben als bloße Reparatur verstehen: als den Versuch der Wiederherstellung von Identität. Ganz ohne Larmoyanz und ostalgischem Pathos.

Björn Stephan, geboren 1987, Studium der Geschichte und Ausbildung zum Journalisten. Sein Debütroman Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau erschien 2021 und wurde mehrfach ausgezeichnet.

 

Dana von Suffrin: „Angst“

Die Historikerin Dana von Suffrin erhielt schon für ihren 2019 veröffentlichten Debütroman Otto viel Aufmerksamkeit. Mit schwarzem Humor setzte sie hier vor allem ihrem Vater ein einmaliges literarisches Denkmal. Auch in ihrem zweiten Roman mit dem Arbeitstitel „Angst“ möchte sie ihre Familiengeschichte erzählen, indem sie Komik und Krise verbindet.

Diesmal hat sie jedoch vor, weiter auszuholen und drei Zeitebenen zu verknüpfen: die 40er-Jahre und das Überleben der jüdischen osteuropäischen Großeltern, das Aufwachsen der Enkeltochter Rosa in den 80er- und 90er-Jahren in München und die Gegenwartsebene mit der fast 40jährigen Rosa als Rahmenhandlung. Besonders überzeugt der ganz eigene Erzählstil der Autorin, der mit seinem mäandernden, hypotaktischen Satzbau den Leser in ihre Gedanken-, Assoziations- und Erinnerungswelt hineinzuziehen versteht. Wie Filmsequenzen reihen sich die Familienszenen vor dem inneren Auge auf, und der etwas boshafte, spöttische Ton der Erzählerin konturiert die Familienmitglieder treffsicher und humorvoll. Feine Charakterisierungen wechseln sich mit gekonnten Bildern, Vergleichen und der indirekten oder direkten Rede der Verwandtschaft ab, die dann sogleich von der Ich-Erzählerin analysiert und reflektiert werden. Eindrucksvoll führt die Autorin vor, wie Erinnern, Träumen und der Versuch des Einordnens eine Biographie und das eigene Wahrnehmen formen.

Dana von Suffrin wurde 1985 in München geboren. Studium in München, Neapel und Jerusalem. 2017 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle von Wissenschaft und Ideologie im frühen Zionismus. Ihr Romandebüt Otto wurde vielfach ausgezeichnet.

 

Mirjam Raymond: „Mein verbuggtes Leben – oder Superhelden flennen nicht“ (Kinderbuchprojekt)

In ihrem kinderliterarischen Debütroman Mein verbuggtes Leben – oder Superhelden flennen nicht schildert Mirjam Raymond die Geschichte des elfjährigen Lernon und seines Mitschülers Johnny. Als Lernon eines Tages verschwindet, macht Johnny sich auf die Suche nach ihm. Die Leser*innen erfahren zunächst wenig über den vermissten Jungen, der in der Schule von den anderen Kindern entweder gemobbt oder kaum beachtet wird. Erst als Johnny, der als Ich-Erzähler durch die Geschichte führt, Lernons Tagebuch findet, wird sein Leben Stück für Stück sichtbar. Der afghanische Junge hat sich allein nach Deutschland durchgeschlagen und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft, verzweifelt auf der Suche nach seinen Eltern und Geschwistern, die er auf der Flucht aus seinem Heimatland verloren hat.

Mirjam Raymond beherrscht die Kunst, die Themen Flucht, Asyl, Verlust und Einsamkeit mit Humor, Charme und Warmherzigkeit so in Worte zu fassen, dass Schweres leicht wird und sich mögliche Berührungsängste in pure Lesefreude verwandeln. In ihrem packenden, berührenden, souverän erzählten Roman zeichnet sie die beiden ungleichen Protagonisten wie auch die Nebenfiguren individuell und authentisch. Ebenso überzeugend ist die Sprache des Ich-Erzählers Johnny, in der sich Witz, Unmittelbarkeit, Naivität und Empathie gekonnt verbinden. Mit ihrem Romanprojekt möchte die Autorin dazu ermuntern, die „Unsichtbaren“ in unserer Gesellschaft sichtbar werden zu lassen.

