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18.10.2023, 09:00 Uhr
Harald Beck
Text & Debatte
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© Stadtarchiv Dachau

„Das Geld im Batz“. Otto Ehrhart zum 130. Geburtstag

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Volkspark Rosenau-München um 1903 © Stadtarchiv München

Heute vor 130 Jahren, am 18. Oktober 1893, wurde der Schriftsteller Otto Ehrhart in Memmingen geboren. Zu seinen bekanntesten Werken zählt der 1937 bei Piper erschienene Jugendroman Bembes macht sich selbständig, der bis in die späten 1950er-Jahre in mehreren Auflagen erschien: Die authentisch vermittelte Sichtweise eines am Stadtrand von München Heranwachsenden in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ist nicht nur Lausbubengeschichte, sondern auch Zeitdokument. Bembes macht sich selbständig ist eine lose Episoden-Sammlung um Bembes und seine zwei Freunde, die Brüder Hans und Reinhard, die alle in die 6. bzw. 7. Klasse einer Schwabinger Oberrealschule gehen. Im Folgenden druckt das Literaturportal Bayern ein Kapitel aus Ehrharts Jugendroman ab, das das Milieu, in dem er um die Jahrhundertwende aufwuchs, humorvoll schildert: „Eine Geschichte ohne große Spannungskurve. Der Münchner Straßendreck wird an den Stadtrand gefahren und dort ausgekippt, und die Jungen wühlen sich gerne durch den frischen Dreck, um Münzen und andere Schätze zu finden.“ (Thomas Rau)

*

Das Geld im Batz

[…]

Die Anna wurde heute mit dem Essen nicht fertig. Es gab Dampfnudeln, die er ohnehin nicht so gern mochte. Die andern hatten schon zweimal gepfiffen, weshalb er schon ganz nervös auf seinem Stuhl herumrutschte. Aber sie merkte wenigstens nicht, daß er ein Paar ganz alte Hosen angezogen hatte und barfuß in den Schuhen steckte. Endlich war man mit dem Essen fertig.

Er fuhr aus dem Haus, lief flüchtig die Schleißheimerstraße hinunter, auf der die Freunde schon weit voraus trabten. Sie hatten keine Zeit mehr zu warten. Einmal nur drehte sich der Hans im Laufen herum und brüllte: „Lauf zu! D’Batzwagen kemmen schon!“

Und richtig, drunten hinter der Schusterschen Gärtnerei bogen die hochgebauten, zweirädrigen Eisenkarren bereits um die Ecke, die den in den Straßenablaufsieben Münchens gesammelten Straßendreck – den „Batz“ – in ihren Behältern sammelten, um ihn in die Versatzgruben zu schütten. Einige dieser Karren standen schon da und entleerten ihren Inhalt platschend in die Tiefe.

Die Schustergrube war die Goldmine der Oberwiesenfelder. Sie kamen sich hier wie echte Goldwäscher vor. Nur daß das Geschäft viel dreckiger war. Sobald die Kutscher den Inhalt der Wagen, die grauflüssige, stinkende Masse über den Hang hinuntergeschüttet hatten, stürzten sich die Buben hinein und begannen, knietief im Dreck stehend, den Stoff zu durchwühlen. Sie machten da oft die seltsamsten und manchmal sogar ganz wertvolle Funde. Neben Schussern und Knöpfen waren schon Uhren, Ringe, Geldbörsen und fast immer auch einzelne, auf der Straße verlorene Münzen gefunden worden.

Heute war Vollbetrieb. Sie hätten schon ein paar Schwabinger vertrieben, riefen ihnen die andern zu, die bereits eifrig, mit hochroten Köpfen im Batz wühlten. Zwei Zehnerl wären auch schon hergegangen.

Als nun eben ein neuer Batzwagen um die Ecke bog, und da sich hier eine besonders günstige Stelle zum Schürfen bot, weil der Untergrund fester, weniger steil und von flachen Mulden durchzogen war, in denen sich schwere Gegenstände leichter verfingen, bestürmten die drei den Kutscher: „Sie Herr, bittschön, lassen’s ihren Batz da abi!“ Welchen Wunsch ihnen der freundliche Mann auch gerne erfüllte. „Wo is er denn her?“ fragte Bembes. „Aus der innern Stadt!“ – „Au fein!“ – Das war Edelware. In den äußeren Stadtvierteln ging erfahrungsgemäß viel weniger als im Stadtzentrum verloren.

