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10.10.2018, 23:19 Uhr
Stefan Wirner
Text & Debatte

Die Schatzkammer von Metten: ein Juwel für Bücherfreunde

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Kloster Metten, 2006

Für seine Klosterbibliothek ist Metten weithin bekannt. Doch der Ort an der Donau birgt noch ein anderes Juwel für Bücherfreunde.

Es gibt Zeiten, da scheint einem das Leben ein einziger langer Arbeitstag voller Anstrengung und Entbehrung zu sein. Belanglose Wochen folgen stetig aufeinander, alles fällt einem schwer, nichts wird einem geschenkt. Man fragt sich: Soll das alles sein? Doch dann, eines Tages, beschenkt einen das Leben wie aus heiterem Himmel und offenbart sich in all seiner Großzügigkeit.

Mir widerfuhr das damals, als ich mit meiner Freundin zusammenkam. Wir waren über beide Ohren verliebt und genossen jede Sekunde der gemeinsamen Zeit, jeder Abend schien uns wie ein ausgedehntes Wochenende, jedes Wochenende wie ein langer Urlaub am Meer. Wenn man lange alleine gewesen ist, weiß man das Glück zu schätzen.

Nach einiger Zeit fuhren wir erstmals gemeinsam nach Metten an der Donau, wo die Mutter meiner Freundin wohnt; ihr Vater ist bereits in den 1990er-Jahren gestorben. Es war ein herzlicher Empfang da am Rande des Bayerischen Waldes, der mich mit seinem mystischen Blau von jeher angezogen hat. Und bald erfuhr ich mehr über den verstorbenen Vater. Er war ein Bücherfreund und eifriger Sammler gewesen. Wenn man mit ihm an einer Buchhandlung oder an einem Antiquariat vorbeigekommen sei, sei er sofort hinein, um sich anschließend stundenlang darin aufzuhalten, nichts habe ihn davon abbringen können. Danach sei er jedes Mal mit einem Stoß an Büchern herausgekommen. Das Ergebnis seiner Leidenschaft ließ sich im Wohnzimmer bewundern, wo mehrere Regale mit gesammelten Werken großer Dichter standen.

Aber das war nicht alles. Denn meine Freundin verriet mir, dass im Keller des Hauses noch eine weitere Bibliothek zu finden sei, und sie führte mich nach unten. Mir schien, ich betrat ein vergessenes, längst untergegangenes Reich, ja, so musste sich Heinrich Schliemann gefühlt haben, als er den Schatz des Priamos entdeckte. Entlang der Wände des großen Kellerraums standen mehrere Regale mit unzählbar vielen verstaubten Büchern. Es gab ein ganzes Regal nur mit linguistischen Werken, ein anderes mit religionsgeschichtlichen, da waren Abteilungen für Philosophie, Psychologie und Anthropologie, hier fanden sich Griechenland und das alte Rom, es gab moderne Sozialwissenschaft, Fremdsprachliches, Lyrik, alles, was das Leserherz begehrte.

Benedictiner-Abtei Metten bei Deggendorf; von Westen, Stahlstich um 1880

In den nächsten Tagen vergrub ich mich tief in dieses zum Leben erwachte Reich, sprang von einem Werk zum anderen, folgte aufregenden Spuren und Querverbindungen und vergaß darüber die Zeit. Ich traf auf den großen Walter Muschg und die Schrift Die Zerstörung der deutschen Literatur, seine Totenrede auf die Literatur unter dem Nationalsozialismus, ich fischte Verführtes Denken von Czeslaw Milosz heraus, seine ironische und treffende Charakterisierung des Intellektuellen im Stalinismus (ein Buch, das man in den Schulen lesen sollte), vertiefte mich in Erwin Rohdes Psyche – Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, recherchierte in Abriss der Geschichte antiker Randkulturen von Barloewen und nahm Bachofens Mutterrecht zur Hand. Mannigfaltige Verzweigungen taten sich auf. Vom Kult der Mayas führte ein Weg zu Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, mit Ludwig Marcuse war es ein kleiner Spaziergang zu Sigmund Freud, über Joris Karl Huysman stieß ich auf den mir bis dahin völlig unbekannten katholischen Schriftsteller Marcel Jouhandeau.

