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23.01.2020, 11:03 Uhr
Renée Rauchalles
Krieg und Frieden 1939/1989
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Renée Rauchalles © Folker Schellenberg

Krieg und Frieden (8): Über die Pazifistin Constanze Hallgarten

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21 Zimmer hatte die Hallgarten-Villa in der Pienzenauerstraße 15, heute im Privatbesitz. Wenige Meter entfernt befindet sich die wiederaufgebaute Thomas Mann-Villa. © Renée Rauchalles

Die 137. Ausgabe der Zeitschrift Literatur in Bayern beschäftigt sich mit dem Themenschwerpunkt Krieg und Frieden. Constanze Hallgarten spielte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle als Frauenrechtlerin und Pazifistin. Im nachfolgenden Artikel schildert Renée Rauchalles deren Leben und Wirken in und um München in einem breiten geschichtlichen Kontext.

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Es war ein serbischer Student, der am 28. Juni 1914 in Sarajewo durch zwei tödliche Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau den Ersten Weltkrieg auslöste, der die bald darauf in den Krieg eintretenden Länder Österreich-Ungarn, Serbien, Deutschland, Russland und Frankreich in eine mörderische Vernichtungsorgie stürzte, an deren Ende rund drei Viertel der ehemaligen Weltbevölkerung beteiligt war. Dass am 4. August auch noch Englands Kriegserklärung an Deutschland folgte, erschütterte die am 12. September 1881 in Leipzig geborene Frauenrechtlerin Constanze Hallgarten (sie setzte sich für die Gleichberechtigung der Frau und deren Wahlrecht ein) zutiefst. Sie konnte nicht glauben, „[...] daß es möglich wäre, daß man ernsthaft auf Menschen - auf Deutsche - schießen würde [...]“.  Während der Kriegsbeginn in ganz Deutschland eine regelrechte Kriegseuphorie auslöste, (auch zahlreiche Intellektuelle und Schriftsteller meldeten sich als Freiwillige, Thomas Mann meinte in der Neuen Rundschau im September 1914: „Deutschlands ganze Tugend und Schönheit - wir sahen es erst jetzt - entfaltet sich erst im Kriege.") war für sie der Gedanke an Krieg unerträglich.
 
1900 hatte sie in Leipzig den elf Jahre älteren wohlhabenden Privatier Robert Hallgarten, promovierter Germanist und Jurist geheiratet (sein Vater Charles Hallgarten war ein vermögender Kaufmann und Teilhaber der Wallstreet-Bankfirma Hallgarten & Co.) und lebte seitdem mit ihm und ihren 1901 und 1905 geborenen Söhnen Wolfgang und Richard (genannt Ricki) in München in der Steinsdorfstraße 10. Durch die berufliche Position ihres Mannes ergaben sich interessante Kontakte zu Literaturkreisen. Ludwig Ganghofer und seine Frau, Rickis Paten, wohnten im gleichen Haus. Bei ihnen trafen sich Schriftsteller wie Rilke, Gerhard Hauptmann, Ludwig Thoma oder Ricarda Huch.

1910 zog die Familie nach München Bogenhausen in eine Villa im Herzogpark, die Robert Hallgarten vom Erbe seines Vaters erbauen ließ. In deren Mittelpunkt, einer Halle mit einigen tausenden Bänden bestückten Bibliothek, fanden Empfänge und kulturelle Festivitäten statt. Sie machten die Hallgartens in der Münchner Gesellschaft bekannt, deren Söhne ihren prominentesten Nachbarn und Freund, Thomas Mann, Onkel nannten.

Trotz des opulenten Lebensstils nahm Constanze Hallgarten schon vor dem Krieg soziale Missstände wahr und verfolgte politische Ereignisse, weshalb sie in ihren Kreisen als etwas exzentrisch galt. Als begabte Geigerin wurde sie ernst genommen (ihr Vater, Sohn eines bedeutenden Musikers, war Großkaufmann und Solo-Cellist), nicht jedoch in ihren politischen Ansichten und Aktivitäten, die Thomas Mann albern fand. Ludwig Thoma nannte sie 1921 im Miesbacher Anzeiger eine hysterische Jüdin (ihre Eltern, jüdischer Herkunft, konvertierten um 1889/90 mit ihren drei Kindern zum evanglisch-lutherischen Glauben).

Ja, sie war gegen den Krieg, dennoch beteiligte sie sich mit Kameradinnen vom Münchner „Verein für Frauenstimmrecht“, dem sie seit 1913 als Schriftführerin und Vorsitzende der Münchner Ortsgruppe angehörte, am Hilfsdienst für Kriegerfrauen und Mütter. Sie richtete in ihrem Haus eine Heimarbeitsabgabestelle für notleidende Frauen ein (zahlte Arbeitslöhne aus eigener Tasche), organisierte Kleiderspenden für die Front, bewirtete in ihrem Garten Verwundete und Offiziere. Und jeder, der wollte, konnte mittags in ihrer Suppenküche eine warme Suppe essen oder abholen.

