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31.05.2023, 11:02 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte
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Kleines Denkmal für den „Warschauer“. Eine literarische Reminiszenz von Harald Beck

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Der Schriftsteller Oskar Maria Graf (vorne, Mitte) mit Familie vor der elterlichen Bäckerei, ca. 1897.

In seinen Altmünchner Erinnerungen Vom Prinzregenten bis Karl Valentin aus dem Jahr 1966 stellt Ernst Hoferichter fest: „Nur die älteren Münchner werden sich noch an das Warschauer[1], diesen Leckerbissen aus Vorstadtbäckereien erinnern.“ Der damals erst fünfzehnjährige Verfasser dieser Reminiszenz auf einen in Vergessenheit geratenen Leckerbissen möchte berichtigen: Beim Bäcker Wagner an der Ecke Eulenspiegel- und Schneewittchenstraße in Waldperlach gab's Ende der Fünfzigerjahre neben runden Ananastörtchen, Granatsplittern und Amerikanern durchaus noch die dunkelbraunen Warschauerschnitten zu kaufen und noch in den Achtzigerjahren waren sie in einer Bäckerei in Giesing erhältlich. Freilich, das unaufhaltsam blühende Wirtschaftswunder hat den Restekuchen zuletzt doch endgültig „derbröselt“. Der in der Rezeptur verwandte Granatsplitter allerdings hat die Zeiten überdauert. (Demilitarisierende Umbenennungsversuche wie Hackstockkratze, Punschberg, Bärenhaufen, Bergspitze oder Schokospitz haben sich nicht behauptet.)

Wie beliebt der Warschauer, meist ein Blechkuchen, vor allem bei Münchens Kindern war, zeigen die folgenden Ausschnitte aus überwiegend literarischen Texten:

Ein frühes Beispiel aus dem Jahr 1907 findet sich in Karl Borromäus Heinrichs Roman Karl Asenkofer: Geschichte einer Jugend:
„Warschauer Brot“ für fünf Pfennig war uns ein hinreichender Genuß. Das aßen wir oben in den Isarauen, wo uns die schlichte Natur liebevoll belächelte; wir aßen und lachten uns selber zu und freuten uns der Armut.

Der Illustrierte Sonntag: das Blatt des gesunden Menschenverstandes berichtet 1930, was Kinder mit Vaters „Sonntagsfünferl“ anstellten:
Bibs, der gefräßigste, rannte damit zum Bäcker und kaufte „Warschauer“. Auf den Vorhalt seiner Schwester, daß dieses Warschauer doch eigentlich das „Zusammengescharrte“ der verschiedensten Abfälle sei, meinte Bibs: „Aber schwer is und a Mordstrum um a Fünferl.“

Im gleichen Jahr heißt es in der Geschichte „Glatteis“ in Tandlmarkt von Julius Kreis:
Für dieses Zehnerl kaufte man sich in der Lindwurmstraße um ein Fünferl „Warschauer“-Brot.

Otto Ehrhart erwähnt das Warschauer Brot ausführlich in seinem Jugendroman Bembes macht sich selbständig (1937):
Die Fritschin war sehr freundlich. Sie hatte geseufzt und gesagt, daß es sie freue, ihn wieder einmal zu sehen. Es sei ihr schon aufgefallen, daß er keinen Zopf mehr bei ihr gekauft habe, und das Warschauer Brot, von dem er doch immer gerne gegessen habe, bliebe jetzt oft auch liegen. Ob es ihm denn nimmer geschmeckt habe?
Er hatte geantwortet, daß ihm der Zwetschgendatschi lieber sei und ob ihr Warschauer Brot nimmer so gut wäre, daß es vielleicht daran liege.
„Oh!“ hatte sie gesagt, „es ist viel besser noch als früher. Wir geben uns doch die größte Mühe und tun die besten frischen Sachen hinein! Dann hatte sie schnell eine Scheibe heruntergeschnitten und ihm angeboten.

Bei Siegfried Sommer, dem Münchner Stadtchronisten der Nachkriegsjahrzehnte, heißt es 1957 im Unverwüstlichen Blasius schon voll Nostalgie:
Zusammen mit den Tonnenpferdln, den alten Laternenanzündern, den Hofsängern und dem Warschauer – der uranschweren Fünferltorte – ist auch der Münchner Gassenbub fast verschwunden.

Johannes R. Becher, der die ersten zwanzig Jahre seines Lebens (1891-1910) in München wohnte, nennt in seinem autobiographischen Roman Abschied von 1960 eine stadtbekannte Bäckerei als Quelle des Labsals:
Ich kaufte beim Seidlbäck ein riesiges Stück „Warschauer“. Alles auf der Welt schien zehn Pfennig zu kosten.