Die Deutsch-Kroatin Mirjam Raymond studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaften in München, arbeitete als freiberufliche Journalistin und erhielt 2022 ein Stipendium der Akademie für Kindermedien. Zurzeit ist sie als Producerin mit dramaturgischer Verantwortung im Dokumentarfilmbereich tätig.

 

Kornelia Szatko: „Insel der Langsamen“ (Jugendbuchprojekt)

Kornelia Szatkos Jugendroman ist gesättigt mit Coolness und Zeitgeist, er ist ganz von heute und realistisch; doch zugleich betritt er das Gelände der Fantastik, bewegt sich in der Tradition einer verkehrten Welt und der literarischen Groteske. Das ist, wenn es gelingt, eine große Kunst. Die Autorin stellt sich der stilistischen Herausforderung: In nahezu jedem Satz blitzt – mal laut und schrill, mal fast unmerklich subtil – etwa das Stilmittel der Übertreibung auf.

Auch das macht die Lektüre zu einem sprachlichen Vergnügen. Auf der Karibikinsel Providencia wippen Palmen zu Reggae-Musik, als dort die beiden Backpacker Melvin und Shea ankommen. Auf den ersten Blick scheint sich ein Feel-Good-Roman nach dem Muster Boy-meets-Girl abzuzeichnen. Der Technik-Nerd zwischen Highschool und Uni und das schöne Hippiemädchen mit der Ausstrahlung eines wandelnden Sommerhits haben sich gerade erst kennengelernt. Für beide ist der spontane Trip eine Flucht vor kaputten Familien, vor der Vergangenheit und auch vor der Zukunft. Doch nach dem rasanten Start erwartet die beiden so etwas wie die Entdeckung der Langsamkeit: Auf der Insel gilt nämlich nicht Schnelligkeit als höchster Wert, sondern das Gegenteil. Gerade findet das jährliche Pferderennen statt, ein großes Fest, aber es siegt nicht der schnellste, sondern der langsamste Reiter. Leider klauen Melvin und Shea aus Versehen das als Favorit gesetzte Pferd und werden dafür über die ganze Insel gejagt. Kornelia Szatkos Debütroman ist ein intelligentes Spiel mit Komik und Tragik, mit Genre-Gesetzen und Leseerwartungen. Am Ende triumphiert die Liebe, aber natürlich ganz anders als gedacht.

Kornelia Szatko wurde als Tochter polnischer Einwanderer in Landshut geboren und wuchs zweisprachig auf. Sie studierte Medienwissenschaft und Kunstgeschichte in Regensburg und arbeitet als Creative Director für Münchner Werbeagenturen.

 

Inga Meincke: „William Heinesen: Noatun“ (Übersetzungsprojekt)

Inga Meincke wird ausgezeichnet für die Neuübersetzung des 1938 veröffentlichten Romans Noatun von William Heinesen, dem wohl bedeutendsten färöischen Autor des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Romans steht eine von Mittellosen gegründete Siedlung an einem unwirtlichen, schwer zugänglichen Ort zwischen Felsen und Meer, an dem Grundfragen der menschlichen Existenz und des Überlebens schonungslos zutage treten. Heinesen verfasste sein Panorama der färöischen Gegenwartsgesellschaft der 1920er- und 1930er-Jahre auf Dänisch, wie es zu jener Zeit aus politischen Gründen üblich war.

Eine besondere Herausforderung der Übersetzung liegt darin, dass Heinesen die Spannungen zwischen der dänischen und der färöischen Sprache als produktives Stilmittel einsetzt. Inga Meincke hat diese und andere Schwierigkeiten souverän und kenntnisreich gemeistert. Sie hat für den Roman einen wuchtvollen, archaischen Ton gefunden, der zu keinem Zeitpunkt altbacken oder verstaubt wirkt. Ganz im Gegenteil, der Übersetzerin gelingt es mit ihrem Gespür für Rhythmus und Stimmung, die Beschreibungen der kargen Inselwelt und die eigentümliche Färbung der Romanszenen kunstvoll und zeitgemäß ins Deutsche zu übertragen.

