„Ein neues Gedicht“. Von Nikolai Vogel

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Foto: Nikolai Vogel

Nikolai Vogel (* 1971 in München) lebt in München als Schriftsteller und bildender Künstler. Er studierte Germanistik, Philosophie und Informatik an der LMU und war Finalist beim Open Mike 2004 sowie beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2005. Darüber hinaus war er Stipendiat der Autorenwerkstatt im Literarischen Colloquium Berlin (2005), Preisträger beim Bayerischen Kunstförderpreis (2007), Projektstipendiat für Bildende Kunst der Stadt München (2008) und Gewinner im Wettbewerb „Letʼs perform Kunst im öffentlichen Raum“ des Kulturreferats München (2012). Zuletzt erschien sein 2520 Verse umfassender Gedichtband fragmente zu einem langgedicht im gutleut Verlag (2019). Vom 18. März bis 26. April 2020 las er in quarantäneähnlicher Zeit 40 Tage lang seinen noch unpublizierten Roman Angst, Saurier ein und veröffentlichte die Lesungsvideos täglich auf YouTube.

Mit dem folgenden Anfang aus seinem neuen Gedichtzyklus beteiligt sich Nikolai Vogel an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge des Projekts finden Sie HIER.

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Ein neues Gedicht

 

[Teil I]

 

in ein Heft schreiben

ein Buch schreiben

anfangen zu schreiben

oder schon lesen

immer weiter lesen

auf der Höhe der Zeile

die Sätze, die Worte, die Verse

die Ferse aufsetzen

tastend zum nächsten

Schritt, der auf Schritt folgt

schon wieder so haltlos

als bleibe Halt

ein leeres Versprechen

unerreicht, unerreichbar

der Blick zurück

auch nur ein Voran

stetig mit Lücken

keine Zeit reicht

weiter als Gegenwart

und kein Beginn trägt

ohne getragen zu werden

macht es das einfach

nicht nur für einmal

die Dinge für später

die aufgestaute Erwartung

Wiederholung, Erholung

das Neue zunächst unbemerkt

wird dann erst gefeiert

wenn es keines Muts mehr bedarf

kommentieren, vergleichen

der erste Eindruck kommt nicht weit

das Begehren hat er geweckt

von allen Seiten betrachtet

kein Zugang, nur Oberfläche beleckt

und doch dieses Echo, Glutkern

getrieben, sich zu verbrennen verlangen

da muss noch mehr sein, so eine Hast

so entfernt es sich nur

wo denn jetzt hin

wie umkehren

um die Umwege geht es

jeder Anfang ein Ende

ein Umweg das All, der Urknall

um dem Nichts ein Schnippchen zu schlagen

können wir das

sind wir dafür geboren

auf Umwegen in den Tod

und Ausweg nie, nirgends

wofür also all die glatten Lebensläufe

diese geradlinigen Karrieren

Tage geplant, Terminkalender gefüllt

so viele Aufgaben, die keine sind

das kann jetzt auch Aufgeben heißen

Kapitulation, Erschöpfung, Besinnung

haben wir die Welt mit Arbeit zugepflastert

und die Erfindung der Freizeit

ein Bonbon, an dem sich viele verschlucken

weil sie gefüllt werden will

mit Tätigkeit, mit Terminen

leicht ist das nicht

die Lektüre vergessen

die Gedanken

weiter gedacht

Abschweifung, Abzweigung

was ist das für ein Ort

in meinem Kopf

so viel Raum

so viel Platz Dinge zu verlegen

zu vergessen nur fast

alles Ablage

das Ordnungssystem unbekannt

Einfall

sich das Wort auf der

Zungenspitze zergehen lassen

oder die zähen Ängste

wie wird man sie los

haben sie uns schon vor der Geburt

besiedelt, beschrieben

aber linear ist das nicht

so vieles, an das anzuschließen wäre

die Sinne ein Fächer

entfachen die Welt

nur wie durch Spitze

Schleier, Vorhang

mit den Jahren das Muster

verstärkt bald ein Gitter

dass man da noch durchsieht

man, wann hat das angefangen

das ist schon das Muster

 

 

[Teil II]