Als Kuriosum sei erwähnt, dass das Stadtarchiv München Unterlagen der Nahrungsmittelpolizei vom Juli 1914 besitzt, die das Ergebnis der von einem Kunden der Hofbäckerei Seidl beantragten Untersuchung eines „Warschauerbrots“ dokumentieren. Die zuständige königliche Untersuchungsanstalt unter ihrem Direktor Professor Sendtner kam zu dem Ergebnis, dass an dem Warschauer Brot „weder hinsichtlich seiner äußeren Beschaffenheit noch in Bezug auf Geruch und Geschmack anormales wahrgenommen werden [konnte]. Ein Grund zu einer Beanstandung ist somit nicht gegeben.“

Es wäre falsch, aus den vorangegangenen Beispielen den Schluss zu ziehen, dass der Warschauer ausschließlich ein Münchner Kindl war. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren war er ein beliebter Arme-Leute-Kuchen in Berlin.

So äußert sich Alfred Kerr abfällig in seinen Gesammelten Schriften von 1920:
[…] was Berlins Jöhren „Warschauer“ nennen, ein Gemeng' von scheußlichen Kuchenresten.

Franz Lederer erzählt 1927 in Berliner Humor: Sprache, Wesen und Humor des Berliners:
Hänschen schwärmte für „Warschauer“, der in Brotform in einer Ecke des Schaufensters lag. Was „Warschauer“ eigentlich war, habe ich nie ermitteln können. Brot und Kuchen durcheinander gebacken, aber auf der Oberfläche schön glasiert mit Zuckerguß.

Aus einem Artikel für die Volkspost 1928 über das Berliner Armenasyl „Palme“ erfahren wir:
Höflichst bot er [ein Insasse] mir „Warschauer“ an. Was denn dies sei? Ein ungemein billiger Kuchen, den die Bäcker eigens für die Asylisten backen und den man nur in der Umgebung der „Palme“ morgens und abends zu kaufen erhält. Aus Tortenresten, Kuchenbrocken, altem, aufgeweichten Brot und Schrippen (Semmeln) verfertigt man das  s e h r  süß schmeckende, beliebte Zeug. Besonders die Tippelschiksen (wandernde, verkommene Weiber) essen den „Warschauer Kuchen“ gern und in Mengen.

Bemerkenswert früh, im Jahr 1899, findet sich eine metaphorische Verwendung des Warschauers in einer Theaterkritik zu einem Stück des zurecht vergessenen Heinrich Goldschmidt alias Heinrich Faber:
Da er jedoch die derbe Possensituation nicht auszubeuten vermag, so stopft er eine Fülle verworrener Reminiscenzen aus den Possen Anderer in das Stück hinein, backt aus aufgeweichten Brodresten aller Art einen dramatischen Warschauer Kuchen.

Wäre der Warschauer als Restekuchen nicht schon damals weithin bekannt gewesen und als dubioser Mischmasch mit Spott bedacht worden, hätte der Kritiker die zum Bildungsbürgertum gehörigen Leser der Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben mit dieser sarkastischen Bemerkung gewiss vor ein Rätsel gestellt.

Die früheste bislang bekannte Erwähnung aus dem Jahr 1894 lässt vermuten, dass der Warschauer aus Schlesien kam.[2] Eine Prozessakte vom Landgericht in Gleiwitz stellt fest:
Nach der Beweisaufnahme ist auch nur gute alte Backwaare [!] zur Herstellung sogenannten Warschauer Kuchens benutzt worden. Ferner konnte die den Angeklagten zur Last gelegte Unsauberkeit in keinem einzigen Falle nachgewiesen werden.

Mit dieser beruhigenden Bemerkung des Gerichts schließt sich der Kreis zum einleitenden Zitat von Ernst Hoferichter, der allerdings die Hygiene bei der Herstellung des „Leckerbissen aus Vorstadtbäckerein“ mit einem beunruhigenden Nachsatz in Frage stellt:
Es [das Warschauer] bestand aus Brot- und Kuchenabfällen und manchmal konnte man aus diesem Gebatz auch einige Füße jener Backstubeninsekten ziehen, die man „Schwaben“ und „Russen“ nennt.

Wahrhaft warschauerlich!

 

[1] Hoferichters Neutrum „das Warschauer“ geht wohl auf die Bezeichnung „Warschauer Brot“ zurück, der gängige maskuline Warschauer auf das Anhängsel Kuchen. 

[2] Dies wird bekräftigt durch eine Bemerkung in Alfons Hayduks Hausbuch des schlesischen Humors (1965): „Die Breslauer Vorstadtbäcker buken aus Kuchenresten und altbackenen Semmeln eine reichlich überzuckerte Art Kranzkuchen, Warschauer genannt. Es war der billigste Kuchen, der sich besonders bei der Schuljugend besonderer Beliebtheit erfreute.“

 

Der Verfasser dankt Herrn Anton Löffelmeier vom Stadtarchiv für eine persönliche Erinnerung und freundliche Unterstützung.