Dr. Inga Meincke, geboren 1963 in Hamburg, studierte Nordische Philologie an der Ludwig- Maximilians-Universität und promovierte 1999 an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie arbeitet seit 2002 als selbständige Lektorin, Übersetzerin und Autorin.

 

Luis Ruby: „Isaac Rosa: Lugar Seguro“ (Übersetzungsprojekt)

Luis Ruby übersetzt den Roman Lugar Seguro (dt. „Sicherer Ort“) von Isaac Rosa aus dem Spanischen. Bei dem mit dem Premio Biblioteca Breve ausgezeichneten Buch handelt es sich um einen pikaresken Vater-Sohn-Roman, der nicht nur den Auf- und Abstieg einer Familie über drei Generationen hinweg behandelt, sondern auch wirtschafts- und sozialpolitischen Themen nachgeht und entsprechend von gesellschaftskritischen Strömungen und Sprechweisen geprägt ist. Da ist sprachliche Vielfalt gefragt: Ob im Wirtschaftsjargon, bei verschiedenen politischen Diskursen oder Umweltdiskussionen werden etliche zeitgenössische Themen aufgeworfen und häufig variiert. Der Erzähler nimmt mehrere Perspektiven ein, die teils satirisch zuspitzen, teils zynisch kommentieren oder subtil Einfluss nehmen. Luis Ruby ist es beispielhaft gelungen, für die Erzählerstimme des Romans einen eigenen, treffenden Ton zu finden und gleichzeitig alle Themenkreise adäquat, differenziert und doch mit der dem Original innewohnenden Leichtigkeit ins Deutsche zu übertragen.

Dabei nutzt er konsequent und stets mit sicherer Idiomatik die sprachlichen Möglichkeiten des Deutschen auch dort, wo Abweichung von den syntaktischen Vorgaben des Originals nötig ist.

Luis Ruby ist 1970 in München geboren und zweisprachig aufgewachsen. Er hat in Heidelberg, Salamanca und München studiert, war Lehrbeauftragter an der LMU sowie bei verschiedenen Übersetzerwerkstätten und einer Gastdozentur. Ruby wurde für seine Übersetzungen, unter anderem von Clarice Lispector, Irene Vallejo, Hernán Ronsino und Javier Marías, vielfach ausgezeichnet.

 

Sophia Merwald: „Sperrgut“ (Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis)

Das Gast- und Wohnhaus „Lusthansa“ im abgelegenen Industriegelände „Kummerfeld“ ist nicht nur Handlungsort, sondern auch symbolischer Ort für die Schwellensituation der Figuren in Sophia Merwalds Roman Sperrgut – verloren zwischen Stadt und Land, zwischen Verzweiflung und Zufriedenheit, Außenseiterposition und Zusammenhalt. Geführt wird das Haus von Kristalloma, die es in einer Zeit vor der Romanhandlung als Zufluchtsort für von Gewalt bedrohte Frauen gegründet hat und noch immer auf unkonventionelle Art als Ankerpunkt im Leben ihrer Mitbewohnerinnen wirkt. Eine Gruppe verlorener Existenzen rund um die Ich-Erzählerin Stevie findet bei ihr ein Zuhause – in gleichsam nüchterner wie liebevoller Sprache werden sie vorgestellt. Als Stevie Maj kennenlernt, hofft sie in ihr eine „glitzernde Verbündete“ zu finden und lädt sie ein, zu ihr ins Lusthansa zu ziehen. Kurz nach ihr zieht der Vater von Stevie, mit beginnender Demenz aus dem Altenheim kommend, ebenfalls ein. Stevies Beziehung zu ihm ist schwierig. Äußerst fein stellt Merwald das Schwanken zwischen Nähe und Bedrohung des eigenen Rückzugsortes dar. Widerwillig muss Stevie Verantwortung für den Vater übernehmen, mehr als sie kann, während eigentlich ihre Sorge Maj gilt, die immer wieder „Silo-Laune“ hat, in der es sie auf die höchsten Gebäude der Umgebung zieht. Aber auch Stevies eigene psychische Verfassung ist nicht gut, die beiden Frauen geben sich gegenseitig so etwas wie Halt.