Als im Frühjahr 1915 ein Aufruf aus Holland an Frauen aller Länder zur Teilnahme an einer Frauenkonferenz in Den Haag kam, fragten ihre pazifistischen Kameradinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, ob sie es wage mit ihnen zu fahren. Beide hatte sie durch ihre Mutter Philippine Wolff-Arndt, Malerin und Frauenrechtlerin (zog 1918 in die Villa Hallgarten, noch im Alter war sie mit Constanze in der Friedensbewegung aktiv) kennengelernt. Aus Rücksicht auf ihren Mann („wegen unserer gesellschaftlichen Stellung“) trat sie die Reise nicht an. Die „Internationale der pazifistischen Frauen“ nahm in Den Haag ihren Anfang. In München nannte sich der „Verein für Frauenstimmrecht“ nun  „Ortsgruppe des Internationalen Frauenausschusses für dauernden Frieden“.
 
Nach Kriegsende im November 1918 kam es in ganz Deutschland zu revolutionären unblutigen Umstürzen. Der Kaiser floh nach Holland. Kurt Eisner rief den Freistaat Bayern aus, dessen erster Ministerpräsident er wurde. Dass er unter anderem das Frauenwahlrecht einführte, begeisterte Constanze. Seine Ermordung am 21. Februar 1919 in München führte zur Ausrufung der Räterepublik und deren blutiger Niederschlagung.
 
Im Frühjahr 1919 fand in Zürich der zweite Frauenkongress statt (Hallgarten nahm teil), seitdem hieß der Internationale Frauenausschuss nun „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF). In München bildete sich unter dem späteren Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde die Ortsgruppe der „Deutschen Friedensgesellschaft“. Auf Bitte von Augspurg und Heymann übernahm Constanze deren Leitung. Als Vorstand verwaltete sie das Amt von 1919 bis 1933, ebenso wurde sie als einzige Frau in den Ausschuss der „Deutschen Liga für Völkerbund“ gewählt. 1921 nahm sie für die IFFF am Internationalen Frauenfriedenskongress in Wien teil.

Im Winter 1921/22 bildete sich aus den pazfistischen Organisationen das „Münchner Friedenskartell“, das Juni 1922 zum ersten Mal in einer öffentlichen Versammlung mit dem Apell „Nie wieder Krieg“ an die Öffentlicheit trat. Redner waren Quidde, für den IFFF Constanze. Ihre Rede veranlassten Mimi und Hans Pfitzner den Hallgartens wegen unvereinbarer Auffassung von Nationalgefühl die Freundschaft zu kündigen. Kurz darauf, bei einer Abendveranstaltung, verließ ein Schwager von Thomas Mann beim Anblick von Constanze dessen Haus. Obwohl kein Pazifist, reagierte Mann voller Zorn: „Diese Spießer ... Wenn Sie in Zukunft zu leiden haben oder verfolgt werden, Frau Nachbarin, kommen Sie zu mir - hier finden Sie immer eine Zuflucht.“




Gruß an die Mutter von Ricki (rechts) mit Klaus Mann um 1929 in Berlin. Klaus, der ebenfalls 1949 den Freitod wählte, setzte dem Freund mit seinem Essay Ricki Hallgarten - Radikalismus des Herzens ein literarisches Denkmal. © Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, P/a 1470

 
Ihre Kreise veränderten sich, sie ließ nun im Hause in der großen Halle Vorträge halten. 1922 fand sich dort zum ersten Mal die bayerische Prinzessin Ludwig Ferdinand Maria della Paz ein. Sie wird Constanze künftig bei ihren Aktionen finanziell unterstützen. Fortan besuchten sie sich gegenseitig. Besucht wurde sie allerdings auch am Morgen des Hitlerputsches, dem 9. November 1923. Die SA stürmte ihr Haus, wollte sie abholen, sie stand auf der „Schwarzen Liste“. Zum Glück hatte sie, weil sie vom Tod einer Tante erfuhr, schon um 8 Uhr das Haus verlassen. Ein schwerer Schicksalsschlag war ein Jahr später der Tod ihres Mannes. Kaum 50-jährig starb er nach einer OP aufgrund eines Krebsleidens.

Ihr Engagement für den Frieden ging dennoch weiter. Im Mai 1927 fand die erste Friedensausstellung im Asamsaal in der Sendlingerstraße in München statt. Für Constanze bedeutete sie eine Riesenarbeit, die ihr viel Kraft kostete, trotz der Vorarbeit der Lehrerin Marie Zehetmaier, die Materialien aus aller Herren Länder gesammelt hatte. Die Ausstellung, sie ging auch auf weitere Stationen im In- und Ausland, fand großen Beifall, aber auch Gegner.
 