Hoffnungsvoll stiegen sie in den Batz hinein, und es dauerte nicht lange, da hatte Hans schon ein Zehnerl gefunden. Reinhard fand eine große, schöne Glaskugel, in der ein weißes Lamm mit Fahne eingeschlossen war. Und dann gingen eine Weile nur Knöpfe, Haarnadeln und ähnliches Gelump her. Endlich spürte auch Bembes etwas Rundliches, Hartes. Er wischte es an seiner Hose ab, damit es sich in seiner ganzen, vollen Schönheit zeige. Begeistert fing er zu tanzen an, bis es ihn fast in den Schlamm haute: „Hurrah! Herrschaftsaxen! I hab‘ a Markl g’funden!“

Die andern wollten es gar nicht glauben. „Erst sehen lassen!“ – „Uih! Da hast aber Schwein g’habt!“

Die Grube stank bestialisch in der heißen Mittagsglut. Aber die Buben störte das nicht. Verbissen und bald zum Hals voller Dreck wühlten sie im Unrat. Sie waren ganz still. Ab und zu nur fuhr einer mit dem Glücksschrei hoch, hielt ein Kupfer oder Nickelstück vor sich hin, worauf die andern um so eifriger zu wühlen begannen. Der Schweiß tropfte ihnen von den Stirnen. Und dann geschah das Unglaubliche, daß dieser heute vom Glück so begünstigte Bembes einen Geldbeutel fand, der vier Mark und fünfzig Pfennige enthielt. Das war ein Geld, Brüder, ein Geld!

Nachdem sich die Erregung gelegt, schrie Bembes großmütig seinen beiden Freunden zu: „Wißt’s was? Jetzt geh’n mer in die Rosenau. I zahl a Maß Bier und jeder derf zwoa Maurerlaibel oder Pfennigmuckl dazu essen!“ Sie stürmten davon. Neidisch sahen ihnen die anderen Buben nach. In einer Wasserlache wuschen sie sich die Füße ab und bald saßen sie im schattigen Wirtshausgarten. Sie fühlten sich wie Männer. Aus der einen Maß wurden drei. Sie redeten immer lauter und sangen alle Lieder, die sie von den Schweren Reitern kannten. Gar zu gern hätten sie noch eine Maß Bier getrunken, aber die Kellnerin gab ihnen keine mehr und sagte: „Jetzt ist’s g’nug! Geht’s heim und wascht’s euch. Ihr Stinker sauft’s ja, daß es eine Schand ist!“

Am Garteneingang zogen sie sich noch für ein Zehnerl zehn Zigaretten aus dem Automaten. Sie schmeckten ihnen gar nicht. Aber jeder sagte, daß es pfundig sei. Bis es dem Bembes auf einmal schlecht wurde. Er lehnte sich an den Zaun und übergab sich. Und der Reinhard sagte das sei gemein, weil er sowas nicht sehen könne und jetzt auch speien müsse. Bloß der Hans blieb fest, weil er seine Zigarette heimlich ausgelöscht hatte.

Ein Laternenanzünder, der vorüberkam und hineintrat, sagte zu ihnen, daß sie Mistfackel seien. Und der Hans fragte ihn: „Warum? – Bin i dös vielleicht g’wen?“ Im Grunde war ihnen jetzt aber alles gleich.

Kleinlaut schlichen sie die Treppe hinauf, und die Anna schlug die Hände zusammen, als sie ihren Zögling sah.

„Um Gotteswillen, wie schaust du denn aus? Du stinkst ja wie ein faules Aas!“

„Anna – hupp – liebe Anna – hupp! Bitte verzeih. I bin in d’Schustergruben g’fallen. Aach, mir ist sooo schlecht.“

„Dann mach, daß du ins Bett kommst! Aber zuerst gehst du ins Bad!“

Bembes folgte. Er war ganz weich. Er taumelte ins Badezimmer. Das Wasser tat ihm gut. Denn zuletzt hatte er sich wirklich selber fast nimmer riechen können.

Nachher war es wundervoll im Bett zu liegen und wie ein Kranker mit Kamillentee und Wurstbroten gepflegt zu werden. Die Anna war schon fein. Plötzlich fuhr er auf und horchte.

In der oberen Wohnung war ein wohlbekanntes Geräusch zu hören. Reinhard kam zuerst dran und jetzt der Hans. Und er dachte, es is gemein, daß die Väter ihre Buben immer hauen müssen! Und er war froh, daß er augenblicklich keinen hatte.