Präzise sprachliche Bilder – Naturbeschreibungen zumeist – zeigen Gefühlslagen, die für die Protagonist*innen unaussprechlich bleiben. Es ist die Stärke Merwalds, die „dysfunktionalen Beziehungen“ und die psychische Verfasstheit ihrer Figuren den Leser*innen fühlbar zu machen. Was sie selbst unfähig sind, in Worte zu fassen, findet sich in ihrem Erleben der Gegend rund um das Industriegebiet, in kleinen Beobachtungen und ungewöhnlichen Angewohnheiten.

Sophia Merwald, 1998 geboren, studierte Journalistik, Literatur- und Kulturwissenschaften sowie Film- und Medienkultur-Forschung an der LMU München. Sie veröffentlichte Texte in verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. Für das nun mit dem Leonhard und Ida Wolf-Gedächtnispreis der Stadt München ausgezeichnete Romanprojekt erhielt sie bereits den Autor*innenpreis des Irseer Pegasus.

 

Dominik Wendland: „IMMER ALLES ANDERS“ (Illustrationsprojekt)

In dem Ausschnitt aus Dominik Wendlands höchst originellem Comicbuch-Projekt „IMMER AALES ANDERS“ folgen wir Leser- und Betrachter*innen einer fluiden Hauptfigur durch einen Club- und Kneipenabend. Nicht nur erleben wir dabei, wie diese Figur selbst die Seiten wechselt, vom Türsteher im Club zur Kundschaft vorm Tresen, wir erleben auch, wie sie ihre äußere Erscheinung, ihr Geschlecht, ihren Auftritt variiert. Sie wird vom Einlass-Popeye zur schluffigen jungen Frau, die sich beim Flirt mit der Barkeeperin in die Nesseln setzt; und auf dem nächtlichen Heimweg verteidigt sie schließlich als Superheldin Sailor Moon ihre Freundin gegen übergriffige Jugendliche. Dominik Wendland möchte in dieser Verwandlungskünstler*in das neoliberale Anspruchsdenken an das heutige Individuum abgebildet sehen – den Zwang zur Flexibilität. Indem er sich ganz auf seine expressiven Bilder verlässt, gelingt es ihm, das Seelenleben seiner Figur nach außen zu kehren. Als Betrachter wissen wir – ohne dass eine Erklärung nötig wäre – über den inneren Druck und Zustand der Figur Bescheid. Die äußeren Umstände bedingen dabei immer das Innenleben und umgekehrt. Doch nicht nur die Bildebene, die ausdrucksstarke, bewusst gesetzte Farbigkeit, der äußerst unkonventionelle Aufbau der einzelnen Panels, die Komik, die allein aus der Illustration spricht, konnte die Jury überzeugen. Auch die Textebene ist gelungen. Dominik Wendland fängt bis zur Lakonie verknappt Umgangs- und Alltagssprache ein, ohne dass es auch nur für einen Moment hölzern oder aufgesetzt wirkt. Eine literarische Leistung.

Dominik Wendland, 1991 im Nordschwarzwald geboren, hat in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert und wurde für seine Comicveröffentlichungen vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lebensfenster Preis 2014 und dem Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur 2018. Er arbeitet als Illustrator u.a. für das Münchner Literaturhaus, die Süddeutsche Zeitung und das Goethe Institut und engagiert sich in der Organisation des Münchner Comicfestivals ArtZi.

 

Die Preisverleihung mit öffentlicher Lesung der Stipendiatinnen und Stipendiaten findet voraussichtlich am Dienstag, 31. Oktober 2023, im Literaturhaus München statt.

Weitere Informationen zum Preis und zu den Jurys unter www.muenchen.de/literatur.