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08.12.2022, 12:02 Uhr
Kunstministerium
Text & Debatte
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© Mario Wezel

Förderstipendium Neustart-Paket Freie Kunst an Björn Stephan

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© Wolfgang Maria Weber/StMWK

Lyrik, Comics und Romane: Am 28. September 2022 wurden in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 22 Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Kunstminister Markus Blume mit den Förder- und Arbeitsstipendien des Freistaates Bayern ausgezeichnet. Unter den geförderten Publikationsvorhaben finden sich Lyrik-, Erzähl- und Comicbände ebenso wie die Geschichte einer potenziellen Amour fou sowie eine im 19. Jahrhundert angesiedelte gesellschaftskritische „biofiction“. Das Literaturportal Bayern stellt in den kommenden 11 Wochen jeweils zwei der Preisträgerinnen und Preisträger mit einem Porträt und einem Textauszug vor.

Björn Stephan, 1987 geboren und in Schwerin aufgewachsen, lebt in München. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaften in Berlin und besuchte im Anschluss die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. Als Reporter schreibt er für das SZ-Magazin und die ZEIT. Seine Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Sozialpreis, mit dem Reporterpreis und dem Axel-Springer-Preis. Für sein literarisches Debüt Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau, erschienen bei Galiani 2021, erhielt er den Ulla-Hahn-Autorenpreis und den Kunst- und Kulturpreis der Landeshauptstadt Schwerin. Der Roman stand 2021 auf der Shortlist des Fontane-Literaturpreises.

Auszug aus Ankunft (Romanvorhaben)

Auch an diesem Morgen kam es Simon Mestlin wieder so vor, als hätte er etwas verloren. Was genau, konnte er nicht sagen, es war ein unbestimmtes Gefühl, das er nicht vertreiben konnte; schon seit Jahren wanderte es durch seinen Körper: Manchmal glich es einem sanften, aber unaufhörlichem Puckern, das hinter seinen Schläfen saß; ein anderes Mal äußerte es sich als hartes, spitzes Ziehen in seiner Brust oder als ein Brennen unter seiner Bauchdecke. Solange er noch nicht alleine gewesen war, hatte Simon es meistens irgendwann verscheuchen können, zumindest für eine Weile. Doch inzwischen war es lauter geworden, drängender; er konnte es fast greifen, dieses vertraute, aber vage Gefühl, das ihn sogar hierher verfolgt hatte, an diesen Ort, an den er nie zurückkehren wollte; in dieses Haus, das ihm gehörte und dennoch nicht seines war. 

Simon hatte keine Ahnung, wie lange er es noch aushalten würde: Dieses Gefühl zermürbte ihn, es scheuerte an seiner Seele. Er musste nur – so wie jetzt – einen Moment stillhalten und in sich hineinhorchen und schon konnte er es ganz deutlich spüren. Da! Da war es! Direkt hinter seiner Stirn. Wenn er seine Augen schloss, kam es ihm beinahe vor, als könnte er dabei zuschauen, wie es sich dort einnistete. Ein silbernes Schimmern vor schellackschwarzem Hintergrund.

Simon legte sein Schnitzmesser und das Stück Fichtenholz beiseite, an dem er wie jeden Morgen in stummer Konzentration gearbeitet hatte, und ging die paar Schritte zur Spüle, die in der schon etwas abgestoßenen Küchenzeile angebracht war. So sehr er sich auch anstrengte, er kam einfach nicht darauf, woher es stammte und was es bedeuten sollte, dieses Schimmern, dieses Seelenschuppern. Das einzige, was er auf eine ungefähre Art spürte – auch wenn er es noch längst nicht in Worte fassen konnte – war, dass es etwas Grundlegendes beschrieb. Einen Mangel, einen Verlust, der sogar das überstieg, was ihm in den vergangenen Monaten widerfahren war. Doch was sollte das sein? Er beugte sich vor und hängte seinen Kopf unter den Wasserhahn, ein Schwall Leitungswasser regnete in seinen Mund. Es war doch schon alles weg. Ihm fiel kaum etwas ein, das ihm seit der Trennung noch geblieben war. 

Er lief in den Flur, nahm die gefütterte Jacke, die Mascha ihm ganz am Anfang, vor fünf Jahren, zu seinem 29. Geburtstag geschenkt hatte vom Haken, und trat nach draußen. Oktoberkälte schlug Simon entgegen und legte sich in einem feuchten Film über sein Gesicht.