Überhaupt die erzählerischen Werke! Hier standen Fluß ohne Ufer von Hans Henny Jahn, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Musils Mann ohne Eigenschaften, es gab eine weißblaue Ecke mit Herbert Achternbusch, Oskar Maria Graf und Marieluise Fleißer, daneben eine Gesamtausgabe von Joseph Roth und mehrere Bände Adalbert Stifter. Hier entdeckte ich auch Franz Werfels Die 40 Tage des Musa Dagh, das vom Völkermord an den Armeniern handelt und in der Gegend von Aleppo spielt, wie aktuell und tragisch!

Jede Minute, in der es mir möglich ist, verbringe ich seither während meiner Besuche in Metten in dieser Schatzkammer. Es hat kaum Sinn, all das aufzuzählen, was mich hier beeindruckt, ergreift, fesselt und zuweilen auch bekümmert, weil ich einsehen muss, dass ein Menschenleben wohl nicht reicht, um all das zu lesen, was einen interessiert. „Nimm dir mit, was du brauchst“, hatte meine Schwiegermutter – ich darf sie so nennen – gleich am ersten Tag gesagt, und sie lässt sich immer wieder gerne erzählen, warum ich was zur Hand genommen habe. Und meine Freundin freut sich darüber, dass es jemanden gibt, der die Hinterlassenschaft ihres Vaters so sehr zu schätzen weiß.

Hin und wieder aber will sie mich herauslocken aus meiner Kemenate. Einmal sagte sie: „Heute wird etwas unternommen. Am Nachmittag ist eine Führung in der Klosterbibliothek Metten, lass uns hingehen!“ Offenbar meinte sie, mich nur mit der Aussicht auf eine andere Bibliothek aus meiner heiligen Halle locken zu können. Also gut.

Mechthild von Magdeburg (von Helfta) (Mitte unten) und Gertrud von Helfta (Gertrud die Große), Deckenfresko um 1720 in der Bibliothek des Klosters

Die Kirchtürme des Mettener Benediktiner-Klosters sind schon von der anderen Seite der Donau aus der Ferne zu erkennen, sie sind das Wahrzeichen des Ortes. Gegründet wurde das Kloster im Jahr 766, im 13. Jahrhundert wurde die Bibliothek aufgebaut, 1624 der Bibliotheksraum eingerichtet; dieser wurde später von den Künstlern Franz Josef Ignaz Holzinger und Innocenz Waräthi im barocken Stil ausgestaltet, wie der Pater, der den Rundgang leitete, uns erzählte. Er erläuterte auch den Hintergrund der bizarren Fresken und Skulpturen, die Allegorien von Weisheit und Religion darstellen, und führte uns zu der Vitrine, in der das Mettener Antiphonar aus dem Jahr 1437 ausgestellt wurde.

Mit zunehmender Dauer der Führung aber wurde ich unruhig, denn in mir wuchs der Wunsch, mir eins der alten Bücher aus den Regalen zu greifen und durchzublättern. Der Pater schien dies bemerkt zu haben, denn er sagte: „Die meisten Bücher, die hier stehen, sind gar nicht so bedeutsam. Die wertvollen Teile des Bestandes befinden sich längst in München.“ Das jedoch enttäuschte mich zutiefst. An einer Bibliothek interessierten mich nun mal nicht die Fresken oder die Frage, wie die blaue Farbe hergestellt worden war, die bei der Ausgestaltung des Raumes Verwendung gefunden hatte – offenbar aus Aprikosenkernen, wie uns der Pater verriet. Nein, ich war doch wegen der Bücher hier! Welch eine Enttäuschung.

„Ich hätte gedacht, du würdest dich etwas mehr für die Bibliothek interessieren“, sagte meine Freundin auf dem Nachhauseweg. Aber da waren meine Gedanken schon wieder ganz woanders, bei „meinen“ Büchern nämlich, bei Georg Kaiser, August Stramm, Mörike, Keller, Raabe, Whitman, Perse, Borges, René Char, es nahm kein Ende, es war ein Rausch aus Papier, Schrift, Wissen und Geheimnis. Eines Tages, das nehme ich mir jedes Mal beim Abschied von Metten vor, werde ich mich wochenlang einnisten in mein geliebtes Schlupfloch und nur das tun, was mir, seit ich denken kann, über all die Ärgernisse des Lebens hinweggeholfen hat: Ich werde lesen. Und dank meines Schwiegervaters, den ich nie kennengelernt habe, meiner Schwiegermutter und meiner Freundin wird mir der Stoff hierfür nie ausgehen. Ach, da steht Lorca! Bis später!