 

der Abstand, aus dem du heraus ich sagst

können wir daran rütteln

fremd ist nur das

was ich mir zu eigen machen will

in erster Linie also

ich selbst

von außen betrachtet

von wo denn auch sonst

der Innenraum liegt hinter den Augen

da kann ich mich drehen wie ich will

und du

drehst du dich mit

brauchen wir einen Fluchtpunkt

nicht unbedingt Zentralperspektive

wie Entfernungen messen

der Anschein von Nähe

ich liebe dich sagen

der Blick und unsere Hände

und nicht über Bedeutung nachdenken

so eine Weite um uns

dass das bleibt

beteuern, beschwören

die Worte wie ein in den See geworfener Stein

und die Kreise breiten sich aus

und entkommen der Fläche doch nicht

nachsinnen, versinken

den Körper verlassen

nicht wir, sondern unsere Sätze

greifen nach uns und den Dingen

und nach der Zeit

nachholen, nachbilden

die Vorstellungen kommen

im Abgleich, Überlappung

Benanntes, Erfahrung

dass das nicht für sich spricht

was konkret werden kann

eine Aussicht, ein Fenster

stehst du davor, bist im Bild

oder schaust du raus

was siehst du

der Zauber der Ankunft

die ersten Seiten

liegt alles so frisch da

oder eine Rückkehr

das Vergangene miterhalten

die Wege erneut

aufgespannt die Sehnsucht

ist alles gesagt

noch mal alles sagen

die Kunst ist Wiederholung

jetzt formuliert

aus der Zeit gehoben, ein Stück

nicht überdauern, sondern andauern

Anschlüsse suchen und prüfen

ins Individuelle gesprochen

aus einer Gemeinsamkeit

die Venus von Willendorf

das Geschlecht, Wachstum, Generationen

die Erste sein, die Letzte sein

Evas Bauchnabel

ein Abschnitt der Geschichte

jede und jeder von uns

das Schreien, Luftholen

dass Luft da ist

Atemzug, Puls

ein Mensch geworden woher

in diesen sich drehenden Räumen

wo Innerstes und Äußerstes sich immerzu weiter öffnet

die subatomare Struktur und der Umfang des Alls

weit gereistes Licht, das bei uns eintrifft

und wie Licht sich so lange hält

Perspektivenwechsel ständig, mal Einstein, mal Freud

Formeln und Sätze, auch auf Klatsch Appetit

wer mit wem und wer nicht mehr

Krankheit, Gefängnis, ein Unglück, ein Unfall

zu Geld gekommen, weggezogen, verstorben

weißt du noch, wie der ausgesehen hat

und sie hat doch immer

klicken, wischen, umblättern

Fingerfertigkeiten, Mnemotechnik

plötzlich wiedererinnert

unvermittelt, woher kommt das jetzt

war doch gerade noch

Gedankensprung, bin das ich

oder die Umgebung, Auslöser, Schnappschuss

die Haut auf den Ellbogen

Kniekehle, Adergeflecht

über den Körper nachdenken

im Körper nachdenken

 

 

[Teil III]

 