Am 14. September 1930 stimmten sechseinhalb Millionen für Hitler. Hallgarten rückte ihm unwissentlich nahe, als sie 1931 ihre Villa vermietete und mit Sohn Wolfgang, dem Historiker und späteren Politikwissenschaftler, ihm gegenüber am Prinzregentenplatz eine Wohnung bezog. Mit der im selben Jahr gegründeten deutschen Sektion des „Weltfriedenbundes der Mütter und Erzieherinnen“ erreichte sie den Höhepunkt ihrer Friedensarbeit. Am 13. Januar 1932 organisierte sie zum Thema Weltabrüstung eine große pazifistische Veranstaltung der IFFF im Hotel Union in der Münchner Barerstraße. Nach der mitreißenden Rede der französischen Schriftstellerin und Pazifistin Marcelle Capy las Erika Mann einen von Constanze ausgesuchten Text mit dem Titel „Letzter Ruf“ und wurde dabei von der SA gestört, die gewaltsam eindringen wollte, doch das starke Polizeiaufgebot sicherte den weiteren Verlauf der Veranstaltung.

In den Tagen und Wochen darauf gab es Fluten von übelsten Schmähartikeln über den „Pazifistenskandal in München“. Hallgarten und Mann verklagten zwei Journalisten und gewannen den Prozess, wozu vor allem auch Capys Rede beitrug. Diese schickte sie an die „frühere Freundin“ Elsa Bruckmann (verheiratet mit Hugo Bruckmann, ihnen gehörte der berühmte Münchner Kunstverlag Bruckmann), die sich dadurch aber nicht „bekehren“ ließ. Sie war damals die beste Freundin und große Förderin Hitlers, der in ihrem Salon häufig zu Gast war, was dazu führte, dass viele ehemalige Besucher wie Hallgarten, Thomas Mann oder Rilke fernblieben. Hitler setzte sie später als Vorsitzende der noch heute bekannten Künstlervereinigung GEDOK ein, nachdem er die Jüdin Ida Dehmel entlassen hatte. Später sah sie ihren Irrtum ein.
 
Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übernahm, wurden alle pazifistischen Gruppierungen verboten, aufgelöst, führende Vertreterinnen in Schutzhaft genommen oder in Konzentrationslager gesteckt. Augspurg und Heymann waren zu dieser Zeit in Mallorca, sie kamen nicht mehr nach Deutschland zurück und verbrachten ihre letzten Jahre in Zürich. Aufgrund einer Warnung fuhr Constanze Hallgarten am 21. März 1933 nach Frankreich. Ihre 83-jährige Mutter und Sohn Wolfgang folgten ihr ins Exil - ohne Sohn Ricki. Der begabte, unkonventionelle und todessehnsüchtige Maler, der noch im Frühjahr 1931 mit Freundin Erika Mann eine 10.000-km-Autorennfahrt durch Europa unternahm (sie gewannen den ersten Preis), hatte sich am 5. Mai 1932 in Utting erschossen. Ein Schock für alle, über den die Mutter in ihrer im Pariser Exil verfassten Autobiographie nichts schrieb!

Die nächsten Jahre lebte sie unter großen finanziellen Problemen und Entbehrungen in Paris und in der Schweiz, zudem musste sie ihre kranke Mutter pflegen. Während ab dem 3. Juni 1940 deutsche Bomben auf Paris fielen, saß sie allein an deren Sterbebett (Tod am 4. Juni). Wolfgang war am 11. März 1937 in die USA emigriert, (nannte sich seitdem George W. F.). Nach langwierigen Visumsschwierigkeiten konnte auch sie, stark geschwächt vom Thyphus, ab Lissabon mit dem Schiff nach New York in die USA reisen, wo sie am 10. November 1941 in New York ankam. Wenige Tage später dann das glückliche Wiedersehen mit George in San Francisco und ein baldiges Treffen mit Thomas und Katia Mann (seit 1941 ebenfalls in Kalifornien).
 
Constanze Hallgarten lebte bis 1955 in den USA, wo sie sich erneut der Friedensarbeit zuwandte. Im Alter von 74 Jahren kehrte sie endgültig nach München zurück, zog Anfang der 60er Jahre in das Wohnstift Augustinum in München-Neufriedenheim, initiierte das Wiederaufleben der Münchner IFFF, den es heute noch gibt. Auch mit Erika Mann hielt sie Kontakt. In einem Brief vom 8. November 1965, unterzeichnet mit „Deine alte Tante Hün“ schrieb sie: „Ich kann Dir heute nur sagen wie gut es ist, Dich zu kennen und lieb zu haben und als Gesinnungsgenossin in die Arme zu schließen.“ In einem weiteren vom 20.9.1968 beklagte sie sich über ihr Alter von 87 Jahren. Sie konnte nicht mehr gut gehen, drohte zu erblinden. Kurz nach ihrem 88. Geburtstag beendete sie am 25.9.1969 (Erika Mann starb am 27. August 1969 in Zürich) mit einer Überdosis Schlaftabletten ihr Leben.