Körperlichkeit, ewige Werte

Wahrheiten, gelernte, erfahrene

und die Lüge, gesellt sie sich gleich dazu

einen Vorteil verschaffen

oder den Kopf aus der Schlinge

sind die Redensarten so schnell zur Hand

eine Schwierigkeit, Sätze anders zu sagen

die Sätze nicht nur neu formulieren

vielmehr geht es darum, neue Sätze zu wagen

auf die Waage zu legen, was hat denn Gewicht

die Freiheit zu denken, sie hängt ab von den Worten

und muss sich auch von den Worten befreien

die Obertöne oder Basso continuo

sich tragen lassen und doch den Absprung

nicht verpassen, zu langes Zögern

verlegt alles auf Schienen

geschlagene Schneisen, Wege, Transport

kein Aufenthalt, keine Flucht, kein Entzücken

die gefundene Bleibe mit Sicht

und jeder Tag neu und vertraut

Atembewegung, Verdauung, der Schlaf

nein, das Idyll ist verloren, längst

an eine Zukunft, die nicht wird

ausgedacht, was auch immer ausdenken heißt

bleiben wir bei den Tatsachen

Tatsachen, die so oft Tatorte sind

Tortenstück, Filet und der Rest vom Kuchen

nicht mehr der Rede wert, längst gegessen

einverleibt, vermessen, Zaun drum

in Besitz nehmen, Besitz nehmen

oder das Leben, Grabstein, verscharrt

Schlagbaum, die Grenze geschlossen, Nation

national, von Geburt, Erbrecht

wie in der eigenen Kotze ersticken

wegschauen, geht mich nichts an

kannst du nicht mal was Positives

Badeurlaub und weiter draußen versinken die Menschen

das hält alles nicht ewig

sogar der Sand ist bald alle

nimm dir vielleicht noch eine Schaufel voll mit

dass etwas übrig bleibt fürs Spiel

hast schon an den Burgen gesehen, wie vergänglich das ist

ein, zwei Wellen Zeit drüber

die Form löst sich auf

andere Kinder können morgen von vorne beginnen

so lange wir etwas übrig lassen

womit noch etwas zu beginnen ist

es fehlt an so vielem

und doch nirgends Platz

die Stapel um uns herum

die saugenden Apparaturen

versorgen uns rundum mit Bildern

ein Stachel im Fleisch unserer Neugier

Widerhaken gesetzt in Gefallsucht

Selbstgefälligkeit, gespreizt und gespiegelt

im Bild ich

im Bild ich vor dem Rest der Welt

wo ist sie hin, die alte Langeweile

die Langeweile von früher, Schulnachmittage, Zeitlang

versteckt sie sich jetzt hinter den Dingen

Bildhintergrund, Dauerpräsenz

eine Drehbühne, Selfie

nicht mehr mir ist langweilig

sondern ich bin langweilig

also schneide ich Grimassen

auswählen, welches Ich hält

und gerinnt immer mehr zum Ausstattungsstück

stolz auf die tolle Umgebung

stolz auf das, was es trägt

Ich ist eine Marke

Ich ist ein Versprechen

uneinlösbar, unerlöst, unerhört

wieder der Stein, der sinkt

und du siehst nur Kreise

je größer sie werden, desto weniger bleibt

wie lange noch, die Strömung der Zeit

sie nimmt uns nur ein Stück mit

und nirgends ein Ufer

aber von wo aus gesprungen

wie also hierher gekommen

an genau diesen Moment

im Text jetzt gleich mehrmals

in die Zeit gesetzt

für jede Lektüre

das Schreiben so ein stiller Vorgang

eine Art tastendes Lesen

ein Vor- oder Nachsprechen

formen die Worte das, was schon da war

oder bilden sie es erst aus

 

 

[Teil IV]

 

Wahrnehmung, Vorstellung, Denken

wie das ineinandergreift

wie es sich gegenseitig befeuert

kaum mehr auseinanderzuhalten

dieser Zusammenhang, der Realität heißt

ungleichzeitig gestartet, Distanz unbekannt

den Anfang hat niemand erlebt

einen Zieleinlauf gibt es nicht wirklich

also lass dich ruhig überholen

laufe dem Tod nicht nach

nach dir das Leben, nicht das Grab

nach mir das Leben, nicht das Grab

wie lange noch, wir wissen es nicht

und wenn im All kein Leben wäre

nicht mehr, noch nicht, nie mehr

wäre kein Grab, kein Kopfzerbrechen

keine Trauer und Angst

keine Liebe, Erregung

keine Frage

die Antwort auf alles

wenn das vorbei ist

als wäre es nie gewesen

sind die Toten schon da

das Relative ist das Absolute

das All überall

das All ist der Fall

Zufall oder Bestimmung

zersetzt sich, bildet sich neu

wir bereisen nur dieses Abseits

noch ist alles so groß

die Blicke, die wir werfen

auch wenn sie immer weiter reichen

hinaus, verlängert, vergrößert, verstärkt

sie fallen auf uns zurück

wir schauen uns an

sehen wir, wie es uns geht

diese aufrecht gehaltene Fassade

fallen lassen

diese Unnahbarkeit

und was alles weggesperrt ist

in dunklen Tresoren

gestapelte Werte, Liegenschaften

als könnten wir damit

als gäbe uns das

die Schlüssel vergessen

haben uns längst ausgesperrt

in die Bildschirme und Speicher

eingesogen unsere Sehnsucht

wir aber bleiben außen vor

oder bleiben zurück

als Abklatsch unserer Porträts

Selbstbildnisse in denen das Selbst sich verfestigt

haben die Spiegel endgültig die Macht über uns

hat Jahrtausende gedauert und jetzt

ist es so schnell gegangen

sehen uns zu, wie wir verschwinden

aus dem Raum geholt, in den ich gestellt bin

hältst du mich jetzt auch in der Hand

unterhalten wir uns in Gedanken

glotzt du mich nicht nur an

und ich schaue ins Leere

es formt sich dennoch

es geht gar nicht anders

die Erinnerungen, die Kombinatorik

und das, was kommt, einfach so

dass was kommt, einfach so

nichts Besonderes scheint es

dann eine unerhörte Begebenheit

im Wandschrank versteckt

dem Wahnsinn verfallen

und kommt jetzt ans Licht

das Manuskript aus der Schublade

worin es nie lag, oder woran

ohne Zweifel wäre es witzlos

denke erst gar nicht daran

das alles festlegen zu wollen

das alles auslegen

der Stellenkommentar bleibt in Bewegung

die Scheine hinblättern, Spielhölle, Striptease

wann aufhören, wie viel noch

abgebrannt, blank, Hose runter

die Visiere, Schutzschilde, verspiegeltes Glas

zwischenmenschlich und was das heißt

Blümchensex, Natursekt, Prüderie

wo du hinfasst mit deinen Blicken

warum uns dieser Körper so interessiert

eingeschrieben in jede Zelle

wenn das alles Zellen sind

sind wir dann der Knast